Unsere Nachbarn behaupten, er habe das alles nur gemacht, um seine Frau zu ärgern. Andere meinen, es sei die Folge einer Alterssklerose gewesen. Tatsache ist, das Dr. Felisberto sich seit seiner Kindheit niemals mit der Gattung Mensch zu identifizieren verstand – genauso wenig wie mit einem Vogel oder gar einem Reptil.
Er bekam, zum Beispiel, jedes Mal ein unangenehmes Gefühl, wenn er ein Maul voller Zähne sah – seien sie von einem Hund, von seiner ersten Liebe oder den Kindern, welche er mit ihr hatte. Er selbst trug sich mit dem Verdacht einer homosexuellen Neigung, aber ein paar Therapie–Sitzungen, denen er sich freiwillig unterwarf, bewiesen eindeutig, dass dies nicht der Fall war. Sein Therapeut entwickelte ein brennendes Interesse an dieser so ungewöhnlichen Krise und hielt an seiner Meinung fest, dass die Anomalie seines Patienten – jawohl – einer sexuellen Frustration zuzuschreiben sei. Deshalb bombardierte er ihn mit zweideutigen Fragen, auf die er aber nur sehr einsilbige Antworten erhielt – einerseits Dr. Felisbertos guter Erziehung wegen und andererseits, weil dieser ihn dafür bezahlte!
Schliesslich bediente sich Dr. Felisberto seiner eigenen didaktischen Fähigkeiten, die ihm als Advokat zur Verfügung standen, trennte die Fakten von den Spekulationen und konstatierte, dass er offensichtlich an einem Fremdkörper–Syndrom litt. In seinem inneren Wesen, so erklärte er dem verdutzten Therapeuten kurz angebunden, fühle er sich eben nicht menschlich – er befinde sich im falschen Körper, denn er gehöre dem Pflanzenreich an, und als Pflanze habe er dazu auch nichts weiter zu sagen. Verabschiedete sich und bemerkte noch zu seinem kopfschüttelnden Psychiater, dass er sich seit langer Zeit nicht mehr so wohl gefühlt habe, jetzt, wo er sich dazu bekannt hatte. Ging dann nach Hause und begann einen Garten anzulegen. Gartenarbeit, dazu fühlte er sich berufen – und wenn er unter seinen nackten Füssen die kühle Erde spürte, stand er oft stundenlang regungslos als wollte er Wurzeln schlagen.
Zu jener Zeit waren seine Kinder noch klein und zertrampelten ab und zu seinen geliebten Rasen, was ihm jedes Mal furchtbare Schmerzen verursachte. Er arbeitete an seinem Werk Jahr für Jahr, immer an diesem winzigen Stückchen Erde hinter dem Haus. Selbst als er bereits pensioniert war, und seine Kinder ihm anboten, ihn mit in ihr Landhaus zu nehmen, wo er ein grösseres Grundstück, direkt am Wald, für seine Gartenarbeit zur Verfügung hätte, senkte er nur sanft seine Augenlider mit der Andeutung eines feinen Lächelns – aber er sagte nichts, denn schon seit einigen Jahren hatte er das Sprechen eingestellt. Ihm gefiel es da, wo er sich befand. Wäre er eine Orchidee, so hätte er sicher den Vorschlag der Kinder ohne zu zögern angenommen. Aber als Hibiskus liebte er diesen kleinen Garten im Hinterhof, in dem er täglich, um die Mittagszeit, von der Sonne gestreichelt wurde.
Seine Familie hatte sich längst an die eigentümlichen Angewohnheiten des Dr. Felisberto gewöhnt und schrieb sie seinem fortgeschrittenen Alter zu – wer interessiert sich schon für die Marotten eines Pensionärs. Wenigstens lebt er gesund, tröstete sich seine Frau, wenn sie ihn in einer Ecke des Gartens herumhantieren sah. Er pflegte mit dem ersten Strahl der Sonne aufzustehen, um seine Blumen zu wecken. Und bevor er den Wassersprenger anstellte, fragte er sie, ob sie bereit seien für ein Bad. Sie antworteten ihm mit einem kaum merklichen Zittern ihrer Blätter, denn sie waren sehr schüchtern. Nach dem Bad widmete sich Dr. Felisberto jeder einzelnen seiner Schützlinge mit besonderer Aufmerksamkeit, indem er ihre trockenen Blätter und schädliche Insekten entfernte.
Eines schönen, sonnigen Tages untersuchte er gerade die edleren Teile einer frisch erblühten Begonie, als ein gezischtes „Pssst – Pssssst“ zu ihm herüberwehte, das von der kleinen, rosaroten Maria–sem–vergonha (unverschämte Maria) zu kommen schien, die dort auf dem Mauervorsprung Wurzel geschlagen hatte. Als er beim Jäten, vor einigen Tagen, das grüne Büschel mit den rosa Knospen auf den Steinen entdeckt hatte, hatte er es nicht übers Herz gebracht, das kleine sympathische Pflänzchen wie ein Unkraut zu behandeln – also tat er so, als habe er es nicht bemerkt, auch wenn ihm seine hochwohlgeborenen anderen Blumenschützlinge dies eines Tages vorwerfen sollten.
„Hei, Felisberto, komm mal her – los, mach schon!“
Als diese Worte ihn erreichten, sah er, wie ein paar Tulpen vor Scham ihre Kelche schlossen, obwohl es noch helllichter Tag war. Überrascht und entzückt von ihrer reizenden Stimme, setzte er sich neben der Kleinen auf den Mauervorsprung.
„So, Felisberto . . . mein feiner Hibiskus, komm näher – los, komm . . . !“
Dr. Felisberto spürte, dass er rot wurde – aber er fühlte sich unwiderstehlich gefesselt von der kleinen Maria–sem–vergonha, die ihm mit ihrer betörenden Stimme eine unbeschreibliche Obszönität nach der andern erzählte und bei der Pointe jedes Mal ihr rosarotes Köpfchen unter schrillem Gekicher nach hinten warf. Dr. Felisberto verliebte sich Hals über Kopf und dermassen in das kleine, leichtlebige Geschöpf, dass sein schöner Garten bald zu einem ungepflegten Unkrautdschungel verkam. Die Lilien starben ab und die Tulpen, sogar die Kletterpflanzen an der Mauer vertrockneten. Felisbertos Frau drohte, einen Gärtner zu rufen, wenn er nicht bald das Grundstück wieder in Ordnung brächte. Aber Dr. Felisberto, an die Mauer gelehnt, mit offenem Hemd, hörte sie gar nicht.
Und die kleine, pinkfarbene Maria–sem–vergonha wuchs empor und richtete sich ein auf seiner Brust – lächelnd liess er es geschehen, und glückselig ergab er sich den Reizen der Leichtlebigen, die ihn mit ihren weichen Blättern liebkoste und mit ihren biegsamen Ranken in Leidenschaft umfing. Der Arzt stellte seinen natürlichen Tod durch Herzversagen fest, und man wunderte sich lediglich über die vielen pinkfarbenen Blüten, die seinen schmalen Körper bedeckten, und das viele Grün, welches ihn umfing.
Gerne nehme ich Sie mal mit zum Grab des dahin gegangenen Dr. Felisberto, wenn Sie zufällig in unserer kleinen Stadt Laranjeiras Station machen sollten. Es fällt sofort auf durch einen enormen, mannshohen Hibiskus–Busch, der den gesamten Grabhügel bedeckt und sich zweimal im Jahr mit üppigen blauen und roten Blüten schmückt. Und wenn Sie näher treten, werden Sie auch die kleinen, pinkfarbenen Blüten der Maria–sem–vergonha entdecken, die sich um seine aufstrebenden Stängel ranken.