Der Mais

Zuletzt bearbeitet: 5. Oktober 2014

In der Savanne wurden die Tiere seltener. In den Flüssen und den Lagunen sah man kaum noch den Silberstreif eines Fisches im Wasser. In den Wäldern gab es plötzlich keine Früchte mehr, und jagdbare grosse Tiere konnte man ebenfalls nirgends mehr finden. Jaguare, Wasserschweine, Tapire, Hirsche und Ameisenbären – wo waren sie geblieben? Auch die Luft war nicht länger erfüllt vom Ruf der Fasanen und Waldhühner, denn die Früchte tragenden Bäume fingen an zu vertrocknen.

maisDie Indianer, die zu jener Zeit noch nicht gelernt hatten, Pflanzungen anzulegen, sondern allein von der Jagd, Fischfang und dem Sammeln von Waldfrüchten lebten, standen vor einer Hungersnot. In ihren Hütten war die Freude am Leben erloschen und allgemeine Trauer hatte sich ausgebreitet. Die Älteren, erschüttert vom Leid, verbrachten den Tag schlafend in ihren Hängematten, in Erwartung eines “Honigtopfs von Tupan“ (symbolisch gemeint, Tupan ist ihr oberster Gott). Die Frauen versammelten sich auf dem Dorfplatz und lamentierten über die schreckliche Armut, die ihnen aufgezwungen worden war. Die Kinder dämmerten dahin, traurig und mit leerem Bauch. Und die Jäger des Stammes, ratlos, vertraten sich die Beine im Wald, ohne jedoch wie üblich ihre Schlingen auszulegen oder Fallen aufzustellen – für was? Auf ihren Pfaden zur Jagd hatte die Zeit bereits die Spuren ausgelöscht, denn sie stammten von anderen Monden – aus anderen glücklicheren Zeiten.

Und die Verzweiflung war so gross, dass eines Tages zwei Freunde aus dem Stamm der Guarani sich entschlossen, sich auf einer Waldlichtung an die Barmherzigkeit und die Macht von Nhandeiara zu wenden, dem grossen, gefürchteten Geist ihres Universums. Und sie waren sich bewusst, dass eine Hilfe von ihm stets ein Opfer von Seiten der Bittsteller erforderlich machen würde. Aber was sonst sollten sie tun, um die Not ihres Volkes zu lindern? Sie zogen vor, sich ein schweres Opfer aufzuladen, als ihre Angehörigen einen qualvollen Hungertod sterben zu lassen.

Sie waren zu jedem Opfer entschlossen und, in Erwartung einer Hilfe von Seiten des Grossen Geistes Nhandeiara, streckten sie ihre müden Glieder auf dem trockenen Waldboden aus. Dann kam die Nacht. Und sie senkte sich hernieder in einer lastenden Stille – alle Stimmen der sonst so lebhaft die Dämmerung begrüssenden Tiere waren erloschen. Ein gleissendes Licht wenige Schritte vor ihnen schreckte sie hoch – eine riesige Gestalt sprach sie an:

“Was wünscht ihr vom Grossen Geist“? fragte der unbekannte Abgesandte.

“Wir möchten ihn um ein neues Nahrungsmittel bitten, um überleben zu können – für uns und unsere Familien – denn die Jagd, die Fische und die Früchte scheinen von der Erde verschwunden“!

“So soll es geschehen“ – antwortete der Bote vom Grossen Geist – “Nhandeiara gewährt euch die Erfüllung eurer Bitte. Aber zuerst werdet ihr mit mir kämpfen müssen, bis der Schwächere sein Leben verliert“!

Die beiden Freunde nahmen die Bedingung an und warfen sich mit einem anfeuernden Gebrüll auf den Sendboten des Grossen Geistes. Eine Zeit lang war nur noch das das Schnaufen der Kämpfenden zu hören, das Klatschen der Körper auf den Waldboden, das Rascheln des losen Sandes, der von den wirbelnden Füssen ins trockene Blattwerk geschleudert wurde. Dann erschlafften plötzlich die Arme des Schwächeren, er rollte ohne Widerstand über die Lichtung, sein Kopf sank zurück . . . er war tot. Und der schreckliche Sendbote war verschwunden. Der andere Indianer, von Trauer verzehrt, begrub seinen Freund dortselbst, auf der Waldlichtung.

Der Frühling kam, und mit ihm kehrte die Hoffnung zurück, denn aus dem Grab von Auati (so war der Name des toten Indianers) war eine schöne Pflanze gewachsen, mit grossen grünen Blättern und goldenen Fruchtkolben. Zu Ehren des Märtyrers ihres Volkes, des zum Wohl ihres Stammes geopferten Indianers, gaben die Guarani der Maispflanze seinen Namen und nannten ihr neues Nahrungsmittel “Auati“.

Aus “Lendas Brasileiras“, deutsche Übersetzung/Bearbeitung Klaus D. Günther für BrasilienPortal

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