Massive Proteste unterbrechen den Alltag in São Paulo und in ganz Brasilien. Dilma Rousseff verspricht, auf die “Stimmen der Strasse“ zu hören
Eigentlich fing der Dienstag (18.6.2013) in der grössten Metropole Brasiliens an wie immer – mit dem üblichen versmogten Morgendunst, dem träge fliessenden Verkehr, dem gewohnten Hupkonzert der Ungeduldigen an den verstopften Kreuzungen und jenen zwischen den Fahrzeugen durchflitzenden Passanten. Aber es sollte kein Tag wie jeder andere werden.
Am “Largo da Batata”, einem Platz in der Westzone von São Paulo, versammelten sich 65.000 Menschen zur grössten Protestdemonstration seit dem 25. August 1992, dem Impeachment des Ex-Präsidenten Fernando Collor. Diesmal war der Auslöser allerdings ein viel geringerer, nämlich die Tariferhöhung der öffentlichen Verkehrsmittel (U-Bahn und Bus) um 20 Centavos – von 3,00 auf 3,20 Reais (eine Erhöhung um zirka 7,5 Cent)! Wie gesagt, das war der Auslöser – der Tropfen, der das Fass der lang aufgestauten und immer wieder zurückgehaltenen Volksempörung über die leeren Versprechungen der Regierung und ihrer korrupten Politiker zum Überlaufen brachten.
Die Demonstranten hatten friedlich und in aller Stille zusammengefunden. Und als der Platz sie nicht mehr fassen konnte, formierten sie sich und begannen zu marschieren – “Ein vereintes Volk braucht keine Partei“ stand zum Beispiel auf ihren Plakaten und Spruchbändern zu lesen und “Ohne Partei, ohne Partei“ wurde zu ihrem Demo-Motto, unter dessen rezitiertem Rhythmus sie sich vorwärts bewegten. Tatsächlich stellten wir nach einer Befragung fest, dass rund 85% der Demonstranten keiner Partei angehörten. Dass dieser Protest sich jedoch auf weit mehr richtete als auf die Tariferhöhung der öffentlichen Verkehrsmittel, das bestätigte ein Spruchband, auf dem stand: “Entschuldigen Sie die Störung, aber wir werden dieses Land verändern“!
Im Gegensatz zu dem vorhergehenden Protest am vergangenen Donnerstag, als mehr als 20 Verletzte auf der Strecke blieben – davon 15 Journalisten – gab es diesmal keine Zusammenstösse mit der Polizei, Verhaftungen oder Fälle von Vandalismus während des grössten Teils dieser Demonstration. Diesmal beschränkte sich die Militärpolizei (PM) auf eine Leibesvisitation der Demonstranten und verfolgte dann ihren Marsch aus gewissem Abstand.
Der Friede wurde erst gebrochen, als sich gegen 12:30 Uhr eine Demonstrantengruppe zum Sitz der Präfektur (Palácio dos Bandeirantes) begab und dort versuchte, sich mit Gewalt Eintritt ins Regierungsgebäude zu verschaffen – die Schutzgitter wurden von den Demonstranten abmontiert, während andere die einschreitenden Polizisten mit verschiedenen Objekten bewarfen, worauf diese mit Pfeffer-Spray und Gummigeschossen reagierten. Als die Demonstranten weiter vorrückten, bekamen es die Polizisten mit der Angst und zogen sich ins Innere des Präfekturgebäudes zurück – während Teilnehmer des Protests sich in aufspalteten in für und wider einer Invasion des Regierungspalastes.
Schliesslich gewannen die Besonnenen die Oberhand, verhinderten die Invasion und befestigten die Schutzgitter wieder an Fenstern und Türen.
Noch vor dem Gebäude der Präfektur von São Paulo, am Viadukt “Viaduto de Chá“, zündeten Demonstranten einen Übertragungswagen des Fernsehsenders TV Record und ein Postenhäuschen der Militärpolizei an – zuvor hatten sie verschiedene Geschäfte geplündert und Gebäudefronten mit Farbsprühflaschen verunziert – auch die gerade restaurierte Front des Munizipal-Theaters fiel ihrem Vandalismus zum Opfer. Die Plünderungen wurden im Stadtzentrum fortgesetzt – Geldautomaten wurden aufgebrochen, eine Snackbar, ein Geschäft mit Haushaltsgeräten und ein Schmuckgeschäft geplündert.
Nach einer Untersuchung der “Datafolha“ beteiligten sich gestern 71% der Demonstranten zum ersten Mal an einer solchen Protestkundgebung. Die Mehrheit ist zwischen 26 und 35 Jahre alt – 81% haben sich durch “Facebook“ zu der Demonstration auffordern lassen. Insgesamt haben 85% der Teilnehmer ihre Informationen aus dem Internet.
Der Demonstrationsmarsch verlief über die Avenida Faria Lima, eine der grossen Verkehrsadern der Stadt. Die Demonstrationsleitung “Passe Livre“ entschied, die Demonstration in zwei Gruppen aufzuteilen – die eine marschierte über die Avenida Rebouças bis zur Marginal Pinheiros, die andere besetzte die Avenida Faria Lima.
Während ihres Marsches luden die Demonstranten die Bürger zur Teilnahme ein. Die Bewohner der Gebäude befestigten weisse Betttücher und Handtücher aussen an den Fensterbänken zum Zeichen ihrer Unterstützung des Protests.
“Ich bin nicht hier um zu spielen, ich bin hier um zu protestieren”, sagte die Rentnerin Marita Ferreira (82), die sich vom Mitmarschieren nicht abbringen liess. Während des Marsches machten die Demonstranten immer wieder darauf aufmerksam, keinerlei Fahnen politischer Parteien zu zeigen – um die Demonstration eines parteilosen, aber umso vereinteren Volkes, zu präsentieren.
Die beiden Gruppen trafen sich dann wieder an der Brücke Octávio Frias de Oliveira. Währenddessen hatte eine dritte Gruppe die Avenida Paulista besetzt – Geschäfts- und Bankenzentrum der Metropole – ebenfalls in friedlicher Manier. Der Verkehr kam zum Stillstand.
Auf der Avenida Engenheiro Luís Carlos Berrini setzte sich eine Gruppe von Demonstranten mitten auf den Asphalt und versuchten von dort mit geschrienen Befehlen ihre Truppe zu ordnen. Die begleitenden Militärpolizisten setzten sich ebenfalls und bekamen Applaus sowohl seitens der Demonstranten als auch vom restlichen Publikum.
“Ich bin hier dabei, weil ich auf all dieses verschwendete Geld für die WM-Stadien aufmerksam machen will. Ich will Erziehung, Hospitäler und wenigstens eine sauberere Stadt“, sagte uns die Studentin Alina Castro (18) auf dem “Praça da Sé“.
Der Präfekt von São Paulo, Fernando Haddad, von der Arbeiterpartei (PT, wie die Präsidentin) akzeptierte eine Revision der Preise für Bus- und Metro-Fahrten in São Paulo, nachdem er sich mit Integranten der Bewegung “Passe Livre“ zusammengesetzt hatte – die ihm prophezeiten, die Demonstrationen bis zur endgültigen Annullierung der Preiserhöhung fortzuführen.
Und Dilma Rousseff versprach in einem Kommentar zur Demonstration, die mehr als 250.000 Menschen in den bedeutendsten Städten des Landes auf die Strasse brachte: “Meine Regierung hört diese Stimmen zur Veränderung. Meine Regierung ist interessiert und kompromittiert mit der Veränderung unserer Gesellschaft. Diese Stimmen der Strassen müssen angehöhrt werden“, versicherte Dilma in ihrem Kommentar im Regierungspalast in Brasília. “Diese direkte Botschaft der Strasse betrifft die Ablehnung der Korruption und den Missbrauch der öffentlichen Gelder. Die Stimmen der Strasse wollen mehr Bürgertum, bessere Schulen, bessere Hospitäler, bessere Gesundheitsvorsorge, das Recht zur Teilnahme“, fügte sie an.
Dilma flog nach São Paulo noch am selben Dienstag, um sich mit Haddad zu treffen und mit dem Ex-Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva, um mit ihnen eine Reduktion der paulistanischen Fahrpreise in den öffentlichen Verkehrsmitteln zu diskutieren.
In São Gonçalo, im Bundesstaat Rio de Janeiro, brachte eine andere Demonstration wenigstens 5.000 Personen zusammen, die zur städtischen Präfektur marschierten.
In Juazeiro do Norte (Bundesstaat Ceará) umzingelten 8.000 Personen den Präfekten der Stadt, der sich in eine Bank geflüchtet hatte.
Es gab auch in Manaus (Bundesstaat Amazonas) und in Florianópolis Proteste.
Porto Alegre (Bundesstaat Rio Grande do Sul), Recife (Bundesstaat Pernambuco) und andere Städte gaben am Dienstag bereits Minderungen der Preise ihrer öffentlichen Transportmittel bekannt – nach entsprechenden Protesten. In Porto Alegre wird der Bus-Tarif von R$ 3,05 auf R$ 2,80 reduziert – nach einer Steuererleichterung, verkündete der Präfekt José Fortunato.
In Pelotas (Bundesstaat Rio Grande do Sul) wurden die Tarife um 15 Centavos auf R$ 2,60 verringert.
In Recife (Bundesstaat Pernambuco) fiel der Bus-Tarif um 10 Centavos, so wie in Cuiabá (Bundesstaat Mato Grosso) und in João Pessoa (Bundesstaat Paraíba).
Die grösste und von abscheulicher Gewalt geprägte Demonstration des Montags (17) fand in Rio de Janeiro statt, wo einige Dutzend der 100.000 Demonstranten versuchten, die Versammlungsräume der Stadtverordneten zu stürmen, Feuer legten und 20 Polizisten zwangen, sich mit anderen Kollegen in dem Gebäude zu verschanzen – ausserdem zerstörten sie öffentliche Einrichtungen und plünderten Geschäfte der Nachbarschaft. Wenigstens zwei der Vandalen wurden verletzt beim Schusswechsel mit der Polizei.
Der Protest endete nach sechs Stunden, als es 100 Militärpolizisten vom Schock-Bataillon gelang, die gewaltbereiten Demonstranten mit Tränengas und Gummigeschossen auseinander zu treiben.
Tausende Personen in den bedeutendsten Städten Brasiliens versprechen erneut auf die Strasse zu gehen nach diesem grössten Protest seit Jahrhunderten, der in Chaos und Gewalt in Rio de Janeiro endete und die Regierung in seiner Dimension und seiner Rigorosität überraschte.
Ganz gegen jene populäre Behauptung, dass die Brasilianer zu bequem sind, um zu protestieren, marschierten zirka 240.000 Menschen in der Montagnacht (17/18) durch mehr als 10 Städte, um sich gegen die Erhöhung der Transporttarife und gegen die Milliardenverschwendung für die WM 2014 auszusprechen – auch gegen den entsprechenden Test mit dem Confederations-Cup.
Diese Proteste, in ihrer Mehrheit friedlichen Charakters, arteten jedoch in verschiedenen Städten in Gewalt aus, besonders in Rio de Janeiro. Die Demonstranten wurden mit Tränengas und Gummigeschossen auseinander getrieben, als sich unter ihnen jene Vandalen offenbarten, die sich stets im Schatten einer friedlichen Demonstration verbergen, um auf ihre Chance zu warten. In Belo Horizonte versuchten die Demonstranten, sich dem Stadion “Minerão” zu nähern, wo das Spiel zwischen Tahiti und Nigeria (im Confederatios-Cup) ausgetragen wurde.
Die Demonstranten, in ihrer Mehrheit Jugendliche ohne Partei und aus der Mittelklasse, verlangen ausser einer Rücknahme der Preiserhöhung im öffentlichen Transport, Verbesserungen dieses Transportsystems, und weitere, unzählige Forderungen, darunter auch bessere schulische Erziehung, öffentliche Krankenversorgung und ein Ende der Korruption.
Weitere Protestdemonstrationen sind für Donnerstag (20) in verschiedenen Städten des Landes anberaumt, inklusive in Rio de Janeiro, eine der sechs Austragungsorte des Confederations-Cup.
“Diese Regierung hat unsere Steuergelder in die WM investiert anstatt in Erziehung, und das ist furchtbar. Wir sind alle äusserst schlecht auf Dilma zu sprechen, die unser Land kaputt macht, und deshalb ist das Volk auf der Strasse“, erklärte uns eine der Demonstrantinnen von Rio de Janeiro.
In Brasília umzingelten mehr als 5.000 Demonstranten den Nationalkongress, und Hunderte von ihnen, in ihrer Euphorie, stürmten die Zugangsrampe, und es gelang ihnen, aufs Dach zu klettern, wo sie ihre Protestforderungen über die Köpfe der johlenden Menge schickten. Aber die Demonstration verlief friedlich.
Die Demonstranten
Nach Aufstellung der “Datafolha“ für den urbanen Raum São Paulo
- 84% erklärten, keiner Partei den Vorzug zu geben. Im Gesamt der Bevölkerung sind das 47%
- 77% haben eine höhere Bildung, gegen 24% in der Gesamtbevölkerung
- 22% sind Studenten – gegen 5% in der Gesamtbevölkerung
- 53% sind weniger als 25 Jahre alt
- 71% nahmen zum ersten Mal an einer Demonstration teil.
Motive der Teilnahme
- 56% um gegen eine Tariferhöhung zu protestieren.
- 40% um gegen die Korruption zu protestieren.
- 31% um gegen die Gewalt und die Unterdrückung zu protestieren.
- 27% für den öffentlichen Transport besserer Qualität.
- 24% Demonstration gegen die gegenwärtigen Politiker.
- 14% für einen kostenlosen Transport in den öffentlichen Verkehrsmitteln.
Noch ein paar erklärende Worte zu diesen Demonstrationen
Was passiert da eigentlich in Brasilien? Eine der führenden brasilianischen Kapazitäten der Sozialwissenschaften gestand einem Globo-Reporter: “Wir sind ehrlich überrascht“!
Mit Recht. Brasilien ist eigentlich kein Land, in dem seine Bürger in Massen auf die Strasse gehen – ausgenommen bei Spielen um die Fussball-Weltmeisterschaft. Dass sie jetzt plötzlich in Massen auf den Strassen erscheinen, auch noch um gegen die Bauwerke der WM zu protestieren, ist in der Tat verblüffend.
Was offensichtlich ist, dass die Buhrufe, die man bereits am Samstag im Stadion Mané Garrincha (in Brasília) vernehmen konnte, sich jetzt auf die Strasse begeben haben. Es nützt nichts, dass die PT-Medien (Partido Trabalho – Arbeiterpartei) versucht haben uns glauben zu machen, dass die Buhrufe und Antipathieausbrüche dem schwachen Spiel der Japaner galten und von der Elite ausgingen, dem einzigen Zweig der Gesellschaft in der Lage, die überhöhten Eintrittspreise zu bezahlen.
Auf den Strassen von Rio de Janeiro gestern, entdeckte ich eine klare Antipathiekundgebung, einen lautlosen Buhruf auf einem Spruchband: “Weg mit Dilma/Weg mit Cabral“ (Sérgio Cabral – Gouverneur von Rio).
Sowohl Rio de Janeiro als auch Brasília, daran sollte man denken, sind starke Zentren des “Lulismus“ (der Lula-Anhänger). Wenn also hier ein Spruchband wie dieses auf der Strasse erscheint, dann ist es Beweis genug für die Unzufriedenheit einer nicht zu unterschätzenden Publikumsparzelle.
Grundsätzlich gilt es, zwei Dinge zu überlegen:
1.) Dilma Rousseff ist nicht das einzige Ziel der Proteste. Ich weiss nicht mal, ob sie das bedeutendste Ziel ist. Aber ein Ziel ist sie bestimmt. Ziele sind jedoch auch die Politiker im Allgemeinen, Beweise dafür war die Protest-Konzentration in Brasília vor dem Nationalkongress. Das Menschenvolumen in Rio, regiert vom PMDB, und in São Paulo, regiert vom PSDB, demonstriert, dass die politische Klasse Brasiliens in ihrer Mission, das Publikum zu repräsentieren, am Scheitern ist – wenigstens gegenüber dem mobilisierten Publikum. Die Massen in Rio waren einfach beeindruckend – seit den Protesten, die zum Impeachment gegen Collor führten, hat man so etwas nicht mehr erlebt.
2.) Es gibt einen offensichtlichen Widerspruch zwischen der Billigung des Volkes hinsichtlich der Regierungen Dilma und Alckmin (Gouverneur von São Paulo), bestätigt in neuesten Untersuchungen – und dem Volumen und der Dauer der Proteste. Gibt es vielleicht eine schweigende Mehrheit? Vielleicht, aber die Tatsache, dass 55% der von der “Datafolha“ Befragten zugeben, dass sie die Proteste befürworten, ist ein starker Aufruf zur Wachsamkeit.
3.) Schliesslich scheint Juan Arias, der exzellente Korrespondent der spanischen Zeitung “El País“ rechtzubehalten, wenn er sich darüber Gedanken macht, was die Demonstranten eigentlich bezwecken wollen: “Sie wollen, zum Beispiel, öffentliche Dienstleistungen wie in der Ersten Welt – sie wollen eine Schule, die ihnen einen Qualitätsunterricht vermittelt, den es bei uns nicht gibt – sie wollen eine Universität, die weder politisiert, noch ideologisiert oder bürokratisiert ist. Sie wollen, dass sie modern und lebendig ist, und sie auf ihre zukünftige Arbeit vorbereitet“.
Und ich möchte noch anfügen: “Sie wollen Hospitäler ohne monatelange Wartezeiten, wo sie wie Menschen mit Würde behandelt werden, und sie wollen vor allem das, was ihnen politisch am meisten fehlt: eine reifere Demokratie, in der die Polizei sich nicht verhält wie in einer Diktatur. Sie wollen ein besseres Brasilien – nicht mehr und nicht weniger“!
So wie es auf einem Spruchband stand, das die Demonstration in Rio eröffnete: “Es geht uns nicht um Centavos – es geht um unsere Rechte“!