Schäferstündchen

Zuletzt bearbeitet: 29. Oktober 2013

Valéria gab endlich nach und versprach, sich mit Rogério in seinem Appartement in Copacabana zu treffen. Aber sie bestand auf absoluter Sicherheit – niemand durfte sie ankommen sehen und niemand wieder weggehen. Wenn das ihr Mann rausbekäme, wenn er nur einen Verdacht hätte… du lieber Gott!

Rogério schwor, dass niemand sie sehen würde: „Die Strasse hat wenig Verkehr. Der Portier wird von mir bezahlt, um die Augen zu schliessen. Die Nachbarn auf der einen Seite sind nur abends zuhause. Die auf der anderen Seite der Strasse zeigen sich sowieso nie. Ich glaube sogar, dass das Appartement leer steht. Da ist keine Gefahr – bitte vertrau‘ mir“.

Und dann planten sie gemeinsam die Operation „Schäferstündchen“ – oder, wie Rogério es ausdrückte: die Operation „Endlich“ – in allen Details. Sie würde zu ihrem Mann sagen, dass sie nach Copacabana wegen ein paar Einkäufen müsste. Wenn man die Zeit von und nach der Nordzone  und deren Stadtteil „Grajaú“ per Omnibus abrechnete – dort wohnte Valéria mit ihrem Mann und den zwei Kindern – würden ihnen zwei ganze Stunden bleiben, von sechs bis um acht. Sie würde das Gebäude allein betreten, mit dunkler Sonnenbrille und einem Tuch auf dem Kopf – und dann schnell in den Aufzug zu seinem Appartement. Dort würde er sie erwarten. In Ordnung? Valéria zögerte noch.

„Lieber Gott! Der Antônio. Und die Kinder… wenn jemand was merkt“?

Niemand würde was merken. Niemand würde sie sehen. Sie würden zwei herrliche Stunden miteinander verbringen. Weit ab von der Welt, weit ab von den Augen und den Zungen von „Grajaú“. Valéria seufzte – und gab nach. Also um sechs.

Punkt sechs klopfte Valéria an die Tür von Rogérios Appartement. Ausser der dunklen Sonnenbrille und dem Tuch auf dem Kopf, hatte sie den Kragen ihrer Jacke hochgestellt und einen schwarzen Schal um ihren Kopf geschlungen, der Mund und Nase verbarg. Die Leute hatten sich auf der Strasse nach ihr umgedreht, um diese Frau zu betrachten, die so eingewickelt daherkam, und das bei dieser Hitze – allen war es offensichtlich, dass sie nicht erkannt werden wollte.

Sie war furchtbar nervös: „Ai, lieber Gott ! Wenn der Antônio davon erfährt…“

Rogério beruhigte sie. Führte sie dann ins Schlafzimmer. Dort fingen sie dann an, ihre Kleider abzulegen. Dann hörten sie ein Geräusch im Korridor. Schreie, Gerenne. Valéria rollte mit den Augen.

„Das ist der Antônio“!

„Das kann gar nicht sein. Bleib ruhig. Werde mal nachsehen, was da los ist“.

Rogério durchquerte gerade das Wohnzimmer, in Unterhosen, als sie an seine Tür hämmerten. Laut und kräftig. Er zögerte. Das konnte nicht ihr Mann sein. Unmöglich. Und dieser Lärm… höchstens, wenn er den ganzen verdammten Stadtteil „Grajaú“ mitgebracht hatte. Eine Strafexpedition wegen der Ehre des Stadtteils „Grajaú“? Dann werden sie mich lynchen, dachte er. Kastriert von der Mittelklasse. Märtyrer der neuen Moral. Der erste Heilige der Südzone… Und dann, zwischen dem Hämmern an  der Tür, hörte er:

„Öffnen Sie! Hier ist die Polizei! Wenn Sie nicht aufmachen müssen wir die Tür einschlagen“!

Rogério öffnete. Sofort wurde er von einer Welle schwer bewaffneter Männer an die Wand geschleudert – sie fuchtelten mit ihren Maschinenpistolen herum und einer schrie: „Alles durchsuchen! Schaut in der Küche nach! Schnell“! Rogério brüllte jetzt noch lauter. Wollte wissen, was da los war. Der Inspektor brüllte zurück, dass sie das Appartement vom berüchtigten „Gatão“ (Kater), direkt neben ihm, aufgebrochen hätten, aber der Kerl sei über den Balkon entwischt – aber sie würden ihn kriegen – „Gatão“, einer der gefürchtetsten Banditen von Rio de Janeiro – er würde ihnen nicht entkommen.

Die Polizisten im Schlafzimmer öffneten die Schranktür und Valêria stand zwischen Rogêrios Anzügen, halbnackt und halb tot vor Angst. „Hier ist er“! schrie der Polizist aufgeregt, noch ehe er erkannt hatte, dass da eine Frau vor ihm stand – dann liess er Valêria wieder los.

Die rannte laut schluchzend aus dem Schlafzimmer. Durchquerte dann aufschreiend das Wohnzimmer, versuchte Gesicht und Brüste gleichzeitig zu verdecken und flüchtete sich in die Küche – wo sie dem Banditen „Gatão“ direkt in die Arme lief.

Als Rogério und der Inspektor ihr in die Küche folgten, hatte „Gatão sie schon gepackt, und die Spitze eines riesigen Küchenmessers an ihren schmalen, weissen Hals gesetzt. „Noch einen Schritt, und ich stech‘ sie ab“.

Der Inspektor machte eine Geste, um die hereindrängenden Polizisten zurück zu halten. Dann sagte er: „OK, Gatão, OK – stech‘ die Madam nicht ab. Lass uns reden“. Und der Bandit schickte sie alle raus aus der Küche – sagte, dass er sich mit ihnen mittels Valérias Mund unterhalten wolle und schloss die Tür von innen ab. Dann schob er Valérias Kopf in das viereckige Loch der Durchreiche – die Polizisten im Wohnzimmer konnten seine Hand mit dem Messer an ihrem Hals sehen – und befahl ihr, ein Fluchtauto von denen zu verlangen, sonst würde er sie abstechen. Valéria stotterte. Sie brachte vor Angst keinen Ton heraus.

„Ruhig, Valéria. Bleib ruhig. Vertrau mir“, sagte Rogerio.

Endlich gelang es ihr, die Botschaft des Banditen zu übermitteln. Der Inspektor liess ausrichten, er sei einverstanden. Er würde das Auto besorgen. Aber er brauche Zeit. Reporter und Fotografen fanden sich ein. Als der Bandit Valérias Kopf wieder und die Durchreiche ins Wohnzimmer schob, gab es da schon ein Fernseh–Team mit tragbarer Kamera und auf die Durchreiche gerichteten Reflektoren.

„E–r  s–a–g–t, dass er nur fünf Minuten warten will, n–u–r fünf“ – stammelte Valéria und blinzelte in das blendende Licht der Reflektoren. Der Fernseh–Reporter pflanzte sein Mikrofon in der Nähe ihres Kopfes auf. Gatão zog Valéria in die Küche zurück. Die Reporter stürzten sich auf Rogério. Wer war die Frau? „Eine Freundin…? Die Verlobte…?“ „Oder…?“.

Der Inspektor liess dem Banditen ausrichten, dass das Auto vor der Tür stünde. Der schloss die Küchentür wieder auf und schob dann Valéria vor sich her, seinen linken Arm um ihre nackte Hüfte geschlungen und mit dem rechten Arm das Messer an ihre Kehle haltend. Wenn jemand sich rühren würde, steche er zu.

„Ruhig Valéria, Ruhig. Vertrau mir – zischte Rogério ihr zu und rollte die Augen.

Gatão ging langsam mit Valéria die Treppe hinab. Die Fernsehkamera folgte ihm. Auf der Strasse hatte sich eine Menge Leute eingefunden. Ein Polizist ging vorneweg und schob die Neugierigen zurück.

„Zurück, sonst stech‘ ich die Madam ab!“

„Das ist der Gatão! Den fangen sie nicht“!

Der Bandit steigt mit Valéria in den Wagen. Dann befiehlt er dem Chauffeur Vollgas zu geben.

Und im Stadtteil „Grajaú“, in der Nordzone von Rio de Janeiro, schreien die Kinder:

„Guck mal Papa, guck mal die Mama im Fernsehen“!!!

Irgendwo an der Peripherie der grossen Stadt befiehlt Gatão den Wagen anzuhalten und die Lichter auszumachen. Er sagt dem Chauffeur, dass er noch fünfzehn Minuten warten soll und dann abhauen – sonst würde er Madam abstechen. Dann steigt er mit Valéria aus und schleppt sie durch die Dunkelheit eines Wäldchens hinter sich her.

„Die kriegen mich nicht. Niemals. Ich werde verschwinden“.

Als der Bandit endlich Valérias Handgelenke loslässt und ihr bedeutet, dass sie jetzt frei sei und sich ein Transportmittel suchen solle, um heim zu kommen – da denkt Valéria an Antônio, an Grajaú und sagt: „Ach bitte, nimm mich mit! Bitte lass mich bei dir bleiben!“

Heute lebt sie mit „Gatão“ in Rezende und hat ihn nie betrogen. Denn sie hat ihre Lektion gelernt.

Oder, wenn ihnen ein anderes Ende der Geschichte lieber sein sollte – hier ist es: Valéria kam übernächtigt und zerzaust erst am nächsten Tag nach Hause. Ihr war alles egal. Sie war bereit zu sterben. Sie verdiente alles, was Antônio mit ihr machen würde. Vom Bürgersteig aus, direkt vor ihrem Haus, der erste Kommentar einer Nachbarin:

„Ai, hein, Valéria? Im Fernsehen…?“

Drinnen sprangen die Kinder ihr entgegen, furchtbar aufgeregt: „Mamãe! Wir haben dich im Fernsehen gesehen“!

Und hinter den Kindern kam Antônio ihr entgegen, lächelte und meinte stolz: „Im Fernsehn, nein? Meine Frau! Hast ausgesehen wie Sofia Loren“!!!

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AutorIn: Klaus D. Günther

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