Als 1850 die ersten Kolonisten die von dichtem atlantischem Regenwald bedeckte Region im Hinterland von Santa Catarina betraten und sich dort niederliessen, wollten sie dem Hunger und dem Elend der alten Heimat Deutschland entfliehen und sich dort im Süden Brasilien eine neue Existenz aufbauen. Unter der Leitung des Apothekers Hermann Blumenau gründeten sie ihr „Blumenau“ im Tal des Flusses Itajaí. Eine fatale Entscheidung, denn der Fluss sorgt seitdem regelmäßig mit seinem Hochwasser für Überschwemmungen und Zerstörung. Doch diese Fluten sind auch für das größte deutsche Volksfest auf dem amerikanischen Kontinent verantwortlich: dem Oktoberfest in Blumenau.
Jährlich strömen über eine halbe Million Menschen aus allen Teilen Brasiliens und zahlreichen anderen Ländern weltweit in die Kleinstadt, um auf dem extra dafür errichteten Veranstaltungsgelände „Parque Vila Germânica“ drei Wochen lang zu deutscher Volksmusik und Faßbier kräftig abzufeiern. Die südamerikanische Lebensfreude lässt dabei eine ganz besondere Stimmung aufkommen, die sich keinesfalls mit dem bekannten Pendant in München vergleichen lässt. Auch die teilweise selbstgeschneiderten Trachten und „Lederhosen“ aus Stoff dürften so manchen Wiesn-Fan die Augen rollen lassen. Selbiger kann sich seinen Schreck noch nicht einmal mit einer Maß Bier runterspülen, denn in den Pavillons gibt es prinzipiell erst einmal nur Gerstensaft in 400ml-Plastikbechern.
Eine verkehrte Welt dürfte man meinen, aber doch ein echtes Oktoberfest. Zumindest für die zahlreichen Fans in Brasilien, die sich einmal im Jahr so richtig Deutsch fühlen wollen. Für alle, die es noch werden wollen, haben wir ein kleines Oktoberfest-Dossier zusammengestellt. Neben einen Abstecher in die Geschichte berichten wir selbstverständlich über die zahlreichen Genüsse: Musik, Bier und andere Leckereien. Zudem lassen wir eine waschechte Königin zu Wort kommen und präsentieren nicht zuletzt zahlreiche Impressionen aus dem „Parque Vila Germânica“ und den Umzügen durch das Zentrum der Stadt. Doch zunächst eine kurze Zusammenfassung über alles Wichtige zum Oktoberfest in Blumenau.
Die Stadt Blumenau
Blumenau wurde wie bereits erwähnt 1850 unter Leitung des Apothekers Hermann Blumenau von deutschen Einwanderern gegründet. Noch heute ist vor allem das Zentrum von der Kolonisierung geprägt, nachempfundene Fachwerkhäuser sowie Geschäfte, Plätze und Straßen mit deutschen Namen erinnern daran, dass hier früher nur Deutsch gesprochen wurde. Und auch heute finden sich in der knapp 300.000 Einwohner umfassenden Stadt noch viele Menschen, welche die Sprache ihrer Vorfahren noch nicht vergessen haben. Leider wurde unter dem mit diktatorischen Vollmachten ausgestatteten brasilianischen Präsidenten Getúlio Vargas im laufe des zweiten Weltkriegs das Deutschsprechen verboten, auch viele Straßen wurden im Rahmen der Nationalisierungskampagne umbenannt.
Blumenau liegt nur etwa 50 km von der Küste des Atlantiks entfernt im Bundesstaat Santa Catarina. Geografisch befindet es sich im Tal des Itajaí zwischen Joinville im Norden und der Hauptstadt Florianópolis im Süden. Die Umgebung ist hügelig und fast vollständig mit dem atlantischen Regenwald bedeckt, im Tal fließt der Itajaí, der die bewohnbare Fläche sehr begrenzt und bei Hochwasser immer wieder weite Teile der Stadt überschwemmt. Neben dem Tourismus – forciert durch das seit 1983 stattfindende Oktoberfest – ist die Textil-Industrie einer der wichtigsten Wirtschaftszweige. Aber auch die Porzellanindustrie und das Finanzwesen haben der Stadt zu bescheidenden Wohlstand verholfen.
Der „Parque Vila Germânica“
Der „Park der germanischen Dorfes“ existiert offiziell eigentlich erst seit einem gewaltigen Umbau im Jahr 2006, wo das Veranstaltungsgelände seine großzügigen Hallen erhielt. Zuvor waren hier seit 1969 nur einzelne Gebäude vorhanden, die als Räume für unregelmäßig ausgerichtete Messen dienten. Daher belegte das erste Oktoberfest 1984 zunächst nur den alten und einzigen Pavillon A. Bereits ein Jahr später wurde dann bereits der Pavillon B hinzugezogen, mit zunehmenden Erfolg des Festes entfaltete sich das Fest in den 90er Jahren dann noch auf zwei weitere Hallen.
Erst nach der Jahrtausendwende kam dann schließlich der fünfte und letzte Pavillon hinzu. Ende 2005 wurden die Hallen im Rahmen eines großen Umbaus allerdings entweder abgerissen oder aufwendig modernisiert und zudem miteinander verbunden. Nun standen damit 3 Sektoren mit einer jeweiligen Fläche zwischen 5.000 und 7.200 Quadratmetern ganzjährig für Veranstaltungen zur Verfügung. Auch eine Geschäftsstraße mit kleinen Lädchen sowie ein Restaurant wurden in das Projekt integriert, nun war der „Parque Vila Germânica“ endlich geboren. Mit seiner bebauten Gesamtfläche von 26.000 Quadratmetern liegt er nur rund 2 Kilometer vom Stadtzentrum Blumenaus entfernt, so dass man nach einem der Oktoberfest-Umzüge bequem zum Gelände schlendern kann.
Regionales Bier und importierte Volksmusik
Doch für das beliebte Volksfest ist mehr erforderlich als ein großes Gelände mit klimatisierten Messehallen. Die wichtigsten Zutaten des Oktoberfestes sind Bier und Volksmusik und für beides ist das Spektakel weit über die Grenzen der Stadt hinaus berühmt. Die Brasilianer sind begeistert vom „Chopp“, wie das Faßbier im größten Land Südamerikas genannt wird und haben dabei die volle Auswahl. Neben einer großen Brauerei aus Brasilien bieten zahlreiche kleinere regionale Produzenten ihren leckeren Gerstensaft an. Die Marken haben dabei ebenfalls deutsche Tradition, wie sich bei Namen wie „Eisenbahn“, „Schornstein“, „Wunderbier“, „Das Bier“ oder „Bierland“ unschwer erkennen lässt. Zudem sind auch einige aus Deutschland importierte Marken – allerdings vornehmlich in Flaschen – erhältlich.
Die Musik dazu kommt von einer der zahlreichen Bühnen in den entsprechenden Sektoren und dem eigens errichteten „Biergarten“. Hier wechseln sich nicht nur regionale Bands mit deutschem Liedgut ab, auch extra aus Deutschland eingeflogene Gruppen spielen zum Vergnügen der Besucher Stimmungslieder oder traditionelle Weisen aus der alten Heimat. Die Veranstalter haben sich dafür ein spezielles Konzept ausgedacht: Flug, Unterkunft und Verpflegung werden übernommen, die Auftritte erfolgen dann ohne Bezahlung. Die mutige Rechnung geht auf, den Organisatoren liegen stets Anfragen für mehrere Jahre vor und nicht alle „Interessenten“ können berücksichtigt werden. Denn ein Auftritt in Brasilien macht sich für eine deutsche Gruppe nicht nur gut in der eigenen Agenda, ein paar Tage mehr oder minder kostenlosen Urlaub lassen sich mit dem Engagement in der Regel ebenfalls verknüpfen.
Farbenfrohe Umzüge und elegante Schönheiten
Beliebt bei jung und alt sind neben den Festivitäten im „Parque Vila Germânica“ auch die Umzüge im Zentrum der Stadt. Diese finden zeitgleich mit Oktoberfest statt und vereinen wohl am besten die brasilianische Lebensfreude mit den „germanischen Traditionen“. Über 100 Motivwagen, Kapellen und Gruppen – vom Schützenverein über Schulen bis hin zu lokalen Unternehmen – ziehen an sechs Tagen durch die Stadtmitte und machen Lust auf einen anschließenden Besuch auf dem Veranstaltungsgelände. Es wird gesungen und getanzt, selbst das Leben der ersten Kolonisten wird humorvoll auf speziell präparierten Wagen dargestellt. Auch die Akrobatik kommt nicht zu kurz und in manchem Jahr erleben die bis zu 20.000 Zuschauer am Wegesrand sogar eine Präsentation echter Alphörner. Sämtlichen Teilnehmern – ausnahmslos in Trachten gekleidet – ist der Applaus sicher und viele Mitwirkende geniessen auf der mehrere Kilometer langen Wegstrecke schon den ein oder anderen Krug Bier.
Mittendrin in der „Desfile“ findet man auch die offizielle Königin des Oktoberfestes und deren Prinzessinnen. In aufwendigen Kleidern steht das „Dreigestirn“ auf einem der Wagen und winkt der jubelnden Menge zu. Sie repräsentieren das Oktoberfest ein ganzes Jahr lang und reisen dafür auch unter anderem bis in die Millionenmetropole São Paulo, um Werbung für Blumenau zu machen. Die Anforderungen an die Hoheiten sind groß und ähnlich wie bei einer Miss-Wahl: alle Kandidatinnen, die sich am letzten Tag des Festes eines jeden Jahres zur Wahl stellen müssen mindestens 21 Jahre alt, unverheiratet und kinderlos sein sowie seit mindestens zwei Jahren in Blumenau leben. Sie haben zudem die Aufgabe, die Besucher beim Oktoberfest willkommen zu heißen. Ein „offenes, sympathisches Wesen“ ist damit Grundvoraussetzung für den Traum des Titelgewinns, der allerdings nach einem Jahr mit der Übergabe der Krone an die entsprechende Nachfolgerin sein Ende findet.