Wissenschaftler versuchen in einer Studie, die Lebensgewohnheiten und die Ernährung der Harpyie kennenzulernen, um so die Bedrohungen seiner Existenz zu identifizieren. Das Leben der Harpyie (Harpia harpyja) ist eng mit dem Regenwald verwoben und hängt von seiner Erhaltung ab. Wer sich speziell für die existenziellen Bedingungen des grossen Raubvogels, seit 25 Jahren, in Brasilien engagiert, ist Dr. Tânia Sanaiottis, vom INPA (Nationales Institut zur Erforschung Amazoniens) in Manaus (Bundesstaat Amazonas). “Wir haben zirka 60 bis 70 Nester der Harpyie auf einer Karte verzeichnet“, schätzt sie.
Der Ort dieser aktiven Erhaltungsarbeit ist die “Reserva Duque“, eine Schutzzone, die in der Nähe der Mündung des Rio Negro in den Rio Solimões liegt. Vor der Kolonisation war die Harpyie fast über ganz Brasilien verbreitet – ausgenommen in Gebieten des Cerrado, der Caatinga, des Pantanal und der Pampa – also vorwiegend offenen Landschaften. Gegenwärtig kann sie sich nur noch in den grossen Waldreserven Amazoniens einigermassen intakt halten.
Der Vogel baut sein Nest vorzugsweise in den Kronen der höchsten Bäume – “Angelim“, “Castanheira“ (Paranussbaum) und “Jatobá“ erheben sich weit über das Gros der anderen Baumkronen – die sind die bevorzugten Nistplätze der Harpyien.
Ein Caboclo-Paar hat auf einem “Angelim“-Baum ein Junges betreut, das jetzt zirka ein Jahr alt ist. Wir nehmen den schmalen Waldpfad unter die Füsse und, begleitet vom Pfeifen des aufmerksamen “Wächters des Waldes“ (ein kleiner Vogel, der sowohl Tieren wie Menschen ansagt, wenn Gefahr im Verzug ist), erreichen wir schliesslich den bezeichneten Angelim-Baum mit dem Nest.
Der Jungvogel, der im Nest sitzt, seinen Hals reckt und offensichtlich auf Nahrung wartet, fliegt hie und da ein kurzes Stück von einem Baum zum andern, flattert mit den Flügeln und bewegt sich rege. Das Tier scheint gesund zu sein. Aber es muss eingefangen werden, für wissenschaftliche Untersuchungen.
Der geschickte Kletterer Olivier bereitet sich darauf vor, das Junge in seine Gewalt zu bekommen. Mit Steigeisen erklimmt er den geraden Stamm, springt dann von einem Ast zum andern, und es gelingt ihm, das Junge mit einem Lasso einzufangen.
Die Biologin Helena, ebenfalls vom INPA, konzentriert sich auf die Ernährung der jungen Harpyie. Die von Olivier gesammelten Daten werden dazu verwendet, den passenden Lebensraum in einem nativen Waldgebiet zu definieren, um dort eine Harpyien-Familie anzusiedeln. Der Speiseplan in Amazonien ist variabel für diese Vögel. “Sie fressen Faultiere, Affen, Vögel und andere Tiere, die sich in den Baumkronen aufhalten, “sagt die Biologin.
Sie untersucht die Reste von Beutetieren und ihre Knochen, die vom Nestrand herunterfallen und eingesammelt werden – daraus erstellt sie eine Übersicht der bevorzugten Nahrung. Ihre Equipe hat bereits 14 Harpyien beringt und verfolgt sie mittels Funkgerät regelmässig seit zehn Jahren.
Olivier war früher Baumkletterer in Frankreich, dem Land seiner Geburt. “Oben auf den Bäumen Europas gibt’s nicht viel zu sehen – in Amazonien dagegen gibt’s auf jedem neuen Meter etwas, das ich noch nie gesehen habe“, vergleicht er.
Der Dokumentator João Marcos Rosa, ist der Autor des Buches “Harpia“. “Mir gefällt besonders das Foto, das ein neugeborenes Harpyien-Junges mit offenen Augen zeigt, dessen Mutter es sorgsam bewacht“, sagt er.
Die Biologin Elisa Vandeli, Forscherin der Embrapa von Manaus, hält Vorträge und erklärt den ländlichen Kommunen, welche Alternativen es gibt, um mit dem Regenwald in Harmonie und ohne Zerstörung zu leben. Sie ist ein Mitarbeiterin des Projekts zur Erhaltung der Harpyie, die von der lokalen Bevölkerung als “Gavião Real“ (Königsfalke) bezeichnet wird.
“Der Baum ist die Grundlage zur Erhaltung der Harpyie – für die Erhaltung allen Lebens des Regenwaldes, inklusive der Kultur der Waldbevölkerung. Aber Bäume und Wälder sind genauso bedeutend für die Unterhaltung einer ausgeglichenen, erhaltenden Landwirtschaft“, sagt sie.
Brasilien ist das Land mit der zweitgrössten Anzahl von Vogelarten in der Welt. Man sollte hoffen, dass sich nicht nur die Wissenschaftler finden, um sie alle zu studieren, sondern auch die Zahl der Mitmenschen wachsen möge, sie alle zu beschützen und zu erhalten.