Geschmack

Zuletzt bearbeitet: 2. Januar 2013

Unter dem Begriff „Botêcos“ versteht man in Brasilien, besonders in Rio de Janeiro, jene kleinen, zur Strasse hin offenen Kneipen oder Snack–Bars, mit einem breiten Sortiment an Appetithäppchen, deren oft undurchsichtige Rezepte sich mit den Emigranten aus aller Herren Länder bei uns eingebürgert haben: chinesische Pasteten, arabische Kibes und Esfihas, italienische Pizzas und Lasanhas, amerikanische Hot–Dogs und Hamburgers, brasilianische Fleischspiesschen, die man „Churrasquinhos“ nennt, die aber von der Haute–Volée abfällig in die Rubrik „Dachhase“ eingestuft werden.

Alle diese Häppchen, bei denen dem einen oder andern, je nach Konstitution, durchaus auch der Appetit vergehen kann, werden in so einer Art Warmhalteschrank, hinter einer Glasscheibe, dem hungrigen Kunden präsentiert und ihm zum Verzehr – je nach Tradition des Etablissements – entweder mit einer Greifzange, per Einstich mit einer Gabel oder auch mal mit den blossen Fingern auf einem, vom heissen Wasserbad noch tropfenden Teller, gereicht.

Vielleicht noch etwas vielseitiger ist das trinkbare Angebot der Botêcos: vom Mineralwasser (mit oder ohne Gas) über tropische Fruchtsäfte, Bier–, Cola– und andere Soft–Drink–Marken sowie den stadtbekannten härteren Sachen – vor allem den beliebten nationalen Cachaças aus Zuckerrohr, unter denen sich besonders die Marke „Engels–Pipi“ der Gunst der Kenner erfreut. Damit stehen die Botêcos auf Platz Eins der meistbesuchten geschäftlichen Etablissements in Brasilien – jeder Brasilianer hält sich wenigstens einmal täglich am Tresen „seines Botêcos“ auf,  und sei es nur zu einem Schwatz mit Gleichgesinnten, bei einem Schoppen Bier oder einem quietschsüssen Cafezinho. Die Botêcos sind ein Stück Lebensqualität. Und an den Wochenenden werden sie oft zum beliebten Treffpunkt der Amateurmusiker aus der Nachbarschaft, die dort einen „Chorinho“ oder einen „Sambinha“ intonieren und damit eine geradezu ideale Promotion für die Kneipe inszenieren – denn, wie ich schon an anderer Stelle einmal bemerkte: der Musik kann kein Brasilianer widerstehen – und auch keine Brasilianerin. Und, dass die dann zu ihrem Vergnügen auch ordentlich konsumieren, versteht sich von selbst.

Dass es in diesen Botêcos nicht immer sauber, und in einigen Fällen sogar direkt unhygienisch zugeht, ist bekannt, stört aber die Kunden anscheinend nicht weiter – nach dem Motto: „was ich nicht weiss, macht mich nicht heiss“. Und es fällt einem aufmerksamen Beobachter auf, dass es gerade jene verrauchten Botêcos sind, deren Tresen stets mit demselben zerfledderten Putzlappen abgewischt, und deren Bodenfliessen vor zerknüllten Papierservietten, Flaschendeckeln und Fast–Food–Resten nur so strotzen – genau in denen finden sich die meisten Stammkunden ein, wie Ratten in einer Abfallgrube.

Sérgio hatte ein Hobby – eigentlich war es so eine Art Manie: er sammelte Botêcos. Nein, er frequentierte sie nicht nur, er war ein Gelehrter auf diesem Gebiet. Er war geradezu vernarrt, neue Botêcos zu entdecken und sie dann seinen Freunden zu empfehlen. In der letzten Zeit hatte er sich sogar spezialisiert – gewissermassen als Verfeinerung seiner Passion – nämlich auf, wie er sie nannte, „assoziale Botêcos“. Kaschemmen, die von keinem Beamten des Gesundheitsamts je belästigt werden, weil der schon am Eingang in Ohnmacht fallen würde.

Sérgios Gesicht hellte sich sichtbar auf, wenn er vor einem solchen neu entdeckten Objekt stand. Und er konnte dann der überraschenden Anziehung nicht widerstehen und ging hinein. Hinterher erzählte er seinen Freunden enthusiastisch:

„Ein Hammer, sage ich euch! Stellt euch nur vor: Eier, die in einer grossen Schüssel mit Wasser schwimmen! Der faule Geruch zieht die Fliegen in Scharen an – diese grossen, grünen! Himmel, was für Fliegen“!

Er beschrieb die Szene mit einem gewissen liebevollen Euphorie, der seinen Freunden die Haare zu Berge stehen liess und sie zu Ausdrücken des Abscheus und des Ekels veranlasste, welche er mit zunehmendem Entzücken zu geniessen schien. Sérgio hatte nur keine Geduld mit falscher Scham. Einige Botêcos versuchten ihren Dreck mit einer Erklärung fehlender Prinzipien zu kaschieren. Er zog die unbewusste Liderlichkeit vor, den authentischen Dreck sozusagen. Besonders die grossspurige, die pompöse Liderlichkeit.

Einmal erzählte er, wie in Ekstase, von einer Szene, die ihn besonders ergriffen hatte: Nachdem er eine undefinierbare Frikadelle aufgegessen, verlangte er einen Zahnstocher vom Botêco–Inhaber und löste damit eine lärmende Suche des schlecht gelaunten Mannes aus, der seine Frau anfuhr: „Mariana! Wo hast du den verdammten Zahnstocher hingelegt?“

Schliesslich fand er ihn – hinter seinem Ohr, und bot ihn Sérgio an. Und als der das dann erzählte, leuchteten seine Augen in der Nachwirkung einer Emotion, die nur seine engsten Freunde wirklich verstanden. Nur sie kannten seine Passion und achteten von nun an stets sehr aufmerksam auf alle „assozialen Botêcos“, deren sie gewahr wurden – Botêcos, die ihn vielleicht interessieren könnten. Aber leider kannte er die meisten schon.

Da war zum Beispiel eine Kneipe, mit einer Madonna auf einen der grossen Eingangsspiegel gemalt – auf ihrem linken Auge, gleichsam wie eine Augenklappe, prangte eine grosse zerquetschte Küchenschabe. „Der Cachaça dort ist so höllisch“, fügten seine Freunde hinzu, „dass auf dem Etikett extra Angaben für den behandelnden Arzt aufgedruckt sind!“ Sérgio versprach, sich die Kneipe anzusehen.

Und dann brachten sie ihm eines Tages die frohe Botschaft vom „schlimmsten aller Botêcos“ – nicht von einem der fünften Kategorie – sondern von einem der wirklich letzten Kategorie! Es rangierte sozusagen zwischen dem intelligenten und dem organischen Leben. Das wollte er sich sofort ansehen.

Noch am gleichen Tag ging er hin. Er studierte die Kneipe aus einer gewissen Entfernung, bevor er sich ihr näherte. Da gab es einen Jungen an der Hintertür. Seine Aufgabe war es offensichtlich, jenen fast kahlen, von der Krätze befallenen Strassenkötern aufzulauern. Und wenn dann so ein Köter vorbeikam, um mit schiefem Kopf sehnsüchtig den Küchendunst aus dem Botêco zu erschnüffeln – slack – gab ihm der Junge einen Tritt, und er flog durch die offene Tür direkt hinein in die Küche!

Sérgio überquerte die Strasse in Richtung auf die Kneipe mit jenem Glanz in seinen Augen, den man von Forschern kennt, die vor einer grossen Entdeckung stehen – oder von Heiligen vor ihrem süssen Martyrium.

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