Magno deutet auf den eigentümlichen Dunst, der sich über die dadurch kaum auszumachende Savannenlandschaft ausbreitet. „So ist das oft hier am frühen Morgen, nachher wird es aufklaren“ erklärt der weit über die Grenzen von Boa Vista bekannte Tourveranstalter. Er ist auf dem Weg in das rund zwei Fahrstunden entfernte Caracaraí im Süden des Bundesstaates. Dort will er an einem Tourismus-Seminar teilnehmen und Studenten die Herausforderungen in seinem Beruf näherbringen.
Die BR-174, die Manaus mit der venezolanischen Grenze verbindet, ist im Randbezirk von Boa Vista zu einer Autobahn ausgebaut worden und führt am größten Gewerbegebiet der Hauptstadt vorbei. Doch Verkehr gibt es hier kaum, die vierspurige Straße erscheint deutlich überdimensioniert, berücksichtigt man auch die riesigen unbebauten Gewerbeflächen, die seit Jahren auf die Ansiedlung von Industriebetrieben warten.
So ist es auch nicht verwunderlich, dass sich die Autobahn bereits kurz darauf zur Landstraße verengt, die allerdings überraschend gut ausgebaut ist. Sie ist neben dem Luftweg die einzige Verbindung zum restlichen Brasilien und gleichzeitig Lebensader für die an ihren Rändern liegenden Gemeinden. Eine davon ist das bereits erwähnte Caracaraí mit seinen knapp 18.000 Einwohnern. Die Bewohner haben dabei jede Menge Platz, umfasst das Munizip schliesslich 47.000 Quadratkilometer und ist damit größer als die Schweiz.
Doch bis die Gemeinde erreicht ist, zieht sich die Straße schnurgerade durch endlose Graslandschaften, die sich mit zunehmendem Tagesanbruch immer weiter bis zum Horizont erstrecken. Die Morgensonne verleiht den Ebenen einen goldenen Glanz, verdrängt mehr und mehr den Nebel und gibt damit zahlreiche weitere Details dieses faszinierenden Ökosystems preis. Kleine Galerie-Wälder, Palmengruppen und sanfte Hügel sind nun auszumachen. Die Region erscheint allerdings menschenleer, kein Haus oder Gehöft ist zu entdecken, lediglich ein paar wenige Zäune deuten auf die Präsenz des Menschen in dieser scheinbar verlassenen Region hin.
Caracaraí sei sehr interessant für den Tourismus, erläutert Magno, auch wenn es in Roraima mit dem gleichnamigen Tafelberg und der Serra do Tepequém im Norden weitere interessante Destinationen gebe. Diese würden allerdings deutlich mehr Besucher anziehen, und deshalb sei die Region um Caracaraí ein Geheimtipp für all diejenigen, die wahre Entspannung inmitten unberührter Natur suchten.
Dort, rund 140 Kilometer südlich der Hauptstadt Boa Vista wandelt sich auch langsam das Bild der Landschaft. Immer mehr Büsche und Sträucher verdrängen die Gräser und man spürt intuitiv, dass man nun dem amazonischen Regenwald immer näher kommt. Auch entlang der Straße präsentieren sich nun immer höhere Bäume, teils überwuchert von Schlingpflanzen und bevölkert von Bromelien.
Fährt man die BR-174 weiter, ist man endgültig in Amazonien angekommen. Hier gibt es auf beiden Seiten der Straße prinzipiell nichts anders als undurchdringlichen Urwald. Lediglich die Ränder wurden für Land-, Vieh- und Forstwirtschaft gerodet, doch die Zerstörung des nativen Regenwaldes hält sich entlang der einzigen Verbindungsstraße noch einigermassen in Grenzen. Bislang findet man Roraima in den Abholzungsstatistiken stets auf den hinteren Rängen und auch Magno hofft, dass dies in Zukunft so bleibt.
Dies betont er dann auch auf dem Seminar in der gerade erst kürzlich eingeweihten Universität der Kleinstadt mit ihren wenigen Straßenzügen. Der Campus ist ebenso überschaubar und liegt direkt an dem winzigen Busbahnhof, von wo aus die Hauptstadt Boa Vista und einige angrenzende Gemeinden angesteuert werden. Internet und Handynetz sucht man hier vergeblich, der Ort scheint abgeschnitten vom sonst so pulsierenden Leben Brasiliens.
Im Seminarraum haben sich trotz des abgelegenen Veranstaltungsortes rund 100 angehende Fachkräfte des Tourismussektors zusammengefunden, um den ganzen Vormittag über Möglichkeiten und Herausforderungen in ihrer Branche zu diskutieren. Immer wieder fallen Schlagwörter wie Nachhaltigkeit und Ökotourismus, auch die Einbeziehung der ethnischen Minderheiten – in Roraima leben noch zahlreiche Indianervölker – wird thematisiert. Magno ist nun in seinem Element und betont, dass nur ein verantwortungsvoller Umgang mit allen vorhandenen Ressourcen den im extremen Norden Brasiliens gelegenen Bundesstaat als attraktive Destination erscheinen lässt. Nur so könnten Touristen aus anderen Landesteilen angelockt werden.
Doch im Laufe der Gesprächsrunden und Vorträge wird deutlich, dass der Sektor dies nicht alleine stemmen kann. Die Politik sei gefordert, mehr in den Tourismus zu investieren und die vorhandenen Naturschönheiten besser zu schützen und zu bewahren. Bestes Beispiel sei die Serra do Tepequém, wo in Ermangelung jeglicher Infrastruktur die Natur zunehmend durch verantwortungslose Besucher zerstört und vor allem zugemüllt werde. Es müsse mehr Parkwächter und eine besser ausgestattete Umweltpolizei geben, um Roraima zu einer echten Destination in Sachen Ökotourismus umzugestalten.
Dass Ökotourismus auch ohne staatliche Unterstützung organisiert werden kann, erfahren die Teilnehmer beim Mittagessen. Dieses findet an einem beliebten Ausflugziel ausserhalb von Caracaraí statt. Dort liegen im Fuss Rio Branco die „Corredeiras do Bem-Querer“. Die Stromschnellen und Wasserfälle, in deren Umfeld man auch zahlreiche primitive Felszeichnungen gefunden hat, sind vor allem bei Sportfischern sehr beliebt. Zudem kann man an den Flussrändern herrlich baden oder das Gewässer für Kanu- und Kajakfahrten nutzen. Den besten Zugang zu dem Naturschutzgebiet erhält man über eine rund 10 Kilometer lange Schotterpiste, an dessen Ende ein direkt am Fluss gelegenes Ausflugslokal errichtet wurde.
Eines wird bei diesem Ausflug jedoch deutlich und stößt auch auf Zustimmung bei Magno, der mit seinem kleinen Unternehmen Roraima Adventures diese Nische zu füllen versucht. Auf eigene Faust sollte man nicht versuchen, die Naturschönheiten in der abgelegenen Region zu erkunden. Zu versteckt liegen die Highlights, zu unsicher sind die Strassenverhältnisse und abseits der Hauptverkehrsader steht man ohne Voranmeldung oft vor verschlossenen Türen. Die Infrastruktur ist zwar vorhanden, aber eben nur dann, wenn auch Touristen erwartet werden.
Auf der Rückfahrt nach Boa Vista zieht Magno eine positive Tagesbilanz. „Es gibt ein großes Potenzial für den Tourismus hier in Roraima und wir sind auf einem guten Weg. Wir müssen dies allerdings noch bekannter machen und mehr in den Ausbau der Infrastruktur investieren. Wir bilden derzeit viele junge Leute in diesem Sektor aus und können durchaus zukunftssichere Arbeitsplätze schaffen. Die Natur in Roraima ist spektakulär, wir müssen sie nur zu nutzen wissen“ sinniert er mit Blick auf die endlose Graslandschaft, die sich im Schein der untergehenden Sonne bis zum Horizont wie ein aus Gold gewebter Teppich ausbreitet.
Roraima: der vergessene Norden Brasiliens
- Teil 1: Boa Vista – schöne Aussicht exklusive
- Teil 3: Pacaraima – am scheinbaren Ende der Welt