Künstlername: Nilton Santos
Kompletter Name: Nilton Santos
Geburtsdatum: 16/05/1925 † 27/11/2013
Geboren in: Rio de Janeiro
Position: Abwehr
Vereine:
01/1948 bis 12/1965: Botafogo (RJ)
WM-Einsätze Seleção:
WM 1962 Chile
WM 1958 Schweden
Spiele für die Seleção: 67
Tore für die Seleção: 3
„Ich beneide die Flügelspieler von heute – nicht wegen des Geldes, das sie verdienen, sondern wegen der Freiheit, die sie haben, ihr Spiel zu gestalten“. Dieser Ausspruch stammt vom im Mai 2010 85-Jahre werdenden grössten Linksaussen der Geschichte des Fussballs, den sie nicht umsonst die „Enzyklopädie des Fussballs“ genannt haben.
Nilton Santos – zweifacher Weltmeister mit der brasilianischen Nationalelf, vierfacher Carioca-Champion mit dem Club Botafogo, neben vielen anderen internationalen Titeln, immer mit dem gleichen Trikot – war verantwortlich für taktische Veränderungen in zahlreichen Nationalmannschaften und internationalen Clubs, sowie für eine ganz neue Aufgabe des Flügelmannes auf dem Spielfeld.
„Ich habe für mein Leben gern einen Angriff provoziert – aber mit Vorsicht, denn wenn mein Team in diesem Moment ein Tor hätte einstecken müssen, hätte man mich massakriert“, erinnert er sich. Nilton gibt zu, dass er zu seiner Zeit das Glück auf seiner Seite hatte. „Es kam mir vorteilhaft zu statten, einen Garrincha in meinem Team zu haben. Der lockte die Gegenspieler auf seine rechte Seite, und ich benutzte diese Augenblicke, um Gas zu geben. Es gelang mir 11 Tore für meinen Club Botafogo zu platzieren und 3 für die Nationalelf, was für die damalige Zeit beinahe ein Absurdum bedeutete. Ich glaube, dass ich einer der ersten Flügelspieler war, die angriffen anstatt den andern nur Pässe zuzuspielen“.
Nilton Santos war ein klassischer Fussballer, elegant, selten provozierte er ein Foul und niemals spielte er mit Gewalt. Er begann seine Karriere als Mittelstürmer, wurde dann während eines Trainings als vierter Stürmer eingesetzt und fixierte sich bald darauf als Flügelmann. Seine Obsession für den Angriff behielt er allerdings bei, und die führte dazu, dem Fussballspiel seiner Zeit eine neue Alternative zu verleihen – seine „befremdlichen Angriffe“ vom linken Flügel her waren gefürchtet.
Er beherrschte ein raffiniertes, bewegliches Ballspiel, dribbelte und schoss mit beiden Beinen gleich gut – eine Seltenheit zur damaligen Zeit. Auf dem Spielfeld übernahm er eine diskrete aber entschlossene Führung. Spieler wie Amarildo – der Pelé beim World Cup 1962 vertrat – Pelé selbst und auch Garrincha – letzterer als sein bester Freund – respektierten ihn über alle Massen.
Nachdem Brasilien 1958 seine erste Weltmeisterschaft in Schweden gewonnen hatte, warf sich der damals erst 17 Jahre alte Pelé dem 33-jährigen Veteran Nilton in die Arme, weinend vor Erschütterung. „So ist das nun mal, mein Junge“, tröstete Nilton den zukünftigen „König“, „endlich sind wir die Champions und dank deiner Mithilfe“. In einem anderen Fall, während des World Cups 1962 in Chile, gelang es Nilton, seinen Kameraden Amarildo wieder aufzumuntern, dem man innerhalb seines Teams nicht umsonst den Spitznamen „der Besessene“ angehängt hatte. „Didi und ich setzten uns mit Amarildo zusammen, um ihn zu warnen, dass die Spanier wahrscheinlich versuchen würden, ihn zu provozieren – also sollte er sich möglichst unter Kontrolle halten, um nicht vom Platz verwiesen zu werden. Er verstand uns und verhielt sich im Spiel dann untadelig – wie ein Engel auf dem Platz“, erinnert sich Nilton Santos heute.
Bei diesem World Cup 1962 ereignete sich ebenfalls etwas, das das Leben von Nilton Santos und die Geschichte des brasilianischen Fussballs prägte. Es geschah im Spiel gegen Spanien, im Halbfinale, wer verlor musste nach Hause fahren. Nilton Santos, damals 37 Jahre alt, erzählt, was geschah:
„Es fing schlecht an für uns, und wir mussten schon in der ersten Halbzeit ein Tor hinnehmen. Der spanische Trainer setzte mir einen ganz jungen und sehr schnellen Burschen auf den Pelz, aber der konnte nur links schiessen. Im Rennen gewann er gegen mich, aber dann musste er sich den Ball auf den richtigen (linken) Fuss jonglieren – und bis dahin war ich heran und nahm ihm den Ball weg. In der zweiten Halbzeit wiederholte sich dasselbe Spiel – als ich ihm jedoch den Ball klauen wollte, fiel der Spanier um – schon innerhalb des Strafraums. Instinktiv machte ich zwei Schritte nach aussen. Der Schiedsrichter war Gott sei Dank weit weg und pfiff ein Foul anstatt einem Strafstoss – so was lernt man schon beim Strassenfussball“.
Und nach diesem „Foul“ liess der Druck der Spanier langsam nach – gleichzeitig präsentierte Mané Garrincha seine private Show mit Dribblings, die den Gegner verwirrten und unvorsichtig machten, bis es Amarildo gelang, daraus Vorteil zu ziehen und zum Unentschieden einzuschiessen. Die Spanier waren verzweifelt. Allesamt zogen sie sich zurück, um den verrückten Mané mit seinen krummen Beinen aufzuhalten – allein, es war umsonst: Amarildo gelang nach einem Pass vom rechten Flügel her, das zweite Tor und damit der Sieg für Brasilien.
Heute gibt Nilton zu, dass er zwar in dieser Partie gegen Spanien weder ein Tor geschossen noch besonders gut gespielt habe, dass aber jenes Foul anstelle des Elfmeters die Partie gerettet habe. „Ohne diesen glücklichen Moment wären wir ausgeschieden, und heute nicht fünffacher sondern nur dreifacher Weltmeister – wie Deutschland und Italien“.
Nilton Santos hat während seiner gesamten Karriere als Fussballstar nur zwei unterschiedliche Trikots getragen: das des Botafogo-Clubs, welches er 17 Jahre lang verteidigte, in 716 Begegnungen – und das der Nationalelf, in der er 75 offizielle Partien spielte und drei Tore schoss. Als ein Romantiker machte er sich nicht viel aus Geld. „Ich glaube, dass ich immer ein Amateur geblieben bin. Einmal habe ich auf dem Höhepunkt meiner Karriere drei Blanco-Verträge unterschrieben“ sagt er. Aber er bereut nichts. „Alles würde ich noch mal genauso machen. Alles was ich habe, alles was ich bin, verdanke ich dem Botafogo-Club“.
Seine zweite grosse Liebe, vielleicht auch die grösste, gehört dem Ball. „Der ist mein ganzes Leben. Hat mir alles gegeben. Hat mich niemals betrogen und ist mir auch niemals in die Weichteile geflogen. Hat mir stets gehorcht. Mein Ball ist mein Leben“.
Nilton Santos trat in sein Carioca-Team erstmals 1948 ein und 1950 nahm er an seinem ersten World Cup teil – auf der Reservebank. „War traurig das Maracana-Stadion so still zu erleben. Ich hatte Lust fortzurennen“. Nach einem weiteren World Cup in der Schweiz 1954 („war ein allgemeines Schlamassel“) kam seine grosse Chance in Schweden 1958.
Am Vorabend des Endspiels gegen die Schweden erklärte er einigen Reportern, die wissen wollten, ob er in dieser Nacht ruhig schlafen könne: „Pelé, Garrincha und Didí spielen in unserem Team. Also werden die Schweden wahrscheinlich eine schlaflose Nacht verbringen und sich überlegen, wie sie Brasilien besiegen könnten. Ich für meinen Teil kann ruhig schlafen“. Und das Resultat des folgenden Tages kennt jeder Sportbegeisterte: 5:2 für Brasilien!
Eine andere kuriose Begebenheit aus dem Leben des Nilton Santos war sein Tor während der WM 1958: Brasilien gegen Österreich beim Stand 1:0. Anfang der zweiten Halbzeit – Nilton schnappte sich den Ball von einem Verteidiger und rückte mit ihm vor. „Zurück, Nilton“! schrie der Trainer Vicente Feola von seiner Bank aus übers Feld. Aber sein Linksaussen verminderte sein Tempo nicht im geringsten und dribbelte sich durch die Gegner. Schon war er über die Mitte hinaus, als wieder das „Zurück, Nilton“! an sein Ohr driftete. Er tat so, als ob er nichts gehört hätte und erreichte den österreichischen Strafraum. „Zurück, Nilton“! – die Stimme des brasilianischen Trainers überschlug sich – und Nilton riskierte einen meisterhaften Schuss von der Aussenlinie des Strafraums ins gegnerische Tor – 2:1 für Brasilien, das Publikum verfiel ins Delirium.
„Gut gemacht, Nilton“, murmelte Feola und sank erleichtert auf seine Trainerbank zurück. 1962 war ein goldenes Jahr für den Linksaussen. Er eroberte den zweiten Weltmeistertitel mit seiner Auswahlmannschaft in Chile und den zweiten Titel mit seinem Club Botafogo in einem historischen Endspiel gegen Flamengo, mit einer unvergesslichen Extra-Show seines Freundes Mané Garrincha. Im Jahr 1964 beendete er seine Fussballkarriere und verliess den Botafogo-Club im Alter von 39 Jahren.
Obwohl er aufgehört hat zu spielen, hat sich Nilton Santos doch nicht ganz vom Fussball zurückgezogen. 1998 arbeitete er an dem Projekt einer Fussballschule in Palmas, im Bundesstaat Tocantins, die sich vorwiegend Kindern ohne finanzielle Mittel widmet. Obwohl er immer erklärt hatte, dass er als Trainer nichts tauge– „das ist mir zu nervig“ – hat er sich breitschlagen lassen, das Team des Bonsucesso zu trainieren, einem kleinen, bescheidenen Club in der Vorstadt von Rio de Janeiro – nachdem er sich ohne grossen Erfolg beim Galícia und Vitória umgesehen hatte – beide Teams aus Bahia.
Nilton hat ein autobiographisches Buch heraus gebracht (1998), mit dem bezeichnenden Titel „Mein Ball, mein Leben“ (erschienen im Gryphus-Verlag). Als er bei einer bestimmten Gelegenheit einmal aufgefordert wurde, sich selbst zu definieren, sagte er: „Ich bin einer, der nur in einem einzigen Club Fussball gespielt hat. Habe meine Karriere mit vier intakten Meniskussen beendet, was beweist, dass ich meinen Körper stets gut auszubalancieren gewusst habe. Ich bin glücklich und habe ein gutes Gewissen. Wenn ich müde werde, schlafe ich innerhalb von fünf Minuten ein. Meine Religion ist, niemanden etwas Böses zuzufügen und dem Nächsten zu helfen, wenn ich kann“.
Nílton Santos – der älteste noch lebende Fußball-Weltmeister – ist am Mittwochnachmittag (27.11.2013) Ortszeit in einem Krankenhaus der Stiftung “Fundação Bela Lopes” in Rio de Janeiro gestorben. Nach Angaben der Behörden litt der 88-jährige an einer Lungenentzündung.