Kosmologie und Rituale

Zuletzt bearbeitet: 5. Oktober 2014

Eins der zentralen Motive der Kosmologie des Oberen Xingu ist der Unterschied zwischen den Original-Modellen der mythologischen Wesen und ihren späteren Nachfolgern. Zum Beispiel: die Indianer erzählen, dass die ursprüngliche Pequi-Palme (Pequizeiro) viel grössere Früchte hatte als heutzutage, mit viel mehr Fruchtfleisch und kleineren Kernen. Dass die ersten Flöten Wassergeister gewesen seien, deren Entdecker sie versteckte, und Kopien aus Holz anfertigte, die nie mehr jenen gewaltigen Ton der Originale hervorbrachten. Und die ersten menschlichen Wesen wurden aus Holz vom Halbgott Omama geschnitten, der auch versuchte, sie wiederzubeleben – weil er scheiterte, wird ihres definitiven Todes in der Zeremonie des “Kwarup“ gedacht – wo Baumstümpfe desselben Holzes symbolisch die Toten verkörpern. Die Zwillinge Sonne und Mond sind, neben ihrer Bedeutung als Gestalter der Indianer vom Oberen Xingu, auch ihre Vorbilder, denn die Mehrheit ihrer Abenteuer in der Mythologie enthält Praktiken, die später von den Menschen übernommen wurden, wie Ringkampf, Aderlass und Schamanismus.

So ist ihre Mythologie nicht nur eine Sammlung von originellen Erzählungen, die sich im Lauf der Zeit langsam verlieren – ganz und gar nicht, denn sie orientieren und betätigen ständig die Handlungen der Menschen in der Gegenwart. Die Geografie der Region ist gesprenkelt mit Orten, an denen die Ereignisse der Mythologie stattfanden; die Zeremonien erklären sich aus der Initiative von mythologischen Wesen; die Welt ist bevölkert von unsterblichen Wesen, welche die begangenen Fehler der Sterblichen korrigieren; die Schöpfer der Menschheit leben immer noch in “Morená“. Zusammengefasst: die Mythologie existiert als zeitlicher Begriff, aber vor allem als Konzept zur Ausrichtung des menschlichen Lebens.

Die Zeremonien sind vollkommen auf das mythologische Universum ausgerichtet. Es gibt Feste, denen man den Namen eines Geistes verliehen hat – in der Regel jener, den man als Verursacher der Krankheit identifiziert hat, von der der Promoter des Festes befallen wurde – diese Art Fest ist auf die Dorfgemeinschaft begrenzt. Die aktiven Teilnehmer an dieser Art von Ritual – Tänzer, Sänger und Musiker – repräsentieren diesen Geist. Umfangreichere Zeremonien involvieren verschiedene Dörfer des Oberen Xingu, wie zum Beispiel das “Fest der Toten“ (besser bekannt unter seinem Namen aus der Sprache der Kamayurá “Kwarup“) und das “Duell der Speere“ (“Jawari“ in der Kamayurá-Sprache). Die letztere Klasse von Zeremonien wurde von den Zwillingen Sonne und Mond eingeführt. Die beteiligten Dörfer, in der Mythologie, werden von Tieren repräsentiert, welche in unterschiedlichem Ambiente leben, wie Säugetiere gegen Vögel oder Fische gegen Säugetiere.

Was die eingeborene Bevölkerung während dieser interdörflichen Rituale praktiziert, leiten sie zwar vom mündlich überlieferten Inhalt einer mythologischen Begebenheit ab, aber es ist nicht nur eine einfache Wiederholung oder Inszenierung derselben. Was mit dem Ritual zelebriert wird, ist vielmehr die Unmöglichkeit einer identischen Wiederholung: “Und jetzt wird es nur noch Feste geben“, sagte der Halbgott Omama, nachdem es ihm nicht gelungen war, die ersten Menschen, die ihm unter der Hand gestorben waren, wiederzubeleben – und er ihnen damit die Sterblichkeit verliehen hatte (die weiteren Einzelheiten sind im Abschnitt “Kwarup“ festgehalten).

xingu_holzkltzeDie ursprüngliche Schaffung der Menschen, nach der Mythologie der Indianer vom Oberen Xingu, war das Werk eines Halbgottes, der Holzklötzen abgesägter Baumstämme mit dem Rauch seiner Pfeife Leben einflösste. So schuf er die ersten Männer und Frauen – unter ihnen auch die Mutter der Zwillinge Sonne und Mond, Prototypen und Vorgänger der gegenwärtigen Menschheit. Zu Ehren jener Frau wurde einstmals das erste “Fest der Toten“ zelebriert – das bedeutendste Fest des Oberen Xingu, dem eine Reinszenierung des Schöpfungsaktes zugrunde liegt, und welches ausserdem der öffentlichen Präsentation der Jugendlichen einen festlichen Rahmen verleiht, die gerade aus der ihnen verordneten pubertären Reklusion entlassen worden sind. So wird dieses Ritual zu einem Fest, das sowohl Tod als auch Leben vereint – die jungen Frauen, welche ebenfalls aus ihrer Reklusion entlassen werden, sind wie die ersten Frauen der Menschheit: die Mütter der Männer.

Die ersten Menschenwesen wurden innerhalb eines “Reklusions-Kabinetts“ geschaffen: Die Mädchen aus Holz verwandelten sich in Menschen aus Fleisch und Blut, nachdem sie hinter aus Palmstrohgeflecht gefertigten Wandschirmen von der Welt abgesondert worden waren – ähnlich den Abschirmungen, in denen die Jugendlichen heute, innerhalb des Hauses ihrer Eltern, die vorgeschriebene “Reklusion“ verbringen. Als Echo dieses aus der Mythologie stammenden Brauchs, verlangt die Formation und Erziehung einer Persönlichkeit vom Oberen Xingu verschiedene Reklusions-Perioden, alle werden als Momente der körperlichen und geistigen Fortbildung betrachtet: die “Couvade“ (eine Reklusion der jungen Paare mit dem neu geborenen Kind), die Pubertät, die Krankheit, die schamanistische Initiation und die Trauerzeit (um den Verlust eines Angehörigen). Diese menschliche Weiterbildung ist auch die Modellierung der Persönlichkeit, vor allem die Reklusion in der Pubertät, die bedeutendste im Leben des Indianers vom Oberen Xingu.

Im Gegensatz zu diesen Perioden der “körperlichen und geistigen Perfektionierung“, die vom Rückzug aus der Öffentlichkeit und der Begrenzung persönlicher Bedürfnisse bestimmt werden, darf sich der so gefestigte Mensch danach ganz der Exhibition seines vollendeten Körpers und der Aktualisierung seines gesellschaftlichen Status (Sexualität, rituelle Rolle) hingeben – sich im öffentlichen Leben einen respektierten Platz erobern, auf dem Dorfplatz als Redner glänzen, sich als Ringkämpfer durchsetzen und sich als zeremonieller Tänzer profilieren.

Dieser Kontrast bestimmt das Leben der Indianer vom Oberen Xingu in seinen Grundsätzen, ein Leben, das sich zwischen diesen zwei komplementären Momenten abspielt, deren Dynamik die “Konstruktion der Persönlichkeit“ dieser Gesellschaft vollendet. Der Dorfplatz, die Rede auf dem Dorfplatz, der Ringkampf, der Tanz, die Zurschaustellung (typisch männlich) der eigenen Individualität im Zentrum der Dorfgemeinschaft – das alles existiert nur aus dem Zusammenhang mit der Reklusion heraus, ihrer Stille und ihrem Geheimnis, der lange währenden “Fabrikation des Körpers“ und seiner Regeln der Enthaltsamkeit bezüglich der Nahrungsaufnahme und der Sexualität.

Die Kosmologie und die Rituale anderer Völker des Parks sind individuell verschieden, deshalb empfehlen wir Ihnen, die entsprechenden Texte zu konsultieren: Ikpeng, Kaiabi, Suyá und Yudjá. Ausserdem bringen wir in den Einzelaufstellungen über jedes Volk des Oberen Xingu weitere, diesen Stämmen individuell eigene Charakteristika, die wir in dieser allgemeinen Übersicht nicht beachten konnten.

nach obenDAS LANGE RITUAL DES KWARUP

Der Name dieser bedeutendsten Zeremonie der Stämme des Oberen Xingu stammt aus der Kamayura-Sprache. Der “Kwarup“ ist sozusagen ihr Markenzeichen geworden und hat sich nicht unter seinen Teilnehmern und Besuchern, sondern auch bis in die Grossstädte Brasiliens ausgebreitet. Es handelt sich dabei um einen Totenkult, welcher mythologische Elemente der menschlichen Schöpfung einbegreift, die hierarchische Klassifikation in verschiedenen Gruppen, die Initiation der Jugendlichen und die Relation zwischen den einzelnen Dorfgemeinschaften (siehe Text “Kosmologie und Rituale“).

Sowohl der Führer oder “Dorfherr“ als auch die “Hausherrn“ werden in unterschiedlicher Form bestattet. Im Fall des einfachen Bewohners wird der Körper in eine Hängematte gewickelt und in eine ausgehobene Grube gelegt, wo er mit einer geflochtenen Matte bedeckt wird, über die man dann die Erde auffüllt. Für Führerpersonen gibt es wenigstens zwei Bestattungsarten. Bei der einen wird der Körper auf ein Gerüst gebunden, das einer Treppe ähnelt, und so in eine tiefe Grube gesenkt – auf diese Weise verbleibt der Leichnam in aufrechter Form, mit dem Gesicht wird er gegen Osten gedreht. Im zweiten Fall graben die Bewohner zwei Gruben – etwa drei Meter voneinander entfernt, verbunden durch einen Tunnel. In jede der beiden Gruben stellt man nun einen Pfosten auf. Der Leichnam wird ebenfalls in eine Hängematte gewickelt, deren Enden an den beiden Pfosten befestigt werden, sodass der Körper in dem Tunnel schwebt. In beiden Fällen errichtet man eine Grabkammer, denn der Leichnam wird mit vielen Matten und gefüllten Keramikgefässen bedeckt, über die man dann die Erde häuft.

Einige Zeit nach der Beerdigung eines Führers bitten diejenigen, welche den Leichnam präpariert haben und ihn ins Grab legten, die nächsten Verwandten des Toten, einen Zaun um das Grab zu errichten. Die Annahme dieser Bitte durch einen Anverwandten des Toten bildet den Anfang des “Kwarup“, der sich über eine lange Zeit hinzieht. Der Abschnitt seiner Beendigung fällt in die Trockenperiode, in die Zeit der Eiablage der Wasserschildkröten (Tracajá) – ungefähr zwischen August und September. Zu dieser Endzeremonie lädt das Dorf des Verstorbenen die anderen Dörfer des Oberen Xingu zum Fest ein.

Derjenige Verwandte, welcher die Erlaubnis zur Errichtung des Zauns gegeben hat, avanciert zum “Herrn des Kwarup“ – jetzt ist er verantwortlich für die gesamte Organisation des Rituals sowie für die Verteilung von Essen und Trinken an alle eingeladenen Besucher und Teilnehmer. Vor allem braucht er dazu einen Riesenvorrat an Maniok. Verwandte anderer “berühmter Toter“ werden ebenfalls von den entsprechenden Totengräbern aufgefordert und, wenn sie akzeptieren, werden sie sekundäre Herren desselben Kwarup. Der oberste Herr und die sekundären Herrn des Kwarup laden nun ihrerseits Verwandte von “gewöhnlichen Toten“ ein, sich demselben Ritual anzuschliessen. Allerdings gibt es nur einen einzigen Zaun, das ist der um das Grab dessen, der Motiv der ersten Aufforderung war. Den Totengräbern kommt, darüber hinaus, auch die wichtige Aufgabe zu, die “Herren“ mit dem Rest der Dorfgemeinschaft zu “verbinden“ und, gegen Ende des Rituals, auch mit den Besuchern.

Wenige Zeit nach der Errichtung des Zauns um das Grab, werden die Verwandten von den Totengräbern gebadet und bemalt. Zu diesem Anlass agieren zwei Männer mit Rasseln in der Nähe des Zauns um das Grab – ihre Untermalung wird später während des eigentlichen Rituals vervielfacht, wenn sie ohne Unterlass vor den Baumstümpfen des Kwarup die Rasseln schwingen.

Die zweite wichtige Vorbereitung ist das Sammeln einer grossen Menge von Pequi-Früchten, die zwischen November und Dezember reifen. Die gesammelten Früchte werden im Innern des Zauns um das Grab niedergelegt, bis sich der gesamte innere Raum gefüllt hat. Dann werden sie gekocht, ihr Fruchtfleisch wird in Körben aufbewahrt, die vorher mit Blättern ausgeschlagen wurden – anschliessend versenkt man die vollen Körbe auf dem Grund einer Lagune. Die Kerne werden ebenfalls in kleineren Körbchen aufbewahrt. Die Fische werden höchstens fünf Tage vor Beendigung des Rituals gefangen, denn in diesem Fall ist es schwierig sie länger zu konservieren, selbst in gedörrtem Zustand.

Im Verlauf der Monate, die noch bis zur Beendigung des Rituals folgen, sind immer mal wieder zwei Arten von Tänzen zu beobachten und man hört den Klang der langen Flöten über den Dorfplatz hallen (die in der Sprache der Kamayurá “Uruá“ heissen) – stets unterstützt durch Essensgaben der „Herren des Kwarup“. Mittelpunkt jener rituellen Aktivitäten ist stets der Zaun um das Grab des “berühmten Toten“.

Das Ideal, die grösst mögliche Zahl von Gästen aus anderen Dörfern zu dem Ritual einzuladen, wird einerseits durch die vorhandene Menge an Nahrungsmitteln begrenzt, andererseits auch durch den aktuellen Zustand der Relationen zwischen ihnen. Ein Bote, den man aus der Reihe der Totengräber bestimmt, mit zwei Begleitern, wird zu jedem einzelnen Dorf geschickt, um die Einladung persönlich auszusprechen, nach einer bestimmten Etikette, welche ihnen bestens bekannt ist.

Auf dem Platz des Gastgeber-Dorfes wird jeder zu ehrende Verstorbene durch einen Baumstamm von zwei Metern Länge dargestellt. Sie stammen von einer Baum-Spezies, die unter den verschiedenen Indianervölkern verschiedene Namen hat. Die Kamayurá nennen den Baum “Kwarup“ – dasselbe Holz, aus dem ihr mythologischer Held die Frauen erschuf und sie dazu bestimmte, sich mit dem Jaguar zu verheiraten. Die Baumstämme werden in einer Reihe aufgepflanzt, indem man sie in wenig Abstand zueinander in 50 cm tiefe Löcher stellt. Sie werden bemalt und mit Federkronen und männlichen Gürteln geschmückt. Der einzige Unterschied zwischen den Stämmen, die Männer repräsentieren und solchen, die für verstorbene Frauen aufgestellt sind: letztere werden zusätzlich mit langen Streifen von Rohbaumwolle versehen. Auch die einfachen Männer aus dem Volk haben das Recht, durch solche “Troncos“ (Stämme) dargestellt zu werden – allerdings durch weniger dicke und weniger geschmückte Exemplare. Die Geister der geehrten Toten finden sich in der letzten Nacht des Rituals bei den entsprechenden Baumstämmen ein, das ist alles, was sie ihrerseits zum Ritual beitragen.

Die Baumstämme des Kwarup werden dann zum Mittelpunkt des rituellen Geschehens, und der Zaun um das Grab herum wird nun wieder abgebaut und als Brennholz für die Campfeuer der eingeladenen Gäste benutzt, die am Vortag der letzten Nacht des Rituals alle eintreffen. Beim Eintreffen führen jene Boten, die die Einladung aussprachen, die jeweiligen Häuptlinge der Gäste an der Hand zu einer Stelle auf dem Dorfplatz, wo sie einen Sitzplatz und Essen angeboten bekommen. Nachdem sie mit ihren Stammesbrüdern gegessen haben, kehren sie zu ihrem Camp am Dorfrand zurück.

Mit Einbruch der Nacht werden die Feuer vor jedem Kwarup-Stamm entzündet. Während die Bewohner des gastgebenden Dorfes sich beim Weinen vor den Stämmen ablösen, betreten die Besucher, jedes Camp für sich, das Dorf und bringen Brennholz mit, um die Feuer damit zu speisen – eine bewegte und erschütternde Szene.

Wenn der Morgen graut, bereiten sich Gastgeber und Gäste auf das “Huka-Huka“ vor, ein Ringkampf, dessen Name ebenfalls aus der Terminologie der Kamayurá stammt – eigentlich eine Lautmalerei ist, die von den Schreien der Ringkämpfer herrührt, die das Brüll-Stakkato des Jaguars imitieren. Die Kämpfer der Gastgeber müssen nacheinander die Kämpfer der eingeladenen Dörfer konfrontieren – das Ganze beginnt mit individuellen Kämpfen zwischen bekannten Champions. Dann folgen simultane Durchgänge von verschiedenen Gegner-Paaren – bis zu den Kämpfen zwischen den Allerjüngsten. Dabei treten sich die Ringkämpfer gegenüber, indem sie mit dem rechten Fuss auf den Boden stampfen und sich dabei langsam im Uhrzeigersinn um die eigene Achse drehen – mit dem linken Arm ausgestreckt und dem rechten angewinkelt – dabei schreien sie abwechselnd: hu! ha! hu! ha! Bis sie sich mit der rechten Hand berühren und den Hals des Gegners mit der Linken umschlingen. Der Kampf selbst, der unter Umständen nur wenige Sekunden dauern kann, ist zuende, wenn einer der Gegner umgeworfen wird – was nicht unbedingt im genauen Wortsinn geschehen muss – es reicht, wenn der untere Teil eines seiner Knies von der Hand des anderen festgehalten wird, was als unausweichlicher Griff gilt, um ihn zu Fall zu bringen. Die eingeladenen Dorfgemeinschaften kämpfen nicht unter sich. Der Schmuck der Kwarup-Baumstämme geht in der Regel an die siegreichen Kämpfer.

Nach dem Kampf erscheint eines der Mädchen, die zur selben Zeit aus ihrer pubertären Zurückgezogenheit entlassen wurden – auffallend hellhäutig, weil sie während eines Jahres nicht mehr dem Sonnenlicht ausgesetzt war, und mit den ehemaligen Stirnfransen bis hinunter zum Kinn, weil sie ihr in dieser Zeit nicht geschnitten werden durften – sie bietet nun den Führern eines der eingeladenen Dörfer Pequi-Kerne an, während “einfache“ Männer desselben Dorfes ihr die Wadenbänder abnehmen. Dieser Vorgang wiederholt sich mit den Repräsentanten jedes eingeladenen Dorfes. Er hat eine klare sexuelle Bedeutung, denn sowohl in der Mythologie als auch in der Realität nimmt die Frau zum Sex mit ihrem Partner diese Wadenbänder ab. Ausserdem geben die Bewohner des Oberen Xingu zu, dass der angenehme Geruch der Pequi-Frucht ihr von einer mythologischen weiblichen Heldin verliehen wurde.

Zur Beendigung des Rituals wird den Gästen reichlich Nahrung angeboten. Paare von Flötenspielern (der riesigen “Uruás“ aus Bambusrohr) treten auf, begleitet von den Mädchen, die aus ihrer Reklusion entlassen wurden – auch Besucher spielen auf diesen Flöten – und sie bewegen sich durch das Dorf der Gastgeber, treten in Häuser ein und kommen wieder aus ihnen heraus. Das Ritual ist nach dem Verabschieden der Gäste zuende.

nach obenDAS JAWARI– RITUAL

Ein anderes Ritual zu dem ein anderes Dorf eingeladen wird, ist das “Jawari“ – es findet um den Monat Juli herum statt. Hierbei handelt es sich um eine Reihe von Wettkämpfen, jeder zwischen zwei Mitgliedern unterschiedlicher Ethnien – sie werden etwa sechs Meter voneinander aufgestellt. Jeder der beiden Männer wirft nun mit Speeren auf den Gegner und versucht ihn möglichst von der Gürtellinie abwärts zu treffen. Die Gegner dürfen sich schützen, indem sie sich hinter einem schmalen Rutenbündel verstecken oder wenn der Speer auf sie zuschiesst, dahinter springen – dürfen aber das Rutenbündel nicht vom Boden hochheben. Die Speerspitzen sind mit Wachsklumpen geschützt und der vordere Teil des Schaftes steckt ausserdem in einer Tucum-Nussschale (die in der Kamayurá-Sprache “Jawari“ heisst) mit Löchern – so geben die Speere einen pfeifenden Ton von sich während des Fluges. Sie werden mit Hilfe eines “Propulsors“ geschleudert, einem einfachen Gerät, welches die Schleuderkraft des Arms vervielfacht – ein Instrument, das in der Vergangenheit lange Zeit falsch gedeutet wurde, und das in Brasilien nur am Oberen Xingu benutzt wird, und nur zu diesem Wettkampf.

Zur Vorbereitung dieses Rituals werden drei Boten – ein Führer und zwei Assistenten – zu dem ausgewählten Dorf geschickt (an diesem Ritual nehmen, im Gegensatz zum Kwarup, nur der Gastgeber und ein einziges gegnerisches Dorf teil) – die eingeladenen Bewohner erscheinen dann am vereinbarten Tag, werden von denselben Boten empfangen, die den Gästen Maniokbrei und Fladenbrot servieren. Die Gäste errichten ein Camp ausserhalb des Gastgeber-Dorfes und erscheinen dann am folgenden Tag zum Wettkampf.

In den Tagen, die diesem Wettkampf vorausgingen, haben die Gegner noch in ihrem Dorf reichlich geübt – und zwar haben sie als Zielfigur dazu eine lebensgrosse Puppe aus Blattwerk benutzt, das mit Palmfaser-Stricken zu einem fiktiven Corpus zusammengebunden ist. Und sie haben es vermieden, Fisch zu sich zu nehmen und sich in sexueller Enthaltsamkeit geübt – alles, um am Tag des Wettkampfes eine gute Figur zu machen.

Nach dem Wettkampf, der übrigens durchaus auch als ein Disput gesehen werden kann, eventuelle Aggressionen zwischen den Stämmen abzubauen – im Wettkampf und nicht im Krieg – servieren die Gastgeber ihren Gästen erneut etwas zu essen. Dann werden auf einer breiten Keramik-Platte einige Speere und Schleudern zerbrochen und anschliessend die Stücke verbrannt (die nordamerikanischen Indianer würden sagen: “Das Kriegsbeil wird damit begraben“). Nach dem Essen begeben sich die Gäste auf den Heimweg zu ihrem Dorf.

nach obenDAS WEIBLICHE RITUAL YAMURIKUMÃ

YamurikumDas “Flötenhaus“ (auch “Männerhaus“ genannt) im Zentrum des Dorfes verbirgt Musikinstrumente, welche die Frauen zwar hören aber nicht sehen dürfen. Diese Flöten sind am mittleren Tragebalken des Daches angebunden und können zu jeder Zeit von einer männlichen Dreiergruppe gespielt werden. Dieselben können auch nachts, wenn sich alle Frauen zurückgezogen haben, mit den Flöten auf den Dorfplatz treten. Sonst spielt man die Flöten anlässlich kollektiver Aufgaben unter Männern, die Spieler werden dann von jenem mit Essensgaben bedacht, in dessen Auftrag sie musizieren. Bei diesen Gelegenheiten müssen sich die Frauen in den Häusern einschliessen.

Beim Ritual „Yamurikumã“ wird diese Situation von den Frauen ins Gegenteil verkehrt (die Bezeichnung stammt wieder aus der Terminologie der Kamayurá) – es findet in der Trockenperiode statt und zeigt die Frauen, wie sie mit Waffen der Männer (Bogen, Pfeilen und Keulen) hantieren und dabei typisch männliche Bewegungen zelebrieren – ausserdem sind sie auf männliche Art und Weise geschmückt und bemalt – und sie veranstalten sogar den Ringkampf “Huka-Huka“ untereinander.

Nachdem sie zu diesem Ritual ebenfalls Gäste aus anderen Dörfern empfangen haben, die wie beim Kwarup im Umkreis des gastgebenden Dorfes ihre Camps aufschlagen, intonieren alle Teilnehmer Gesänge, welche sich auf die männliche Sexualität beziehen. Darunter gibt es ganz unterschiedliche Gesänge – einige von ihnen erwähnen die Ursprünge dieser Zeremonie, viele geben die  Art des männlichen Auftretens mit ihren Flöten wieder, und wieder andere simulieren offensichtlich die aggressive Sexualität der Männer in Gegenwart bestimmter Frauen. Die zuschauenden Männer, die dabei leicht angegriffen werden können, ziehen sich in solchen Fällen beschämt zurück.

nach obenSCHAMANISMUS

schamanismusDie Völker des Parks anerkennen den Eingriff einer Vielfalt von Geistwesen in das Leben der Menschen. Es gibt einen Überfluss von Geistern, angefangen von den Pflanzen, Fischen, Pelztieren, Sternen, Objekten, bis hin zu den Bedeutenderen, welche mit den Flöten angerufen werden, die von den Frauen nicht gesehen werden dürfen, aber auch denen, welchen mit dem femininen Ritual “Yamuricumã“ gehuldigt wird. Es sind die Geister, welche Schuld an den meisten Krankheiten haben, nachdem sie den Menschen im Wald begegnet sind, und sie sind es auch, die den Medizinmännern helfen, die Kranken zu heilen. Die Geister sind unsichtbar, sie zeigen sich nur den Kranken und den Schamanen (Medizinmännern) in Trance.

Die geistigen Wesen sind in der Regel überall, ausgenommen im Dorf, wo sie lediglich im aussergewöhnlichen Fall einer Krankheit erscheinen, im Fall einer schamanistischen Beschwörung oder während eines Rituals. Ihre Verbindung mit den Menschen geschieht hauptsächlich auf individueller Basis – meistens anlässlich einer Krankheit. Die Indianer vom Oberen Xingu glauben, dass sämtliche Krankheiten aus einem Kontakt mit der übernatürlichen Welt entstehen, sei es durch die Aktion eines Zauberers oder durch die unglückliche Begegnung direkt mit einem Geist.

Um eine Krankheit zu heilen, nimmt der Schamane des Dorfs Kontakt mit dem die Krankheit verursachenden Geist auf – mittels einer durch grosse Zigarren aus Tabak stimulierten Trance. Die Heilung geschieht durch das Blasen des Rauchs über den kranken Körper, oder durch das Vertreiben des Zaubers – manchmal auch durch die Identifikation des bösen Geistes, der vom Medizinmann aufgefordert wird, sich seines eigenen Körpers zu bedienen.

So kontrolliert der Schamane die Verbindungen des Dorfes und seiner Bewohner mit der übernatürlichen Welt: er reguliert das Verhältnis zwischen Menschen und Geistern, welche die Gewässer und die Wälder bewohnen. Durch seine Diagnose werden die Krankheiten verursachenden Geister mittels eines Rituals sozialisiert. Ein “Feiticeiro“ (Zauberer) dagegen repräsentiert das Paradigma eines bösen Menschen: er ist derjenige, welche durch die Hintertür ins Haus eindringt, der einen Bann auf die Felder legt, der sich in ein wildes Tier des Waldes verwandelt. In den meisten Fällen sind diejenigen, die man solcher Zauberkräfte verdächtigt, Bewohner anderer Dörfer oder Mitglieder anderer, fremder Ethnien.

Am Oberen Xingu sieht sich der geheilte Mensch vor einer Schuld gegenüber dem Geist, welcher die Krankheit verursacht und geheilt hat. Also muss er eine Zeremonie organisieren, in der jener Geist mit Gesängen und Tanz von geschmückten Teilnehmern geehrt wird. Eine solche Zeremonie ist eine Gelegenheit, bei der alle Bewohner seines Hauses mitmachen und die anderen Mitbewohner des Dorfes mit Essen versorgen. Der Geist wird von der Gemeinschaft repräsentiert, die von der Familie des Genesenen bewirtet wird.

Krankheit ist aber nicht etwa nur etwas Böses – oder vielmehr, Krankheit ist nicht nur das. Ein grosser Teil des zeremoniellen und rituellen Systems des Oberen Xingu wird bestimmt von Ideen, die mit Krankheit verknüpft sind, und dem Kreis der gegenseitigen Aktivitäten, die durch solche Zeremonien stimuliert werden, kommt eine Schlüsselrolle in der gesellschaftlichen Dynamik der Dörfer zu als Mittler zwischen dem Einzelindividuum und der Gesellschaft (Viveiros de Castro 2002:81).

nach obenEINGEBORENE VEREINIGUNGEN

Die Initiative Vereinigungen zu bilden, bedeutet vor allem einen Versuch der Indianer, in der Frage ihrer gemeinschaftlichen Interessen die Autonomie zu erlangen, mit der sie die institutionelle Welt der brasilianischen Gesellschaft auf ihre Probleme aufmerksam machen können. In den letzten Jahren wurden innerhalb des PIX fünf Vereinigungen gegründet und, wie es scheint, wird diese Zahl noch wachsen. Von den bereits existierenden sind drei an die lokalen Interessen bestimmter Dörfer gebunden: “Mavutsinim“ der Kamayurá, “Jacuí“ der Kalapalo und die Vereinigung der Waurá. Im Jahr 1994 hat man die ATIX (Associação da Terra Indígena do Xingu) gegründet, die 14 Ethnien des Parks einbegreift und deren interlokale Interessen vertritt. In ihrem Programm sind Projekte der kulturellen Wiederbelebung enthalten, Schutz und Kontrolle des Territoriums, ausserdem Erziehungs- und Gesundheitsprogramme, sowie wirtschaftliche Alternativen. Die ATIX hat die institutionelle Unterstützung der “Rainforest Foundation“ von Norwegen und die Mitarbeit der ISA.

Vereinigungen nach zivilisiertem Muster sind in der Regel mit einer administrativen Struktur ausgerüstet, die in den traditionellen Formen der politischen Organisation einer eingeborenen Gesellschaft unbekannt ist. Die Anpassung und Erstellung eines Mitgliedermodells mit bürokratischen Zügen kollidieren mit der traditionellen Politik, denn sie verlangen die Beherrschung der portugiesischen Sprache, mathematische Operationen, Kenntnisse der Gesetze und interinstitutionelle Relationen, die das Universum der Behörden des privaten Sektors erreichen. In Konsequenz gelingt es einer eingeborenen Vereinigung nicht immer, die traditionelle Politik ihres Dorfes – in der Regel artikuliert durch die Ältesten – so umzusetzen, dass sie vor der nationalen Gesellschaft verstanden und als Thema von allgemeinem Interesse behandelt werden kann. Diese Aufgabe wird in der Regel von jüngeren Eingeborenen übernommen, denn sie begreifen eher jene neuen Bedingungen zur Administration ihrer Forderungen.

Die Erhaltung einer Vereinigung mit einem so weitläufigen Profil wie dem der ATIX, die ein ganzes Kontingent von verschiedenen Projekten steuert, verlangt nach Partnern, die ihren Kurs unterstützen, wenigstens teilweise. Weil die ATIX ihren Wirkungskreis auf unterschiedliche Ethnien ausgedehnt hat, befindet sich ihr Sitz nicht in einem Dorf, sondern auf dem FUNAI-Posten Diauarum, mit einer Filiale in Canarana (Mato Grosso). Dieser komplexe Aufgabenbereich verlangt von der Mehrheit seiner Mitarbeiter die totale Widmung, ausserdem müssen sie in unmittelbarer Nähe der Vereinsniederlassung wohnen.

Ein anderer wichtiger Aspekt zur Erhaltung der Vereinigungen ist die Kapazität ihrer Mitarbeiter, um sämtliche in der Administration anfallenden administrativen, finanziellen, buchhalterischen und relationellen Arbeiten adäquat erledigen zu können. In dieser Frage unternimmt die ATIX, unterstützt von der ISA, intensive und kontinuierliche Anstrengungen, ihre Equipe zu vervollkommnen. Seit 1995 schon lässt sie ihre Mitarbeiter an diversen Kursen teilnehmen, wie allgemeine Mechanik, Computerbedienung, Fahrschule, Erarbeitung, Administration und finanzielle Verwaltung von Projekten.

Im Kontext des Parks, in dem seit 1985 die Administration der FUNAI unter der Kontrolle der Indianer steht, bedeutet das Wachstum der ATIX gewissermassen eine neue Alternative, welche die Widersprüchlichkeiten eines Prozesses aufdeckt, in dem den Indianern zwar die Rechte und Pflichten eines brasilianischen Staatsbürgers zuerkannt wurden, ohne dass man ihnen aber entsprechende Konditionen gegeben hatte, ihrer neuer Rolle auch mit der notwendigen Autonomie gerecht werden zu können.

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AutorIn: Klaus D. Günther

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