Eine Reihe von Episoden betreffs eines Verlustes der Selbstkontrolle bei der Fussball- Weltmeisterschaft 2010 verdeutlichen ein Gefühl, welches uns oft benachteiligt – uns andererseits aber auch motiviert, Hindernisse zu überwinden.
Oder wie man die Wut zum eigenen Vorteil nutzt
Der Fussball dient im Alltag nur allzu oft als beliebte Metapher – und bei der Fussball-Weltmeisterschaft, dem grössten Ereignis dieses Sports, fehlen natürlich auch entsprechende Lektionen nicht, die man auf den Alltag einer jeden Person übertragen könnte. Bei der WM in diesem Jahr besteht eine jener Lektionen aus der Bedeutung der Selbstkontrolle, um in Grenzsituationen Erfolg zu haben. Die WM von Südafrika könnte als „Stress-WM“ bezeichnet werden. Spieler streiten mit Spielern. Spieler streiten mit Trainern. Trainer streiten mit der Presse. Spieler streiten mit der Presse.
Cracks, die sich normalerweise unter Kontrolle haben, wie zum Beispiel Kaká, verloren ihr Phlegma und wurden ausgeschlossen – favorisierte Teams, wie zum Beispiel Frankreich, scheiterten auf unverständliche Art und Weise an internen Querelen.
Das spektakulärste Debakel lieferte Frankreich, bereits in der ersten Phase mit zwei Niederlagen ausgeschieden (0:2 gegen Mexiko und 1:2 gegen Südafrika) sowie ein Unentschieden (0:0 gegen Uruguay). Diese Resultate allein wären eigentlich schon eine Blamage, aber die Art und Weise wie sich das französische Team auflöste, war noch nie dagewesen. Sie kamen bereits beladen mit kontroversen Beurteilungen in Südafrika an: hatten sich mittels eines im Fussball verbotenen Tricks gegen Irland qualifiziert, indem der Torjäger Thierry Henry den Ball mit seiner Hand abgefangen hatte – sie enttäuschten die Publikumsmeinung indem sie eine 5-Sterne-Unterkunft wählten – und sie machten Schlagzeilen in den Sensationsblättern, als sich ein paar ihrer Spieler mit einer Minderjährigen einliessen.
Die Dinge verschlechterten sich zusehends während des kurzen Gastspiels der Franzosen in Südafrika. Die Spieler zergliederten sich in Grüppchen. Sie respektierten die Autorität ihres Trainers nicht mehr, des polemischen Raymond Domenech – bekannt dafür, dass er auch das Horoskop bei der Auswahl seiner Spieler berücksichtigt. Während der Halbzeitspause der Partie gegen Mexiko drehte sich der Stürmer Nicolas Anelka um und bedachte Domenech mit den folgenden, nicht übersetzbaren, Worten: “Va te faire enculer, sale fils de pute!”. Domenech nahm ihn aus seinem Team – Mexiko schoss zwei Tore und das Ambiente wurde unerträglich. Solidarisch mit Anelka weigerten sich die Spieler nach der Niederlage zu trainieren – ein paar drohten damit, zur folgenden Partie nicht mehr antreten zu wollen. Die Auseinandersetzung schlug ihre Wellen bis zur Regierungsspitze. Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy schickte die Sport-Ministerin nach Südafrika, um die Situation zu beruhigen (vergeblich) und beorderte Thierry Henry zu einer Audienz im Elysee-Palast, um aufzuklären, was hinter den Kulissen geschehen war. In der französischen Presse gab es Stimmen, welche die schimpfliche Niederlage mit der Kapitulation der deutschen Truppen im Zweiten Weltkrieg – vor nun 70 Jahren – verglichen.
Dies ist die Weltmeisterschaft des Streites. Der Spieler John Terry aus der englischen Mannschaft kritisierte seinen Trainer öffentlich, den Italiener Fabio Capello. Dann musste er sich entschuldigen, um eine Krise zu ersticken. Unzufrieden mit einem Artikel, gab der algerische Stürmer Rafik Saifi einer Reporterin seines Landes Asma Halimi, eine Ohrfeige, nachdem Algerien eliminiert worden war (die Reporterin schlug zurück mit einer Beschwerde bei der FIFA). Von einer Frage beschämt, verliess der slowakische Trainer Vladimir Weiss eine Pressekonferenz, nachdem er gerade eine Minute zuvor den Raum betreten hatte – und er ging sogar soweit, einem Reporter Prügel anzudrohen!
Die am meisten von den Brasilianern beachtete Diskussion auf dieser WM allerdings war das Tauziehen zwischen dem Trainer Dunga und der brasilianischen Presse. Schon seit seiner Ankunft in Südafrika verringerte der Trainer unserer Seleção in zunehmendem Masse den Zutritt der Journalisten zum Kreis seiner Spieler – indem er das Training abschottete und Anfragen nach Interviews absagte. Sagte, dass er die Ruhe brauche, welche die Seleção im Jahr 2006 nicht hatte – als sie als Favorit begann und im Viertelfinale von Frankreich eliminiert wurde. Dungas Haltung bekam einen bitteren Nachgeschmack durch ein Mikrofon, das ein paar gemurmelte Verwünschungen gegen den Journalisten Alex Escobar des GLOBO-Fernsehkanals auffing. Minuten zuvor hatte Dunga den Wunsch Escobars ausgeschlagen, ihm Gelegenheit zu einem Gespräch mit einigen seiner Spieler beim Verlassen des Spielfeldes zu geben – nach ihrem Sieg 3:1 über die Auswahl der Elfenbeinküste.
Vier Tage später „entschuldigte sich der Trainer gegenüber dem brasilianischen Publikum“ (man bemerke: nicht gegenüber dem Journalisten) wegen seinem Unmut. Diesen begründete er zwar nicht mit persönlichen Problemen, aber in der Antwort auf eine Frage nach der Gesundheit seines Vaters Edelceu (er ist 71 Jahre alt und leidet an Alzheimer), liess er doch durchblicken, dass dieses Familiendrama ihn belastet. „Für mich ist die WM nur eine weitere Gelegenheit, meinem Vater zu zeigen, was er mir alles beigebracht hat“. Er sprach langsam und pausiert, mit seinem Blick in weite Ferne gerichtet. „Ein Mann muss Tugenden besitzen, um ein Mann zu sein. Er muss eine Meinung haben. Muss Anpassungsfähigkeit besitzen und Ehre. Und er muss sich entschuldigen Können, wenn er falsch gehandelt hat“
Mehr als einmal hat Dunga vorgespielt, dass er Wut als Waffe einsetzt. „Die Gegnerschaft bringt einen dazu, zu wachsen“, sagt er. Ein freundschaftliches Klima zwischen dem Team und der Presse zu schaffen, scheint die Gruppe zu infizieren. Bei jeder neuen Pressekonferenz klingen die Spieler abweisender gegenüber den Journalisten. Felipe Mello und Júlio César gaben ironische Antworten. Sogar der normalerweise über solcher Polemik stehende Kaká änderte sein Verhalten – er klagte den Journalisten Juca Kfouri an, seine Religiosität nicht zu respektieren.
Ob Dungas Strategie richtig ist oder nicht, werden die nächsten Tage zeigen. Während der Partie gegen die Elfenbeinküste schien Kaká nervöser als gewöhnlich. Irritiert durch verschiedene gewalttätige Aktionen des Gegners wurde er vom Platz gestellt, nachdem er in den letzten Minuten zwei gelbe Karten erhalten hatte. Der Rausschmiss war ungerecht – Kaká war Opfer und nicht Urheber des Zwischenfalls, der ihm die zweite gelbe Karte einbrachte – aber seine irritierende Haltung konnte die Dinge nicht ins rechte Lot bringen. Dunga garantiert, dass er stets seine Spieler besonders zur Ruhe und Sachlichkeit ermahnt. „Etwas, das wir konstant seit der Ausscheidungsspiele zur WM wiederholen, ist: mit 11 (Spielern) anzufangen und mit 11 aufzuhören“!