Urutau – der Gespenstervogel

Zuletzt bearbeitet: 6. Februar 2022

Sein Name stammt aus der indigenen Guarani-Sprache – aus einer Zusammensetzung von “Guyra“ = Vogel und “Tau“ = Gespenst – daraus wurde im Volksmund “Urutau“, der Name eines der sagenumwobensten Vögel in der Sertanejo-Kultur (Kultur des Interiors) und eigenartigerweise dem grössten Teil der Stadtbevölkerung kaum bekannt.

Urutau – Foto: sabiá brasilinfo

Als Sinnbild und Mysterium erscheint der Urutau (Nyctibius griseus) in zahlreichen Legenden, Erzählungen, Poesien und in der Vorstellungswelt der ländlichen Bevölkerung – manchmal aber auch in den grossen Städten, wo seine unverhoffte Gegenwart von der Presse verbreitet wird. Aber er ist vor allem ein Unbekannter, von dem man eher durch seine Legenden etwas weiss als von der Erscheinung des Vogels selbst.

Und die Menschen, die ihn tatsächlich schon mal gesehen oder seinen klagenden, nächtlichen Ruf vernommen haben, sind fast ebenso selten. Und noch seltener sind jene, die um seine fremdartigen Gewohnheiten wissen, welche nur in wissenschaftlichen Abhandlungen beschrieben werden, zu denen das Laienpublikum kaum Zugang hat. Und genau deshalb haben wir uns vorgenommen, den Gästen des BrasilienPortals diesen faszinierenden Nachtvogel vorzustellen.

Schon im 16. Jahrhundert wurde dieser Vogel vom Pater Francisco Soares in seinem Klassiker “Coisas notáveis do Brasil“ (Bemerkenswerte Sachen aus Brasilien), aus dem Jahr 1594, erwähnt. Und er erscheint in verschiedenen anderen Chroniken und Werken, die später über Brasilien und die Nachbarländer geschrieben wurden. Eine davon ist “Libri Picturati“, eine Serie von Ikonografien aus der Mauritianischen Periode, und eine andere ist die “Historiae Rerum Naturalium Brasiliae“ von George Marcgrave (1648), in der der “Urutau“ als “Ibijau“ bezeichnet wird.

Seither erscheint er stets verbunden mit der eingeborenen Folklore und, besonders häufig, in der Volksmusik:
“Ich wollte mal wissen ob jene Leute
auch soviel Liebe spüren
wie ich es tat –
als ich dich erblickte in Cariri
überquerte ich einen Bach im Tal
und hörte dort im Wald
den traurigen Ruf des Urutau.
Schöne Frau, böser Geist,
ich bin traurig wie der Urutau”.

Die Urutaus

urutauMan muss eigentlich von ihnen im Plural sprechen, denn es existieren sieben Vertreter seiner Spezies: Allein in Brasilien gibt es fünf verschiedene Arten, alle gehören der Familie Nyctibiidae an, einer Gattung, die nur in den wärmeren Regionen des amerikanischen Kontinents heimisch ist. Alle Arten sind exklusiv nachtaktiv, besitzen einen breiten, abgeflachten Kopf, Schnabel und Beine sind kurz und die Augen verhältnismässig sehr gross.

Flügel und Schwanz sind recht gross, der Körper ist robust und muskulös. Die Färbung des Gefieders in grauen und braunen Tönungen, unregelmässig unterbrochen von schwarzen, hellgrauen und dunkelbraunen Flecken und Streifen in unterschiedlicher Grösse und Form, stellt eine so perfekte Tarnung des Vogels dar, dass ihn nur ein geübtes Auge entdeckt, wenn er tagsüber in Schlafstellung mit seinem Ruheplatz “verschmilzt“. Urutaus fallen ganz allgemein aus den Verhaltensmustern heraus, mit denen wir gewöhnt sind, die verschiedenen Vogelarten zu betrachten. Vielleicht ist es auch eine Frage der Ästhetik:

Denn sie werden aus unserer Sicht in der Regel als hässlich bezeichnet, besonders wegen ihrer grossen, scheinbar bedrohlichen Augen, die nahe am Schlund positioniert sind – kolossal disproportional zum Schnabel. Andererseits sind sie gerade durch ihre ungewöhnliche Erscheinung, und ihr noch ungewöhnlicheres Verhalten, besonders schön – die Outsider der Vogelwelt und mit unseren Vorstellungen von Schönheit kaum als solche zu empfinden.

Unter den brasilianischen Spezies ist Nyctibius griseus der häufigste. Er kommt sowohl im dichten Regenwald als auch an den Waldrändern, kleineren Gehölzen und sogar auf einzeln stehenden Bäumen in Parkanlagen der Grossstädte vor. Im Vergleich zu den anderen Individuen seiner Gattung ist dieser Urutau von mittlerer Grösse – zirka 40 Zentimeter. Und er wiegt zwischen 150 und 190 Gramm. Verbreitet ist er von Costa Rica, in Zentralamerika, bis fast über ganz Südamerika, mit Ausnahme der kühleren Zonen im patagonischen Andengebiet.

Die anderen Arten sind weniger bekannt und noch rätselhafter. Unter ihnen hebt sich besonders der riesige “Mãe-da-lua-gigante“ (Nyctibius grandis) – der im Volksmund “Mutter des Mondes“, nach einer Legende, genannt wird. Der Vogel hat eine Rumpflänge von fast einem halben Meter, und die Spannweite seiner Flügel erreicht das Doppelte, sein Gewicht geht über ein halbes Kilogramm hinaus. Dieser Nachtvogel ist von Nordamerika über Mexiko und Mittelamerika bis zu den subtropischen grenzen Südamerikas (Staaten Rio de Janeiro und São Paulo) verbreitet, er ist häufig in Amazonien und in Zentralbrasilien. Fast dieselbe Grösse erreicht der “Mãe-da-lua-parda“ (Nyctibius aethereus) – die graue Version der “Mutter des Mondes“ – er ist weit verbreitet in Südamerika und gilt als selten, denn er wurde von Wissenschaftlern nur selten beobachtet.

Eine kleinere Art ist der “Urutau-de-asa-branca“ (Nyctibius leucopterus) – der Urutau mit den weissen Flügeln – wie der Name schon sagt, präsentiert er einen weissen Fleck an der Flügelbasis, den man deutlich sieht, wenn der Vogel abfliegt. Er lebt in den Wäldern Amazoniens, und man findet ihn auch in der brasilianischen Nordostregion und in einigen Grenzgebieten der Nachbarstaaten. Schliesslich gibt es noch den “Urutau-ferrugem“ (Nyctibius bracteatus) – den rostfarbenen Urutau – der so, wie die zuletzt genannte Spezies, wenig bekannt ist, sich von diesem aber durch seinen noch kleineren Körper (zirka 25 cm) und sein rostrotes Gefieder mit weisser Punktierung unterscheidet. Auch er ist in Amazonien verbreitet – inklusive seiner benachbarten Teile von Guyana, Kolumbien, Ekuador und Peru.

Je nach Region, in der die Mitglieder dieser kuriosen Vogelart vorkommen, haben sie unterschiedliche Namen. In Brasilien steht die Bezeichnung “Urutau“ als Synonym für: “Mãe-da-lua, Manda-lua, Ibijaú, Chora-lua, Preguiça, Jurutauí, Urutágua, Urutago, Urutauí, Urutavi“ und “Cacuí“. In anderen Ländern seiner Verbreitung ist die Skala seiner Bezeichnungen fast ebenso reichhaltig: “Urutaú“ (Argentinien), “Guajojó“, “Uruta“ (Bolivien), “Urutau, Guaimingüe, Judío“ (Paraguay). In Englisch ist seine genetische Bezeichnung “Potoo“ und in Deutsch bezeichnet man ihn treffend als “Tagschläfer“.

Nyctibius griseus
Common Potoo
Common Potoo
Urutau
Ein Tagschläfer verschläft in Kolumbien den Tag
Urutautagschläfer
Urutautagschläfer
Urutautagschläfer
Urutautagschläfer
Urutautagschläfer
Urutautagschläfer
Nyctibius griseus
Common Potoo
Common Potoo
Nyctibius griseus
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Eigenschaften

Die “Tagschläfer” sind exklusive Insektenfresser. Sie haben eine Vorliebe für grosse Wirbellose, die den Energieverbrauch bei ihrer Verfolgung kompensieren. Durch sein ruhiges, beobachtendes Verhalten gelingt dem Vogel der Fang grosser Käfer, Nachtfalter und anderen Insekten, indem er sich in rasantem Flug auf sie stürzt und sie auf Ästen oder Blättern erwischt. In der Regel zieht er es vor, sie im Flug zu erhaschen, wo er sie dank seinem überproportional grossen Schlund einfängt. Die Vögel sind Baumbewohner und kommen selten auf den Boden. Tagsüber lassen sich im allgemeinen auf der Spitze von toten Baumstümpfen zur Ruhe nieder, wo sie durch ihre Tarnbefiederung aussehen wie eine Verlängerung derselben, nachts sitzen sie auf dickeren Ästen zur Beobachtung ihres Reviers. Sie lassen sich auch gern auf abgestorbenen Palmwedeln und Holzpfosten von Weidezäunen nieder.

So wie viele andere Organismen vollkommen unbemerkt von unseren Blicken mitten in der Grossstadt existieren, kann man auch den Urutau durchaus im Zentrum der Metropolen finden. So wie im Wald, vertraut er auf seine perfekte Tarnung und sitzt unbeweglich auf den Bäumen der Grünanlagen und Parks. Dort wird er selten entdeckt, höchstens wenn er bei Nachteinbruch abfliegt, um die grossen Insekten zu jagen. Dann öffnet er seine Flügel und startet zu einem lautlosen Zick-zack-Flug zwischen den Bäumen und Lichtposten, wobei ihm sein langer Schwanz steuern hilft. Auch im Wald verhält er sich so und gleicht eher einem grauen Gespenst im lautlosen Flug, denn einem Vogel.

Diese Vögel bauen kein Nest. Zur Fortpflanzung legt das Weibchen ein einziges Ei in eine Gabelung zweier dicker Äste, in grosser Höhe über dem Boden, oder in eine natürliche Vertiefung ihres nächtlichen Beobachtungsplatzes. Das Ei ist weisslich, mit kleinen grauen bis violetten und dunkelbraunen Tupfen, es hat eine Grösse von 4,0 x 2,5 Zentimetern. Beide Eltern wechseln sich ab in der Bebrütung, indem sie in erstarrter Haltung auf dem Ei sitzen. Es dauert zirka einen Monat bis der Jungvogel schlüpft, er ist ganz bedeckt von einem weichen, weissen Federkleid, das ein paar dunklere Flecken aufweist. Gleich nach seiner Geburt lernt der kleine Urutau, dass die Tarnfärbung seines Körpers zu seinem Schutz nicht ausreicht – die Unbeweglichkeit ist ein wichtiger Teil der Kunst, sich zu verbergen. Und so verkrallt er sich fest in den Ast, auf dem er sitzt, rührt sich nur selten, und hat sich nun scheinbar in einen dürren Ast verwandelt, so perfekt ist seine Tarnung.

Mit der Zeit färbt sich das Gefieder des Jungvogels zunehmend dunkler, und die Flügel- und Schwanzfedern entwickeln sich vollständig innerhalb von fünfzig Tagen. In diesem Fall handelt es sich um eine der längsten Perioden zwischen der Eiablage und dem Verlassen des Nestes im Vergleich mit anderen Vögeln Südamerikas, und das kann man als Beweis für die Effizienz seiner Tarnung betrachten.

Schnabel und Maul

Ein interessanter Aspekt, wenn man von den Urutaus oder Tagschläfern spricht, ist das Grössenverhältnis zwischen Maul und Schnabel, die normalerweise bei anderen Vogelarten als Synonyme betrachtet werden, sich aber bei diesen Vögeln wesentlich unterscheiden. Der Schnabel eines Urutau ist, so wie bei anderen Vögeln, ein verhornter Fortsatz, der den Kieferknochen einschliesst. Bei den Urutaus ist dieser jedoch extrem disproportional zu der Grösse des Mauls – ein kleiner Schnabel und ein übergrosses Maul, das an das Maul eines Frosches erinnert. Beim “Mãe-da-lua-gigante (Nyctibius grandis) zum Beispiel, ist der Schnabel nur zwei bis höchstens drei Zentimeter lang, während sein offenes Maul die Faust eines Mannes aufnehmen kann, also einen Durchmesser von acht bis zehn Zentimetern hat.

So ein buchstäblich grosses Maul ist ganz besonders praktisch für diese Vögel, die sich von grossen Insekten ernähren, die sie im Flug erhaschen. Jedoch hat das grosse Maul noch andere Vorteile: Wenn der Vogel lebend gefangen wird, benutzt er sein Maul zur Verteidigung. Obwohl er nur einen schwachen Schnabel besitzt, mit dem er nicht einmal in der Lage wäre, einem grösseren Tier eine Verletzung beizubringen, kann der drohend aufgerissene grosse Schlund eines Urutau seinem Feind einen grossen Schrecken einjagen, sodass er ihn loslässt.

Ausserdem scheint das Maul des Vogels eine Rolle bei seiner internen Temperaturkontrolle zu spielen: “Die Haut um das Maul ist mit zahlreichen Kanülen versehen und dient der Thermoregulierung, wenn der Vogel sich unter direkter Sonneneinstrahlung auf seinem Ruheplatz während des Tages befindet, was häufig der Fall ist. Dann hechelt der Vogel durch seinen leicht geöffneten Schnabel und entlädt damit die überschüssige Wärme durch die grosse Oberfläche des vaskulären Systems seines Schlundes“, erklärt Helmut Sick (1997).

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AutorIn: Klaus D. Günther · Bildquelle: Klaus D. Günther

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