Es ist ein Ort am scheinbaren Ende der Welt, irgendwo im äußersten Südwesten Brasiliens. Und doch erstrahlen alle Straßen sprichwörtlich im schwarz-rot-goldenen Farbenmeer. Denn Missal, so der ungewöhnliche Name der Gemeinde an der Grenze zu Paraguay, feiert alljährlich im April sein „Deutsches Fest“.
„Deutsch sein“ – in Missal bedeutet es vor allem, eine vermeintlich längst vergesse Tradition zu wahren. Das augenscheinliche Bekenntnis zu den germanischen Wurzeln ist ein Versuch, die vor weit über 100 Jahren importierte Kultur nicht untergehen zu lassen. Doch wessen Kultur? Die der jetzigen rund 10.000 Einwohner scheint es nur vordergründig zu sein. Vermutlich sind es die Traditionen, die sich die Gründer des jährlichen Provinzspektakels vor 11 Jahren aufgrund von Hörensagen fern jeglicher Realität haben einfallen lassen.
Dabei ist Missal tatsächlich einmal eine rein „deutsche Kolonie“ von Nachfahren deutschstämmiger Immigranten gewesen. Gegründet von einem katholischen Pfarrer in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts durfte dort nur wohnen, der Deutsch sprach und zugleich Katholisch war. Natürlich hatte sich das in den kommenden Jahrzehnten gewandelt – und vielleicht ist dies dann auch der Auslöser gewesen, sich ab der Jahrtausendwende zumindest ein Wochenende im Jahr wieder auf die (vermeintlichen) Wurzeln zu besinnen.
Was sich allerdings Mitte April 2012 auf den Straßen, dem Sportplatz und im Veranstaltungszentrum der Stadt abspielt, hat mit dem heutigen Deutschland allerdings nicht viel gemein. Man mag sich durch die allgegenwärtigen Farben der deutschen Flagge davon ablenken lassen, auch deutsche Sprüche und Trachten mögen ihren Teil dazu beitragen. Doch am Ende muss man sich gerade als Deutscher eingestehen, dass es lediglich ein Deutschland sein soll, welches sich die Menschen in Missal so hingebogen haben, damit es irgendwie in ihre „germanische Vergangenheit“ passt.
Brasilienkenner wissen, dass die Übertreibung im Detail keineswegs unüblich ist. Wie auf dem berühmten Oktoberfest von Blumenau oder dem Pommernfest in Pomerode wird das „Deutschsein“ zu diesen Anlässen gerne exzessiv ausgelebt. „Das liegt an unserer Kultur. Unser Ort ist nun einmal ausschließlich von Deutschen gegründet worden. Und diese Traditionen wollen wir einfach bewahren“ erklärt der von Italienern abstammende Bürgermeister Adilton Ferrari ein wenig zu überzeugend.
Und daher muss man zwangsläufig zunächst einmal die brasilianische Lebensfreude in den Vordergrund rücken. Denn die meiste Stimmung macht zweifelsfrei die Dorfjugend, die sich in zahlreichen Gruppen für „das Wochenende des Jahres“ organisiert haben. Beim traditionellen Umzug durch die Stadt heizen sich die Jungs und Mädels verschiedener Blöcke daher auch gegenseitig mit Stimmungsmusik an. In ihren jeweils einheitlichen Outfits singen und tanzen sie hinter großen Lautsprecherwagen her. Dass dabei das Bier in Strömen fließt, ist nicht verwunderlich.
Und der Gerstensaft ist auch für viele die wichtigste Zutat bei den deutschen Traditionen, die hier so offen propagiert werden. Da wird dann auch mal Deutschland „zum Heimatland des Streuselkuchens und der Salami“. Der Frage, in wie weit dies alles überhaupt wahr ist und ob das Fest in Gänze überhaupt noch deutsch ist oder aufgrund der schwarz-rot-goldenen Allgegenwärtigkeit nur so aussieht, geht man gerne aus dem Weg. Letztendlich stehe der Spaß an erster Stelle.
Daher finden auch die nach dem Umzug durchgeführten Fußballspiele großen Zuspruch. Zumal es bei geschossenen Toren oder Fouls tüchtig Freibier gibt. Gleich nebenan üben sich in Trachten gekleidete Kinder im Sackhüpfen oder im Schubkarrenfahren. Die am Vorabend gewählten Festeltern „Fritz und Frida“ laufen derweil durch die Reihen und begrüßen bekannte und unbekannte Gesichter gleichermaßen. Das Ehepaar im Rentenalter hat sichtlich Spaß an der Aufgabe und kann selbstredend auch noch profunde Deutschkenntnisse vorweisen.
Bei der Festkönigin und ihren beiden Prinzessinnen verhält sich dies ein wenig anders. Hier kommt man nur mit Portugiesisch weiter, trotzdem sind auch die drei Exzellenzen mit Leib und Seele mit dabei. Vor allem die Dekoration, die typischen Speisen und natürlich die Geschichte der Gemeinde als deutsche Kolonie seien die Grundpfeiler für das „Deutsche Fest“. Die deutsche Sprache oder die in der ehemaligen Heimat stattgefundenen Veränderungen dürfe man vernachlässigen. „Wir feiern eben unsere deutsche Kultur und nicht die in Deutschland“ so die 21-jährige Königin Rubiana selbstbewusst.
Am späten Abend verliert sich dann jedoch auch das letzte bisschen Kultur im Partyrausch. Weit über die Hälfte der Besucher ist von außerhalb angereist, hat sich allerdings standesgemäß mit den entsprechenden Utensilien wie dem Trinkbecher und dem Hut in deutschen Landesfahnen ausgerüstet. Viele Trachten sieht man nicht, denn anders als beim Oktoberfest in Blumenau muss man auch in der traditionellen germanischen Kleidung Eintritt zahlen.
Wer über das nötige Kleingeld verfügt, kann sich im angeschlossenen Restaurant vor dem Spektakel mit „typisch deutschen Gerichten“ den Magen füllen. Doch das Büffet bietet dabei für 20 Reais nur Schweinshaxe, Bockwurst, Kartoffelpüree und kaltes Sauerkraut an. Am „Schnellimbiss“ gibt es die Wurst auch noch mit Soße in einem Brötchen, eine Art „deutscher Hot-Dog“. Absoluter Renner des Abends ist jedoch ein mit Streuselkuchen und aufgeschnittener Calabresa-Wurst vollgepackter Teller (für 8 Reais). Der findet auch noch morgens um 6 Uhr reissenden Absatz und die beiden so unterschiedlichen Speisen landen gleichzeitig in den hungrigen Mäulern. Und wen man auch fragt, die Antwort ist immer dieselbe: natürlich ist dies ein echtes deutsches Essen!
Aber zumindest gibt es Bier, welches nach Angaben der Brauerei nach dem deutschen Reinheitsgebot gebraut wurde. Es stammt von der nun wenige Kilometer entfernt ansässigen Hausbrauerei „Haus Bier“. Die einzelnen Gruppen haben sich im Vorfeld schon Plätze in der Veranstaltungshalle gesichert. Dort sind zahlreiche Zapfanlagen aufgebaut und so kann man gleich sei 30 oder 50-Liter-Faß kaufen und im Freundeskreis vernichten.
Wer die Tanzveranstaltung alleine besucht, bekommt den Gerstensaft natürlich auch in kleinerer Dosis. 4 Reais kostet der frisch gezapfte 400 ml-Becher, im Dreierpack sogar nur 10 Reais. Meist wird er jedoch nicht aus dem Plastikbecher getrunken sondern sogleich in einen Kunststoff- oder Metallkrug umgefüllt, der an einem langen Band befestig um die Schulter hängt. Auch dies hat man sich von den brasilianischen Oktoberfesten abgeguckt.
Stimmung machen bis früh um Fünf zwei Bands, eine davon stammte in diesem Jahr sogar aus Blumenau in Santa Catarina. Das Repertoire reicht dabei von nationalen und internationalen Hits bis zu brasilianisierter deutscher Volksmusik – Sauflieder inklusive. Vieles dreht sich in den Texten um „Chopp“, wie Faßbier im größten Land Südamerikas genannt wird. Und da sich die einfachen Texte auch noch im angetrunkenen Zustand leicht mitgrölen lassen, ist die Stimmung so ausgelassen, dass so mancher im Laufe der Nacht vom Sicherheitspersonal trotz heftiger Gegenwehr nach draussen getragen werden muss.
Die Kampftrinker-Teams kann man wie bereits erwähnt bequem an den unterschiedlichen und mit viel Liebe gestalteten „Trikots“ erkennen. Dabei stammen die „Teams“ jedoch keineswegs alle aus Missal, auch viele andere Orte in der Region haben für ihre eigenen Feste solche organisierte Gruppen. Und diese nutzen dann die über das ganze Jahr verteilten Feste in der Umgebung für „Auswärtsspiele“. Mitfinanziert werden die Unternehmungen und die Ausstattung dabei von der jeweils ansässigen Wirtschaft, deren entsprechenden Logos dann auch auf den „Trikots“ oder am Bierstand zu finden sind. Die Werbung tut nicht weh und drückt den Bierpreis um einiges nach unten.
Wem dies nicht traditionsreich genug ist, sollte eines bedenken: das Deutsche Fest in Missal soll laut Bürgermeister Ferrari Jung und Alt gleichermaßen gerecht werden. Während zu Festbeginn am Freitag die Kultur im Vordergrund steht und sich an die Familien richtet, ist der Samstag der Jugend vorbehalten. Der Sonntag bietet dann noch ein Programm für die ältere Generation, bevor das jährliche Spektakel mit seinen insgesamt fast 20.000 Besuchern am Nachmittag endet.
Da jedoch Trachten, Bundesadler und das Skandieren von „Jetzt geht’s los!“ nicht ausreichen, um aus Missal eine deutsche Exklave zu machen, sollte man die schwarz-rot-goldene Lebensfreude der Brasilianer einfach als Kostümfest ausserhalb der Karnevalszeit betrachten. Denn nur dann kann man die vielen verdrehten Tatsachen, die hinzugedichteten Traditionen und die fast beschämenden Deutschkenntnisse der breiten Mehrheit der Bevölkerung als Teil der kulturellen Identität von Missal betrachten. Doch es lohnt, sich vor Ort diese Erkenntnis in aller Ruhe mit einem frisch gezapften „Chopp“ die ausgetrocknete Kehle herunterzuspülen.