Dorival Caymmi ist der „bahianischste“ unter den grossen Komponisten und Poeten der Brasilianischen Volksmusik (MPB) – er wurde am 30. April 1914 in Salvador (Bahia) geboren. Seine Vorfahren waren Italiener, die bahianisch gemischten Generationen begannen mit seinem Urgrossvater, der aus Italien eingewandert war, um bei der Reparatur des „Elevador Lacerda“ mitzuarbeiten, einem riesigen Aufzug zwischen Unter- und Oberstadt, dem historischen Wahrzeichen der Hauptstadt Bahias.
Seine musikalische Begabung zeigte sich bereits in kindlichem Alter, anstatt mit anderen Kindern zu spielen, verbrachte er seine Zeit damit, Familienmitgliedern beim Klavierspielen zuzuhören. Sein Vater betätigte sich, ausserhalb seiner Funktion als städtischer Beamter, als Amateurmusiker. Er spielte neben dem Piano auch Banjo und Gitarre. Die Mutter, ansonsten Hausfrau, sang gern dazu – allerdings nur zum Hausgebrauch. Und der kleine Dorival hörte ihnen zu, lauschte dem Phonographen – später dem Plattenspieler – fand Gefallen an der Musik und fühlte die Lust zu komponieren. Noch als junger Mann sang er im Chor der Kirche in ihrer Nachbarschaft, wo er sich bereits mit seiner schönen Baritonstimme Respekt verschaffte. Nach Abschluss seines ersten Jahres im Gymnasium – mit 13 Jahren – unterbricht er seine Schule um als Büroassistent bei der Zeitung „O IMPARCIAL“ Geld zu verdienen. Als diese Zeitung 1929 ihre Tore schliesst, verkauft er Getränke auf der Strasse an Einheimische und Touristen.
Um das Jahr 1930 herum begleitete er sich selbst auf der Gitarre, ohne dass er je Musik studiert hatte – und er schuf seinen sehr persönlichen Stil der Interpretation. In diesem Jahr schreibt er auch die erste seiner Kompositionen „No Sertão“. Im Alter von zwanzig Jahren gibt er sein Debüt als Sänger und Gitarrist in Programmen des „Rádio Clube da Bahia“. Im Jahr 1935 stellt man ihm ein eigenes Programm zur Verfügung: „Caymmi e Sua Canções Praieiras“ (Caymmi und seine Strandlieder). Und 1936, im Alter von 22 Jahren, gewinnt er einen Wettbewerb als Komponist des schönsten Karnevalsschlagers mit dem Samba „A Bahia também dá“ (etwa: „In Bahia geht das auch“). Als Preis bekommt er einen Lampenschirm aus rosa Seide.
Stimmuliert von Gilberto Martins, dem Direktor des „Rádio Clube da Bahia“, entschliesst er sich, sein Glück im Süden des Landes zu probieren. Im Jahr 1938, im Alter von 23 Jahren, besteigt Dorival einen „ITA“ (so bezeichnete man die Schiffe, welche damals zwischen Nord- und Südbrasilien die Küste entlang fuhren) in Richtung Rio de Janeiro, mit dem Ziel, ein Studium in Rechtswissenschaften zu belegen oder vielleicht eine Anstellung als Journalist zu ergattern, denn in diesem Beruf hatte er bereits in Bahia gearbeitet. Er kehrte ein in einer Pension, die einer gewissen Dona Julieta gehörte, dort befand er sich unter Studenten und Geschäftsleuten. Mit Hilfe von Familienangehörigen und Freunden gelang es ihm, Gelegenheitsarbeiten bei der Zeitung zu bekommen. Schliesslich bei der Tageszeitung „Diários Associados“ angestellt, fuhr er fort, in seiner Freizeit zu komponieren und zu singen. In dieser Zeit lernte er Samuel Wainer und Carlos Lacerda kennen.
Durch einen Freund wurde er bei der Illustrierten „Cruzeiro“ dem Direktor des Radiosenders Tupi vorgestellt – Besitzer war Assis Chateaubriand. Am 24. Juni 1938 – in der Nacht des „São-João-Festes“ – gab er sein Debüt im Radio mit zwei Songs, noch ohne festen Vertrag. Und nachdem er seine ersten Auftritte als Neuling mit Bravour absolviert hatte, durfte er zweimal unter der Woche auftreten, ausserdem im Sonntags-Programm „Dragão da Rua Larga“ – einem grossen Erfolg zur damaligen Zeit.
In einem dieser Programme stellte er seine neueste Komposition „O Que é Que a Baiana Tem?“ (Was hat die Bahianerin den andern voraus?) vor – komponiert im Jahr 1938 – mit der er die Aufmerksamkeit einer Filmgesellschaft erregte, die dann die Rechte an der Musik für ihren Star Carmen Miranda kaufte. Mit der Musik des jungen Komponisten, seinem ersten und allergrössten Erfolg, ersetzten sie dann „Tabuleiro da Baiana“ von Ary Barroso in ihrem Film „Banana da Terra“ – die Musik von Ary Barroso war abgelehnt worden wegen dem zu hohen Preis, den dieser Künstler, damals auf dem Höhepunkt seiner Karriere, für die Tantiemen verlangte. Caymmis Musik dagegen verhalf Carmen Miranda zu einem kometenhaften Aufstieg im Ausland und brachte den Komponisten selbst ins Gespräch bei der brasilianischen Elite.
Im September 1939 brachte Dorival Cayimmi „Rainha do Mar“ und „Promessa de Pescador“ heraus. Und ab November desselben Jahres, auf Einladung des Musikers Almirante, trat er in die Equipe des „Radio Nacional“ ein. Dort lernte er, in einem Programm für junge Talente, die junge Sängerin Stella Maris kennen, die damals 17 Jahre alt war – er heiratete sie im April 1940, und sie sind bis heute ein glückliches Paar.
Noch im Jahr 1939 wurde seine Komposition „O Mar“ in eine Show integriert, die von der First-Lady Darcy Vargas (die Frau des Präsidenten Getúlio Vargas) promoviert wurde. Von da an gewann Dorival immer mehr an künstlerischem Prestige. Er festigt sich als Autor von Kompositionen, deren Themen sich an den Traditionen seines Volkes orientieren, 1940 nimmt er „Samba da Minha Terra“ auf und im folgenden Jahr „A Jangada Voltou Só“. Gegen Ende des Jahres 1940 fängt er an, sich der Stilrichtung „Samba-Canção“ (Samba-Song) zu widmen, die von Noel Rosa bis Ary Barroso mit ihrer urbanen Thematik, voller Romantik und Intimität, stets ihr begeistertes Publikum hatte. Eine besonders versinnbildlichte Komposition aus dieser Phase ist „Marina“, aufgenommen 1947 mit der Stimme von Dick Farney.
Im Jahr 1943 macht Caymmi einen Zeichen- und Malkurs an der „Escola de Belas Artes“ in Rio de Janeiro und widmet sich anschliessend zwei Jahre lang ausschliesslich der Malerei. Aber es gibt nichts, was ihn endgültig von der Musik wegbringt. 1945 vertont er eine Hymne vom Schriftsteller Jorge Amado für die Kampagne des Kommunisten Luís Carlos Prestes als Senatorenanwärter. Der Text, Jahrzehnte lang geheim gehalten, wurde im Buch „Dorival Cayimmi , Das Meer und die Zeit“ von seiner Nichte Stella Caymmi zum ersten Mal publiziert. Der Refrain hörte sich folgendermassen an: „Lasst uns wählen / mit Prestes wählen / für die kommunistische Partei / lasst uns wählen“.
In den 50er Jahren wird Caymmi von den Köpfen des aufkommenden „Bossa Nova“ vereinnahmt. Seine Musik war eine der wichtigsten Grundlagen für diesen Stil, entwickelt von João Gilberto, der eine Reihe von Dorivals Kompositionen aufnahm, wie „Rosa Morena“ und „Saudade da Bahia“. Tom Jobim hob den modernen Charakter von Caymmis Kompositionen hervor. Und damit begann auch die grosse und lange Freundschaft der beiden, die sich auch auf ihrer beider Familien ausbreitete.
Im Jahr 1965 explodierte der Samba-Walzer „Das Rosas“ – ins Englische übersetzt von Ray Gilbert –in den Vereinigten Staaten, gesungen von Andy Williams. Dieser Erfolg brachte Dorival in die USA, wo er an Shows teilnahm, ein Fernsehprogramm bestritt und eine LP aufnahm – vier Monate verbrachte er in Los Angeles. 1968 bedankte sich die Regierung von Bahia für die internationale Promotion brasilianischer Kultur bei dem Künstler Dorival Caymmi: er bekam ein Haus in Salvador zum Geschenk. Er kehrte in seine Heimatstadt zurück, um dort eine Zeitlang zu verbringen – in dieser Zeit knüpfte er seine Bande zum „Candomblé“ (afrikanischer Spiritismus), er wurde zum „Obá“ (eine Art Minister) des „Terreiro Axé Opó Afonjá“ (spiritistischer Zirkel) ernannt.
1972 wird er mit dem „Ordem do Mérito do Estado da Bahia“ geehrt – dem höchsten Orden des Bundesstaates Bahia. Im selben Jahr bringt er eine LP heraus, die unter anderen auch die „Oração da Mãe Menininha“ enthält, zu Ehren der Menininha de Gantois, einer Hohepriesterin des „Candomblé“, die in Bahia grosse Berühmtheit erlangte – Caymmi komponierte das Lied anlässlich ihres fünfzigsten Jubiläums als „Mãe de Santo“ (Priesterin). Etwas später schuf er die „Modinha para a Gabriela“, die auf der Romanze „Gabriela wie Zimt und Nelken“ von Jorge Amado basiert. Das Lied, interpretiert von Gal Costa, wurde ein nationaler Hit.
Die 80er Jahre waren von einer Reihe von Ehrungen, in Brasilien und auch ausserhalb, geprägt. 1984 an seinem siebzigsten Geburtstag, wurde er in Paris vom französischen Kulturminister Jack Lang mit dem höchsten Preis für Kultur ausgezeichnet, den Frankreich zu vergeben hat, und im folgenden Jahr weihte man die „Avenida Dorival Caymmi“ in deiner Heimatstadt Salvador ein. 1986 präsentierte die Karnevals-Liga „Estação Primeira de Mangueira“ ihren „Enredo“ (Karnevalsthema) zu Ehren des Künstlers und wurde prompt damit Champion des Jahres 1986.
Das Werk Caymmis wird von den „Temas Praianos“ (Meer und Strand-Themen) bestimmt und vermittelt in seiner Musik die Schönheit seines Heimatlandes Bahia. Innerhalb einer Karriere von mehr als sechzig Jahren hat Dorival Caymmi zirka 20 Schallplatten herausgebracht, und seine Kompositionen wurden von fast allen grossen Interpreten der brasilianischen Volksmusik aufgenommen. Heute lebt er in Rio de Janeiro als Patriarch einer Familie grosser Interpreten, Komponisten und Instrumentalisten.
Naturverbundenheit
Dorival pflegte nackt in der „Lagoa do Abaeté“ (Lagune ausserhalb Salvadors) zu baden, zu einer Zeit, als dieses schöne Fleckchen lediglich von den Wäscherinnen der Stadt frequentiert wurde. „Als sie dann weg waren, nahmen meine Freunde und ich die Gelegenheit war, um uns nackt ins weiche Wasser zu stürzen. Wir rollten uns in Palmblätter ein und schlitterten damit die steilen Sanddünen hinunter. Natürlich gab es auch Zeitgenossen, denen unsere Unbeschwertheit nicht gefiel, aber die meisten wussten, dass unsere Nacktheit keinen provokativen Hintergrund hatte“ – erzählte der Komponist einst einem Reporter der Zeitung „Valor Econômico“.
Candomblé
Dorival näherte sich dem „Candomblé“ aus Neugier und beeinflusst von seinem Vater, der von Freunden einst zu Festen und religiösen Zeremonien eingeladen worden war. Im „Terreiro Axé Opó Afonjá“ gaben sie seinem Sohn den Titel „Obá Onicoií“ – wegen seiner besonderen Qualitäten, die denen ihres verehrten Orixás Xangô glichen: Ehrenhaftigkeit, moralische Prinzipien, Energie, Liebe zur Kultur, Weisheit und Gerechtigkeit.
Jorge Amado und Caribé
Anlässlich des Karnevals von 1939, eingeladen von seiner Freundin Carmen Miranda, begab sich Dorival auf den Ball des Flamengo-Clubs in Rio de Janeiro, wo er den Maler Caribé kennen lernte, dessen enger Freund er wurde. Im gleichen Jahr, während eines Spaziergangs auf der Avenida Rio Branco (Hauptgeschäftstrasse von Rio) begegnete er vor dem „Teatro Municipal“ ganz zufällig dem Schriftsteller Jorge Amado, der ihm von einem gemeinsamen Freund als sein „‚conterrâneos“ (Landsmann) vorgestellt wurde. Dorival hatte schon lange Zeit vorher von Jorge Amado gehört – die bahianischen Studenten kommentierten die ersten Bücher des Schriftstellers und ihren „antidiktatorischen Inhalt“. Bald verband sie eine innige Freundschaft, die sich durch das Exil Jorge Amados während der Ära Vargas eher noch vertiefte. Während eines Besuchs und einer „Feijoada“ (brasilianisches Bohnen-Nationalgericht) im Haus von Jorge Amados Eltern entstand das Lied “ É Doce Morrer no Mar“ (Es ist süss im Meer zu sterben) und zwar aus einem Spiel heraus: Dorival bat alle Anwesenden, einen Vers zum Thema „Es ist süss im Meer zu sterben“ – dem Lieblingsspruch des Guma, Jorge Amados Helden aus seinem Buch „Mar Morto“ (Totes Meer) zu improvisieren. Und andere Kompositionen entstanden später aus der Verbindung der beiden Freunde, wie „Modinha de Gabriela“ – „Beijos pela Noite“ – „Modinha para Teresa Batista“ – „Retirantes“ – „Essa Nega Fulô“ unter anderen.
Carmen Miranda
Der Komponist und Unternehmer Aloísio de Oliveira, gestorben 1995, erzählte aus dem Jahr 1938, dass seine damalige Geliebte Carmen Miranda daran dachte, ihr Leben zu verändern, die Musik an den Nagel zu hängen, um sich zu verheiraten – aber, sie hatte noch einen Film zu machen, dessen Vertrag sie bereits unterschrieben hatte. Die Musik zu diesem Film sollte jener bereits erwähnte Titel „No Tabuleiro da Baiana“ von Ary Barroso werden, der, auf dem Höhepunkt seiner Karriere, einen Preis für die Komposition verlangte, der die Toleranz und auch das Budget der Filmgesellschaft überstieg. Die Produktion lehnte ab. Braguinha, der mit der Produktion zutun hatte, erinnerte sich eines jungen Musikers, jüngst aus Bahia angereist, talentiert und Autor einer Komposition, die sich in dem Film gut machen würde, wie er meinte. Er liess den jungen Dorival rufen, und der wurde noch in derselben Nacht für die Filmmusik engagiert – im Haus von Carmen Miranda. Die Sympathie und Affinität zwischen den Beiden sprang im selben Moment über, in dem sie sich kennen lernten. Caymmi sang für Carmen sein „O Que a Baiana Tem?“ – sie war überwältigt und schuf, direkt aus dem Text heraus, die Figur mit der typischen Tracht und dem mit tropischen Früchten beladenen Hut, der sie später auf allen internationalen Bühnen so berühmt machte. Es war dieses Lied, welches den Film „Banana da Terra“ unsterblich machte, der Carmen Miranda einen explosiven Karrierestart in den Vereinigten Staaten bescherte und Dorival Caymmi an die Spitze der Brasilianischen Volksmusik (MPB) katapultierte.
Dorival Caymmi verstarb am 16. August 2008 im Alter von 94 Jahren in Rio de Janeiro an Nierenkrebs.
Diskographie Dorival Caymmi
- CAYMMI, SOM, IMAGEM, MAGIA (1985)
- SETENTA ANOS (1984)
- CAYMMI TAMBÉM É DE RANCHO (1973)
- CAYMMI (1972)
- VINICIUS E CAYMMI NO ZUM ZUM (1967)
- CAYMMI (1965)