Oder Kassettenrecorder anstatt Pfeil und Bogen
Als der Reporter Márcio Braga ihn Ende der siebziger Jahre in die Redaktion vom „Jornal do Brasil“ in Brasília brachte, waren wir alle sehr neugierig: „Wo hat Márcio diesen Indianer aufgegabelt? Keine Ahnung. Hat ihn wohl im Regierungspalast gefunden und mitgebracht. Der war dort, um mit dem Präsidenten zu sprechen. Haben ihn nicht vorgelassen, ist ja klar. Er rennt überall mit diesem Recorder rum, weil, wie er sagt, „der Weisse etwas verspreche und später behaupte, er hätte es nie gesagt“! Er nimmt die Versprechungen auf Tonband auf, um sie einfordern zu können. Dort im Palast haben sie ihn nicht weiter beachtet, aber dem Márcio hat er gefallen – er glaubt, dass dieser Indianer noch einmal die Sensation Brasiliens werden wird“!
Ich selbst verstand überhaupt nichts. Das ganze Bild erschien mir zu surrealistisch. In einer Ecke der Redaktion, der Indianer mit seinem Tonbandgerät. An seiner Seite Márcio Braga mit einem weiteren Tonbandgerät. Márcio fragte in Portugiesisch – der Indianer antwortete in einem Kauderwelsch, das zwar portugiesisch klang, aber mit Xavante gemischt war und von uns so wenig verstanden wurde wie Sanskrit oder Jiddisch. Die beiden schienen sich jedoch zu verstehen – weiss Gott wie! Und am folgenden Sonntag erschien die Reportage – eine ganze Seite, illustriert mit einem schönen Foto, eingefangen von unserem Fotografen Zé Alberto: Mário Juruna, der Indianer mit seinem Kassettenrecorder, ein Häuptling der Xavante, welcher sich bei den nächsten Wahlen in den ersten brasilianischen Indianer verwandeln würde, dem es gelang, einen Platz unter den Abgeordneten der Landesregierung zu ergattern.
(Nach einem Bericht von Paulo José Cunha – Journalist und Professor für Telejournalismus in Brasília)
Mário Dzururã oder Juruna, wie man ihn später nannte, wurde 1942 in dem kleinen Dorf Namuncurá geboren, einer Siedlung der Xavante im Bundesstaat Mato Grosso. Bis zu seinem sechsten Lebensjahr hatte er noch nie einen Weissen gesehen. Und dann erschienen sie plötzlich in seinem Dorf – sie hatten eine helle Haut, Haare im Gesicht und auf der Brust und erzählten seinen Stammesbrüdern von ihrem Gott, der alle Menschen und Tiere geschaffen habe, alle Pflanzen und auch alle Akwen (so nennen sich die Xavante selbst). Diese weissen Männer bezeichneten sich selbst als „Padres“ – die Xavante nannten sie „Caraíbas“. Mário lernte bei den Salesianer-Patern Portugiesisch und ein wenig lesen und schreiben. Als die Padres die Mitglieder seines Dorfes alle getauft hatten – eine Zeremonie, von der ihm besonders das Untertauchen im Fluss in Erinnerung blieb, weil alle seine Brüder und Schwestern dabei grossen Spass hatten – zogen sie weiter. Und wenig später tauchten andere „Caraíbas“ im Dorf auf, die erzählten nichts vom neuen Gott, sondern vom Indianerland, das nun ihnen gehöre. Die Krieger seines Stammes verschwanden in ihren Hütten, um sich zu bewaffnen – Pfeile, Bögen und Hartholzkeulen – als die Weissen ihre drohende Haltung bemerkten, beeilten sie sich in ihre Boote zurückzukehren und mit aufheulenden Motoren hinter der nächsten Flussbiegung zu verschwinden.
Die nächsten Jahre brachten kontinuierliche blutige Zusammenstösse mit vordringenden weissen Siedlern, gegen deren Invasion seine aufgebrachten Stammesgenossen ihr Land verteidigten – die brasilianischen Zeitungen waren voll von empörten Berichten über die „grausamen Xavante, die Frauen und Kinder abschlachteten“. Mário war ein Jüngling von siebzehn Jahren, als er seinen Stamm verliess, um die Gesellschaft der „Caraíbas“ aus der Nähe kennen zu lernen und mit einer Lösung für das Problem seines Volkes zurückzukehren.
Er sammelt seine ersten Erfahrungen als „Vaqueiro“ (Viehhirte) auf den nächsten Fazendas der Umgebung. Per Anhalter schlägt er sich sogar bis in grosse Städte durch – nach Cuiabá und nach Goiânia. Aber dort findet er keinen Job, wird nur begafft und leidet schliesslich sogar Hunger. In einem Goldsucher-Camp stellt man ihn als Sackträger an – aber die Hänseleien dieser rauen Burschen, wenn sie abends um das Feuer herum in ihren Hängematten liegen und ihn, den „Indio“ zum Vortanzen auffordern, schlagen ihm aufs Gemüt. Immer findet sich jemand in dieser für ihn verkehrten Welt, der ihn herumdirigieren will: Mário tu dies – Mário lass das – Mário hau ab!
Nach wenig mehr als fünf Jahren Abwesenheit kehrt er in sein Dorf zurück. Ihm bietet sich ein schreckliches Bild: Sein Volk hungert, die Frauen bringen keine Kinder mehr zur Welt und ihre Männer sind meistens betrunken. Sie sagen, dass das Land ihnen nicht mehr gehöre, sondern den „Caraíbas“ – sie sagen auch, dass sie nicht mehr kämpfen wollen, denn die Akwen würden immer weniger, während sich die „Caraíbas“ vermehrten. Ein paar nüchterne Dorfälteste tragen Mário die Häuptlingswürde an – er akzeptiert und steht nun einem Rest von 5.000 Xavante als ihr „Cazique“ vor.
In den folgenden Jahren, als Häuptling seines Stammes, wird er mit der ganzen Tragik der dramatischen Relation zwischen seinem Volk und den weissen Invasoren konfrontiert. Die „Caraíbas“ sind tatsächlich im Begriff, seine Krieger mit „Cachaça“ (Schnaps) zu befrieden, brennen für ihre Viehweiden den Wald der Indianer ab und bauen ihre Häuser auf Indianerland. Und er hört, dass die Xavante nicht das einzige Volk in Mato Grosso sind, die unter der Invasion der Weissen leiden – die Carajá, die Bororo, die Javaé, die Xerente und Krahó, alle haben sie dieselben Probleme – alle Indianer Brasiliens haben dieselben Probleme! Wo bleibt da die Gerechtigkeit?
Gerechtigkeit. Mário macht sich Anfang der 70er Jahre auf, sie zu suchen. In der neuen Hauptstadt Brasília wird er sie finden, so glaubt er. „Wir Indianer sind die Eigentümer der Erde Brasiliens, die ihr uns geraubt habt“, sagt er zum Innenminister, „ich werde das rückgängig machen“. Der verweist ihn an die Indianerbehörde FUNAI (Fundação Nacional ao Índio). Diese einst von dem legendären General Rondon gegründete Behörde – einem Freund und Vorkämpfer für die Rechte der brasilianischen Indianer – ist in der Mitte der 70er Jahre zu einem Haufen von frühpensionierten Offizieren, arroganten Sekretärinnen und dummdreisten Pförtnern und ebensolchem Wachpersonal verkommen. Niemand, der mit einem halbnackten Indianer sprechen will – obwohl genau das angeblich zu ihrem Aufgabengebiet gehört. Eine der besten Eigenschaften Mários ist seine Geduld: er lässt sich nicht abweisen und verbringt Tage und Nächte vor der FUNAI-Zentrale. Bis es den Offizieren, Sekretärinnen, Pförtnern und Wachmännern peinlich wird, jeden Morgen über den „nackten Wilden“ zu stolpern – also verspricht man ihm endlich dies und das, nur um ihn loszuwerden.
Als man ihn wieder sieht, sitzt er auf dem frisch gewachsten Parkett des Regierungspalastes – unter dem Arm einen Kassettenrecorder. „Mário sprechen Präsident“, erklärt er leutselig jedem, der es wissen will, „sprechen und mit Apparat alles aufnehmen – sonst Präsident sagen, dass Mário lügen“. Auch zum Reporter Márcio Braga sagt er seinen Spruch – und der bringt ihn dann mit auf die Redaktion.
Der Indianer mit dem Kassettenrecorder wird den Politikern lästig. Der Präsident, General Ernesto Geisel, weist die FUNAI an, dem Xavante-Stamm die geforderte Erweiterung ihres Reservats auf 180.000 Hektar zu gewähren. Mário Juruna hat die Weissen zum ersten Mal besiegt – mit ihrer eigenen Waffe – dem Kassettenrecorder. Er findet heraus, dass auch die Zeitung, Radio und das Fernsehen als Waffen eingesetzt werden können. Der Häuptling der Xavante wird zum Sprecher von mehr als 300.000 brasilianischen Indianern. Dann wird er ins Ausland eingeladen (1980) – er soll auf dem holländischen Russell-Tribunal gegen die Verbrechen an Eingeborenen in aller Welt als Geschworener teilnehmen. Die brasilianische Militärregierung fürchtet um ihren Ruf – die FUNAI versucht seine Ausreise zu verhindern – Juruna geht vor Gericht und gewinnt. In Holland wird er weltbekannt.
Nach seiner Rückkehr begibt er sich auf den Kriegspfad gegen die FUNAI – gegen Inkompetenz und Korruption in dieser Behörde. Er deckt den ganzen Schwindel der Planstellenbeschaffung für die Söhne und Töchter prominenter Politiker auf. Er prangert ihre Praktiken zur Ruhigstellung der Indianer an, damit skrupellose Elemente in Bergbau- und Industrie-Ministerium ungestört die Bodenschätze in den Indianergebieten für sich erschliessen können. „Ich habe den Sack voll von der FUNAI“
(Hier nehmen wir den Bericht von Paulo José Cunha wieder auf)
Seine unermüdliche Geduld und Ausdauer zeitigte Erfolge: Der damalige Gouverneur von Rio de Janeiro, Leonel Brizola, hörte von dem „Indianer mit seinem Kassettenrecorder“ und hatte die Idee, ihn als „Schmuck seiner Partei bei den bevorstehenden Wahlen“ einzusetzen. Gesagt, getan – er lud Mário ein, nach Rio zu kommen und als Abgeordneter zu kandidieren – das war 1982. Wir von der Presse waren ihm immer dicht auf den Fersen – als er sich Kleider und Schuhe kaufte, beim Sprachunterricht mit Professor Clovis, beim Einrichten seiner Residenz in Copacabana, in der ihn besonders das Telefon faszinierte, mit dem er astronomische Rechnungen produzierte. Bei den „Cariocas“ wurde er populär und beliebt durch Aussprüche wie: „Mann aus Favela (Slums von Rio) wie Indianer – keiner sich um ihn kümmern. Politiker wollen nur Stimme. Dann alles vergessen. Ich erst nach meiner Wahl sprechen“. Und er wurde mit 31.905 Stimmen gewählt – klar, seine Indianer, die in ihm endlich ihre Sonne am politischen Horizont Brasiliens aufgehen sahen. Der erste Indianer in der Geschichte Brasiliens im Parlament.
Und wir von der Redaktion des „Jornal do Brasil“ wurden alle seine Freunde. Der Indianer war intelligent. Im Portugiesischen praktisch immer noch Analphabet, bat er seine Freunde, wie zum Beispiel Sebastão Nery, die Zeitungen für ihn zu lesen und die Stellen zu markieren, in denen er zitiert wurde. Dann überbrachte er den Assessoren den ganzen Papierwust, so als ob er alles gelesen hätte, und meldete sein diesbezügliches Statement bei ihnen an. Bei Jurunas Vorträgen muss man dabei gewesen sein – sie waren eine köstliche Mischung aus schlichter Empörung, couragierter Offenheit der Kritik und umwerfender Komik – letztere um so unwiderstehlicher, wenn man seine theatralisch geschmetterten Portugiesisch-Xavantischen Worte mit seinem todernsten Gesicht verglich, das er dabei zur Schau trug. Und als ob er in der vor ihm liegenden Zeitung lese, sprach er langsam und betont – und legte dann das Blatt zur Seite – eins nach dem anderen. Er konnte keins davon lesen. Aber er holte die Worte aus seiner Erinnerung, die Nery ihm vorgelesen und zitierte so in etwa, was auf jeder Seite geschrieben stand. Nery hat das Geheimnis seinem Freund Ulysses Guimarães, dem Anwärter auf das Amt des Präsidenten, während ihrer gemeinsamen Reise nach Italien erzählt – dessen Reaktion war entsprechend: „Was für ein Hurensohn von Indianer – hat der mich doch vier Jahre lang an der Nase rumgeführt“!
Ich selbst ging später zum GLOBO. Mein Freund Juruna geriet immer ganz ausser sich vor Freude, wenn wir uns mal wieder trafen, denn er liebte es ganz besonders, im Fernsehen aufzutreten. Im allgemeinen gelang es uns nicht, ihn irgendwo einzublenden, den niemand verstand ein Wort von dem, was er sagte. Aber er gab allemal ein gutes Bild ab – und was für eins! Dann wurde mit der Zeit seine Aussprache etwas besser, und man gab ihm ab und zu ein bisschen Raum im Nachrichten-Magazin, lediglich aus der Sicht der Folklore. Und ab und zu entsprangen diesem Kauderwelsch, das er für seine Kommunikation benutzte, sogar pure Perlen der Weisheit – wie diese, die er losliess, während er die endlose Schlange von Rednern betrachtete, die auf dem Weg zur Tribüne waren: „Sie sprechen, sprechen, sprechen, sprechen und wählen nicht. Dann halten sie inne. Dann wählen sie. Aber sie lösen nichts. Dann sprechen sie wieder, sprechen, sprechen, sprechen – alles noch mal. Juruna versteht nichts. Weisse furchtbar kompliziert, „Parajusé“ (so nannte er mich).
Nun hatte er ein Büro mit Telefon im Kongress von Brasília. Aber er weigerte sich in Anzug und Krawatte aufzutreten. Das hohe Haus war schockiert. Er wolle alle seine Reden in Xavante halten – das ging auch nicht. „Fremde Staatsmänner dürfen hier in ihrer Sprache sprechen, aber ich als Brasilianer darf nichts in meiner Muttersprache sagen. Ich bin nicht gegen Brasilien. Ich bin für ein anderes Brasilien. Das wollte ich in meiner Sprache sagen, aber man lässt mich nicht“.
Es war im Jahr 1985, als ich mit meiner fertigen Kolumne auf dem Weg zur Redaktion Mário Juruna begegnete. Wir schüttelten uns die Hand – diese für Indianer ungewöhnliche Begrüssungsform der Weissen entlockt ihnen immer ein Lächeln. Ich habe noch nicht raus gefunden warum, aber es muss ihnen irgendwie lustig vorkommen. Auch Mário grinste mich an und liess dann, in seiner für mich nur schwer verständlichen Ausdrucksweise, eine Bombe platzen: „Galinheiro“ (Übersetzung: Calim Eid – dessen Name für Mário wie Galinheiro = Hühnerstall klang – er war der Koordinator der Wahlkampagne eines Spitzen- Politikers) hatte um seine Stimme gebeten und ihm dafür eine Summe Geldes in Aussicht gestellt, die er auf sein Konto überweisen wollte. Wir standen damals nur wenige Tage vor den neuen Präsidentschaftswahlen. Ich fragte ihn aufgeregt: „Würdest du das vor meiner Kamera bestätigen“? „Mach ich, Parajusé. Alles Wahrheit“! Ich liess mich mit der Redaktion verbinden, erklärte, dass ich eine Bombe von mehreren Megatonnen in der Hand hätte und machte dann die Reportage. Wieder war es schwierig dem Kauderwelsch von Mário einen Sinn zu geben. Ich stellte tausend Fragen, und seine Antworten kamen bruchstückweise, fürchterlich konfus – ich wurde nervös – aber schliesslich hatte ich alles, und im Kasten: Calim Eid hatte versucht, die Stimme des Indianers zugunsten seines Gönners zu kaufen – und hatte sich natürlich vorgestellt, dadurch auch die über dreissigtausend Stimmen der anderen Indianer in der Tasche zu haben. Ich flog zur Redaktion. Die Herausgeberin Célia Ladeira half mir noch dabei, die Sprachfetzen des Indianers so zusammenzusetzen, dass sie einen Sinn ergaben.
Ich ging nach Hause, ass zu Abend, während ich mir die von mir produzierte „Bombe“ in der Abendschau ansah und legte mich dann hin, um, wie immer, gegen 4h00 früh wieder aufzustehen und das Programm „Guten Morgen Brasilien“, mit Carlos Montforte, zu dirigieren. Kaum hatte ich mich aber hingelegt, läutete mein Telefon. Célia war dran. „Komm sofort in die Redaktion – hier ist das grösste Chaos ausgebrochen. Die Leute aus Rio meinen, du hättest den Indianer dazu gebracht, diese Dinge zu sagen“! Besorgt begab ich mich in die Redaktion – erklärte dort alles – aber die Aufregung unter den Leuten aus Rio war riesengross. Sie meinten, in diesem Fall wäre es besser gewesen, die Worte des Indianers aufzuschreiben, damit die Zuschauer auch verstehen können, was der Indianer sagt – (aber genau das hätte seiner Aussage ja sämtliche Authentizität genommen und wäre dann leicht als Fälschung angeprangert worden). Ich kehrte verstimmt nach Hause zurück. Die „Bombe“ schien in meiner Hand zu explodieren. Die Rettung kam am folgenden Nachmittag: Mein Freund Juruna stieg auf die Tribüne im Plenarsaal und hielt eine seiner berüchtigten Reden – in der er alles bestätigte. Und niemand brauchte einen Übersetzer als das Jornal Nacional seine Denunzierung von Wahlschwindel als den sensationellen Aufhänger brachte – man verstand ihn plötzlich sehr gut.
(Ende – Paulo José Cunha)
Mário Juruna ist eine Berühmtheit. Der edle Wilde für die einen – ein schrecklicher Indianer für die andern. Die Einfälle des störrischen Häuptlings geben vor allem für die Presse viel Stoff: Ist er nicht das Paradebeispiel für die Unmündigkeit der Indianer? Niemand meldet sich zu seiner Verteidigung, als er zu seiner Amtseinführung als Abgeordneter in der Festtracht seines Volkes erscheinen will, und der Senatspräsident das ablehnt. (Ob dieser es wohl wagen würde, einem arabischen Scheich aus Kuwait zu verbieten, beim Staatsbesuch in Brasília in seinen Kaftan und Turban gehüllt zu erscheinen?)
Mário Juruna sagt zu seiner Amtseinführung: „Eines Tages werde ich Präsident meines Landes sein. Dann werde ich alle Politiker, die verantwortlich für die Schulden Brasiliens sind, zwingen, dieses Geld persönlich zurückzuzahlen. An die, welche ohne Land sind, werde ich das Land verteilen. Alle ausländischen Konzerne werde ich an das Volk zurückgeben. Ich habe bereits vier FUNAI-Präsidenten abgesetzt und 23 Obristen dort rausgeschmissen – und wer mich 1982 nicht gewählt hat, der kann das 1986 nachholen“.
Vor allem den Kollegen die ihm zuhören, läuft ein Schauer nach dem andern über den Rücken. Nach jedem, in seinem schon berühmten Kauderwelsch vorgetragenen Satz, fragen sie sich besorgt, was der schreckliche Indianer als nächstes vom Stapel lassen wird – und als er vom Podium heruntersteigt geht ein befreites Aufatmen durch die Menge im Plenarsaal. Mário trägt sein würdevollstes Todernst-Gesicht zur Schau und schreitet gravitätisch durch die anstandshalber applaudierende Menge zu seinem Platz zurück.
In den vier Jahren seiner Amtszeit hörte man viel von ihm. Allerdings nahm ihn offensichtlich niemand allzu ernst und man versuchte stets, seine direkten Attacken ins Lächerliche zu verkehren – die Sicht der Dinge aus der Perspektive eines Indianers als längst überholt zu bezeichnen oder sie gar als Unsinn darzustellen, der die Unmündigkeit des Steinzeitmenschen nur allzu deutlich beweise. Aber Mário Juruna sprach eigentlich nur deutlich aus, was ohnehin alle Brasilianer dachten: „Kein Ministerium taugt etwas. Jeder Minister ist korrupt – jeder ist ein Dieb. Der Finanzminister ist ein Oberdieb. Wenn er jedoch der einzige wäre, hätte man ihn längst abgesetzt. Er ist aber nicht anders als der Präsident und alle seine Minister. Und das ist das Problem“.
Als er diese Worte gesprochen hatte war es, als ob er mit einem Pfeil den gesamten Senat aufgespiesst hätte – jeder hatte sein Kauderwelsch verstanden – man brüllte und schrie durcheinander – der Präsident, die Minister, die Generäle und die Presse forderten unisono seine politische Entmündigung und die Aberkennung seines Mandats. Und das ganze Land sprach vom Indianer-Häuptling, der die unfähigen Politiker in Brasilia das Fürchten gelehrt hatte.
Als die Gefühlswellen verebbt waren, entdeckten Sprachwissenschaftler, gerade noch rechtzeitig, dass der Begriff „Dieb“ in der Xavante-Sprache überhaupt nicht vorkommt (!) Sie folgerten in ihrem Sinne daraus, dass Juruna es also gar nicht so hart gemeint haben könne. Also war es auch nur korrekt, die Parlamentsprotokolle entsprechend zu korrigieren. Und die hörige Presse fiel ihm in den Rücken: War Juruna nicht auf FUNAI-Kosten ins Ausland gereist? Hatte er sich nicht von Grossgrundbesitzern im Flugzeug mitnehmen lassen? Schrie er nicht lauter als die anderen Abgeordneten nach einer Erhöhung der Diäten? War er also nicht längst auch ein typischer Vertreter des Establishments? Ob er sich wohl noch in seinem Heimatdorf sehen lassen konnte? Man entschied, dass Mário Juruna in der kurzen restlichen Amtszeit als Indianer-Clown weniger Schaden anrichten würde, denn als Indianer-Märtyrer – und liess ihn gewähren.
Er wurde nicht wieder gewählt. Er war 44 Jahre alt, als man ihn seinerseits rausschmiss. Und die Presse verfolgte ihn weiter mit hämischen Berichten: Er soll in seinem Appartement, auf dem Teppichboden, über offenem Feuer Hähnchen gebraten haben. Als er in sein Dorf zurückkehrte, wurde er von einem erzürnten Missionar empfangen, der inzwischen dort das Sagen hatte, und seine eigenen Leute wollten nichts mehr von ihm wissen. Sie fühlten sich von ihm im Stich gelassen – hatten längst einen anderen Häuptling gewählt, der ihm stolz verkündete, dass die Xavante nun über ein von der FUNAI demarkiertes Territorium verfügten, in dem sich kein Weisser ohne ihre Einwilligung sehen lassen dürfe. Mário hatte keine andere Wahl – er kehrte nach Brasília zurück und bettelte dort um einen Posten.
(Aus einer Reportage von André Barreto aus dem Jahr 2002)
Traurig, unglücklich und von der Menschheit vergessen, so fühlt sich heute der Ex-Abgeordnete Mário Juruna, der einzige Indianer in der brasilianischen Geschichte, der je ein Mandat im National-Kongress innehatte. Im Alter von 60 Jahren lebt er in einer bescheidenen Hütte in der Satellitenstadt Guará I, im Distrikt Brasília. Er hat einen Rentenanspruch – 3.000 R$ (Reais – etwa 1.000 USD) – das Geld benutzt er, um damit 15 Personen zu unterstützen, Kinder und Enkel, die mit ihm unter einem Dach wohnen.
Er übt keine Funktion mehr aus, ist Diabetiker. Durch die Krankheit hat er eine seiner Nieren verloren und muss im Rollstuhl herumgefahren werden, weil er durch eine Operation einen Teil seines infizierten Oberschenkelknochens verloren hat. Er verbringt den grössten Teil seiner Zeit auf seinem Bett liegend. Aber auch in dieser ungünstigen Stellung bringt er noch seine Missbilligung über die Politik des Präsidenten Fernando Henrique Cardoso zum Ausdruck, seinem Ex-Kollegen auf der Tribüne: „Dieser Präsident ist ein Zyniker. Es wäre besser, wenn wir noch eine Militärregierung hätten“ – nun, mundfaul ist der alte Krieger immer noch nicht, geschweige denn mundtot! Aber für die Presse ist er längst kein Thema mehr – nur noch ein alter, kranker Indianer.
Mário Juruna selbst ist tief enttäuscht und glaubt, dass alle Arbeit für sein Volk vergeblich gewesen ist. „Mein Leben war Flucht. Ich habe meine „Maloca“ (Indianer-Hütte) aufgegeben, mein Feld, meinen Fluss, alles was ein Xavante zum Leben braucht. Ich war unglücklich im Leben und werde unglücklich sterben“, sagt er. Aber so vergeblich war sein Wirken nun wahrhaftig nicht:
Als Parlamentarier (1983-87) ist es ihm gelungen, die FUNAI auf Vordermann zu bringen und die „Indianer-Kommission“ zu gründen. Geld bezeichnete er als „Lixo“ (Abfall), und er sprach niemals mit einer politischen Autorität ohne seinen Kassettenrecorder, um nicht das Risiko einzugehen, Lügner genannt zu werden. Erst jetzt wird deutlich, wie viel er trotz seiner kurzen und so polemischen Amtszeit in der Indianer-Politik Brasiliens in Bewegung gebracht hat. Bei den Distriktswahlen im Jahr 2000 bewarben sich mehr als 350 Indianer – 13 von ihnen als Präfekten, 80 wurden ins Amt von Stadtverwaltungen berufen. Die indianischen Vereinigungen und Organisationen, welche erstmals in den 80er Jahren auftraten, haben sich ebenfalls multipliziert, besonders infolge der neuen Konstitution von 1988. Die eingeborenen Nationen fangen an, sich gradativ mit den Mechanismen anzufreunden, durch die sie den Respekt und die Achtung der weissen Gesellschaft erreichen können. Und, obwohl sie Schwierigkeiten haben, solche Organisationen stabil zu erhalten, sind es bereits fast 400. Die meisten von ihnen sind, in der Regel, nur an ein einziges Dorf gekoppelt, aber es gibt auch solche mit überregionalem Anspruch, wie zum Beispiel die COIAB (Coordenação das Organizações Indígenas da Amazônia Brasileira).
Der „unglückliche Indianer“ und Ex-Abgeordnete Mário Juruna starb am 17. Juli 2002, im Alter von 62 Jahren, an seiner chronischen Diabetes im Hospital Santa Lúcia der brasilianischen Hauptstadt Brasília. Er wurde im „Schwarzen Salon“ des Nationalkongresses aufgebahrt. Von den Politikern, die er Zeit seines Wirkens mit seinem Kassettenrecorder verfolgt hatte, waren die meisten in Ferien und sicher nicht zurück zu erwarten, um ihrem „schrecklichen Indianer“ eine letzte Ehre zu erweisen. Wohl aber die Eingeborenen – sein Xavante-Volk und andere Völker – sie erinnerten sich an den „edlen Indianer“, der er gewesen, an das, was er bewirkt – und da sie niemals Ferien machen, waren sie alle da: indianische Repräsentanten der verschiedensten Nationen, geführt vom Caiapó Raoni, erwiesen Mário die verdiente Ehre und Anerkennung: Raoni und seine Stammesgenossen tanzten um den offenen Sarg im „Schwarzen Salon“, um so die Seele des Xavante-Häuptlings zu befreien. „Trauriger Tanz für einen Freund“ bemerkte Raoni zu einer Journalistin, „aber auch voll Freude, denn er wird jetzt in den Kreis der anderen Häuptlinge aufgenommen“. Und Mários einzige Tochter Samantha fügte hinzu, dass „seine Söhne und Enkel den Kampf zur Beendigung der Vorurteile und für die Achtung der eingeborenen Völker weiterführen werden“.
Mário Juruna wurde in seinem kleinen Heimatdorf Namuncurá beigesetzt – von seinem Grab auf dem Hügel kann man über den Fluss weit ins Xavante-Land schauen. Die starke Nation der Xavante ist, von ehemals nur noch 5.000 Indianern, heute 2020 auf über 22.000 angewachsen. Und sie haben ihren „unglücklichen Häuptling“ nicht vergessen.