Schwer liegt die Schwüle über dieser Stadt namens Boa Vista, die, irgendwie vor ein paar Jahrzehnten aus dem Boden gestampft, als einzige auf der Karte nicht wie ein benannter Fliegenschiss daherkommt. 300.000 Menschen sollen hier leben, fast zwei Drittel der Bevölkerung des gesamten Bundesstaates Roraima. Sie ist die selbsternannte Metropole am Rio Branco und seit der brasilianischen Verfassung von 1988 die einzige Hauptstadt eines Bundesstaates, welche vollständig jenseits des Äquators liegt.
Doch von der nördlichen Hemisphäre ist hier wenig zu spüren. Tropisches Klima bestimmt das Leben das ganze Jahr über, alleinig Regen- und Trockenzeit sollen ein wenig Abwechslung bringen. Dies behaupten zumindest die Menschen hier im äußersten und scheinbar vom Rest des Landes scheinbar völlig vergessenen Norden Brasiliens. Selbst der Wind scheint einen Bogen um die nach französischem Vorbild geplante Stadt zu machen und es bleibt beim Wetterleuchten in pechschwarzen Wolken am Horizont. Der Staub auf den versandeten Straßen wird wohl so schnell nicht weggespült werden.
So subjektiv die ersten Eindrücke von Boa Vista erscheinen, so sollen sie auch geschildert werden. „Schöne Aussicht“ verspricht die Übersetzung des Ortsnamens, doch die Realität wird dieser 1890 erdachten Benennung keineswegs gerecht. Und es scheint auch so, als sollte sich dies in näherer Zukunft nicht ändern. Man muss jedoch gerechterweise erwähnen, dass es damals um die die „schöne Aussicht“ auf das vorbeifließende Gewässer „Rio Branco“ ging. Eine „Boa Vista do Rio Branco“ gibt es zwar ansatzweise, doch der Blick von der mit großem Aufwand errichteten und heute mehr oder minder verwaisten Fluss-Promenade reicht beileibe nicht aus, um einen Besucher in Erstaunen zu versetzen.
Dies hingegen hat jedoch die Stadtverwaltung in den vergangenen Jahren durchaus geschafft. Allerdings nur im negativen Sinne. Zentrale Plätze, wo einst das Leben in den stets warmen Nächten pulsierte, sind heute ausgestorben. Nur Tauben bevölkern noch die großzügig geplanten Anlagen, sie sitzen auf den Rändern der Springbrunnen, wo schon lange keine Fontänen mehr in den Himmel steigen und beobachten sich dabei im dunkelgrünen, stinkenden und mit Müll versetzten Brackwasser. Der im offiziellen Touristen-Guide angepriesene Millenniums-Platz hinter dem Gouverneurspalast ist so ein Ort zum Abgewöhnen. Schöne Aussicht? Fehlanzeige!
„Ja, früher war es schön hier. Doch der Bürgermeister hat alles verkommen lassen“ klagt Rosalie, die nur wenige Meter einen keinen Andenkenladen betreibt. Sie ist mit vier anderen Souvenir-Shops in einem recht netten Pavillon untergebracht, doch die T-Shirts, der Indianerschmuck oder allerlei anderer Nippes mit der Aufschrift der Stadt oder des Bundesstaates warten vergeblich auf Kundschaft. Hierher verirrt sich kein Tourist, nur die Einheimischen kommen vorbei um am im Vorraum installierten Bankautomaten mit Reais einzudecken, die sie dort jedoch nicht ausgeben.
Der Verkauf von Andenken sei faktisch nur ein Hobby erklärt Rosalie, leben könne man davon natürlich nicht. Das sei aber nicht nur bei ihr so, auch auf der anderen Seite der Stadt am Rio Branco kämen keine Touristen hin. Und damit bestätigt sie das, was schon die Leiterin der lokalen „Kunsthandwerkvereinigung“ artikulierte. Der Tourismus in Boa Vista sei nahezu zum Erliegen gekommen, nur ein paar Besucher von außerhalb würden den internationalen Flughafen als Sprungbrett für eine Reise ins nur knapp 200 Kilometer entfernte Venezuela und dort vornehmlich für eine Tour auf den „Monte Roraima“ nutzen.
Davon profitieren jedoch kaum lokale Händler und Dienstleister, den Hotelsektor und die Tourveranstalter einmal ausgenommen. Letztere müssen sich sogar mit dem bisschen arrangieren, was touristisch in Boa Vista noch vorhanden ist. Bestes Beispiel ist eine Sonnenuntergangs-Tour auf dem „Rio Branco“. Einen halbwegs vernünftigen Kahn gibt es noch, und der muss an einem privat angemieteten Ufer anlegen, da die städtische Anlegestelle längst außer Betrieb genommen wurde. Das ist das Reich von Ailson, der seit 20 Jahren mit seinem Ausflugsboot den Fluss entlangschippert und dabei versucht, den wenigen Besuchern die Schönheit seiner Heimat in der Abenddämmerung zu vermitteln.
„Ich bin der einzige, den es derzeit gibt“ erklärt er sein fremdverschuldetes Monopol, während er eine zehnköpfige Gruppe aus São Paulo in Richtung untergehende Sonne steuert. Es gäbe noch ein zweites Boot, doch das müsse erst noch renoviert werden. Ob es dafür jedoch genug Fahrgäste geben dürfte, darf bezweifelt werden. Er selbst kann derzeit pro Woche nur zwei- bis dreimal für die knapp 90-minütige Tour herausfahren, an den anderen Tagen fehlt schlichtweg die Kundschaft. Bis auf ein paar lokale Fischer gibt es auf dem Fluss, der irgendwo weit im Süden in den Rio Negro mündet und damit ein indirekter Zufluss des mächtigen Amazonas ist, somit kaum Bewegung. Denn auf dem Weg nach Manaus gibt es zudem zahlreiche Stromschnellen, die sowohl die Personen- als auch die Güterschifffahrt unmöglich machen. Damit bleibt in Boa Vista der fluviale Tourismus ein lokales und scheinbar auch dem Untergang geweihtes Phänomen.
Dass Roraima im internationalen Tourismus oft vergessen wird, dürfte verschiedenen Faktoren geschuldet sein. Der Bundesstaat selbst hat kein eigenes Ministerium dafür, vielmehr kümmert sich eine Unterabteilung des Planungsministeriums mehr oder minder engagiert darum. Dementsprechend gering sind auch die Mittel, die für die wichtigen Messen und die Öffentlichkeitsarbeit zur Verfügung gestellt werden, um die Region als Reisedestination zu propagieren. Und wer sich nicht positiv und vor allem kontinuierlich ins Rampenlicht stellen kann, der wird schnell vergessen.
Andererseits liegt auf Roraima noch immer ein dunkler Schatten in Sachen Indianerpolitik. Noch heute rühmt sich der Bundesstaat für seine Pionier- und Kolonisierungsleistung durch die „Garimpeiros“, die Goldsucher. Ein riesiges Monument vor dem Gouverneurspalast im Zentrum der Stadt würdigt diesen Menschenschlag, der über Jahrzehnte so viel Leid über die Bevölkerung gebracht hat. Zahllose Indios starben durch eingeschleppte Krankheiten und Umweltzerstörung, wurden ihres Lebensraums beraubt oder kamen im Kampf um territoriale Streitigkeiten um. Der Kampf um die bereits vor Jahren ausgerufenen Schutzzonen dauert bis heute an.
Es scheint so, als habe der „weiße Mann“ in all den Jahren kaum etwas dazu gelernt. Die besagte Goldsucher-Statue ist ein offener Schlag ins Gesicht all der Indigenen, die verzweifelt auch weiterhin um ihre Rechte in der scheinbar rechtsfreien Welt des brasilianischen Nordens kämpfen. Und da beruhigt es auch keineswegs die Gemüter der verantwortungsbewussten Touristen, dass man nun versucht, durch zaghaften „Ethnotourismus“ oder dem bereits beschriebenen Andenkenverkauf die inzwischen arg dezimierten Volksgruppen ins moderne Leben mit einzubeziehen.
Und so lahmt der Versuch der Menschen am Rio Branco auch weiterhin, sich an das moderne Brasilien anzuschließen. Zu weit ist die Region zwischen amazonischen Regenwald und faszinierender Savannenlandschaft von dem wahren Brasilien entfernt. Die benötigte Elektrizität in Boa Vista kommt bereits seit über einem Jahrzehnt aus Venezuela. Und auch fast alles andere muss aufwändig aus anderen Bundesstaaten importiert werden. Nur eines hat sich inzwischen gebessert: Viele Dinge, die früher über den teuren Luftweg in den Norden geschafft wurden, rollen nun ganzjährig auf schweren LKWs durch den Urwald. Möglich wurde dies durch die erst vor wenigen Jahren fertiggestellte Bundesstrasse BR-174, die von der Amazonasmetropole Manaus über Boa Vista bis an die venezolanische Grenze führt.