Sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen hat in Recife Tradition

Zuletzt bearbeitet: 9. Mai 2014

913320-pernambuco__97Die “Coque-Kommune”, deren einziger Sportplatz unter dem Schutt der Bauarbeiten am Viadukt Capitão Temudo begraben wurde, wartet nun seit drei Jahren auf die Einlösung eines Versprechens seitens des Bürgermeisters, der den Betroffenen anlässlich seiner Wiederwahl vollmundig versprach, sie mit einer Sport- und Freizeitanlage zu entschädigen.

Das Projekt mit zwei Sportplätzen, einer Skate-Piste, Garten, Park, Jogging-Piste und einem Amphitheater war eine der Forderungen der 45 Familien jener Kommune – als Gegenleistung zur Konstruktion der “Via Mangue“, einem Express-Highway, der das Stadtzentrum mit dem Nobelstadtteil Boa Viagem verbindet und der betroffenen Kommune ihr bisschen Bewegungsfreiheit vollkommen beschnitt. Zwar hat man hinterher den Sportplatz mit Beton notdürftig rekonstruiert, aber ohne jegliche Infrastruktur – welche die Kommune jetzt einfordert.

“Als die das hier gebaut haben, diesen Viadukt, haben die lokalen Bewohner ausdrücklich verlangt, dass nichts am Sportplatz verändert würde. Denn der diente dem einzigen Freizeitvergnügen, das sie hatten – und er war mit den bescheidenen Mitteln der Bewohner selbst angelegt worden“, erzählt eine der kommunalen Führerinnen, Mônica.

Das gesamte Areal war damals besetzt von Hütten (Slums), die alle enteignet wurden. Um zu verhindern, dass dieser Ort erneut besetzt würde, kündigte die Präfektur das Strassenprojekt an – so erklärt der Maurer und Lehrer der Fussballschule, Magelit. Wie er es sieht, hat die Präfektur nur den Strassenbau für die WM in ihren Plänen, während die Kommune dadurch keinerlei Nutzen hat. “Wir wissen, dass diese Dinge nicht für uns sind.

Die Via Mangue bedeutet für uns gar nichts – nur eine Verschlechterung unserer Existenz – jetzt spielen unsere Kinder Fussball unter den Säulen des Viadukts“, kommentiert er.
Carlos, ein Junge von elf Jahren, begibt sich direkt nach der Schule zum Fussballspielen. “Mir gefällt, dass ich hier in der Nähe unseres Spielplatzes wohne – wenn der nicht wäre, würde ich lieber woanders hinziehen“, sagt er. “Meine Zukunft ist es, nur Fussball zu spielen“, bestätigt Líveson, ebenfalls elf Jahre alt. Ihr “Spielplatz“ ist der Zwischenraum unter den Betonpfeilern des besagten Viadukts.

913312-pernambuco__69_1“Wir spielen manchmal auch Verstecken oder Abklatschen, alles, was uns so einfällt“, sagt Carlos. Aber ein Traum wird nicht vergessen: “Der Fussballplatz meiner Träume hat Tribünen auf beiden Seiten, so wie unserer früher mal war, Tore auf beiden Seiten, einen festen Boden ohne Risse und Löcher, und ein Gitter zum Abfangen der Bälle“, zählt er auf.

Wegen fehlender Mittel, so berichten die Bewohner, befindet sich eine Reihe von Sport-, Freizeit- und Kulturprojekten, die von kommunalen Organisationen entwickelt wurden, derzeit im Stillstand. “Wenn man durch die Kommune wandert, bemerkt man die Menge von Kindern und Jugendlichen, die nichts zu tun haben, und das macht sie zu “leichter Beute“ für die Drogenhändler und Mädchenverführer“, klagt die für die Region verantwortliche Verwaltungsangestellte Jeanny.

Schriftlich hat die Präfektur von Recife angekündigt, dass das Projekt für die Coque-Kommune “sich in der Erarbeitungsphase befindet“, hat aber vergessen bekanntzugeben, wann dieses Vorhaben nun endlich in die Tat umgesetzt wird.

Ein anderes Bauwerk, welches dem zu erwartenden Ansturm der WM-Besucher Rechnung tragen soll, ist die neu errichtete U-Bahnstation Joana Bezerra, mitten in einer bedürftigen Kommune im Stadtzentrum von Recife. Dort werden in wenigen Tagen Tausende Einheimische und Touristen aus dem Schacht der “Metrô“ hervorquellen, um sich von dort zur “Arena Pernambuco“ zu begeben, dem neu errichteten Stadion, in dem insgesamt fünf Partien der diesjährigen WM ausgetragen werden. Bewohner der Gegend und Personen, die rund um diese Endstation der Untergrundbahn arbeiten, sind sich sicher, dass hier die sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen unkontrollierbare Formen annehmen wird.

Afonso, ein Taxifahrer, der hier am Terminal seinen Standplatz hat, glaubt, dass der Tourismus und die ihn begleitenden grossen Feste die sexuelle Ausbeutung Jugendlicher wesentlich erhöhen werden. “Ich fahre Taxi seit mehr als achtzehn Jahren und sehe, dass die Situation dieser Mädchen sich nicht ändert. Man findet sie immer wieder an denselben Orten“, sagt er dazu.

Das Problem reflektiert die fehlenden Perspektiven und schlägt sich in erster Linie auf die Mädchen der lokalen Kommune nieder, sagt die kommunale Leiterin Mônica. Sie berichtet, dass sich die Jugendlichen jeden Freitag, auf der Suche nach Spass und Unterhaltung, in einer lokalen Disko versammeln – wo sie dann zu Opfern sexueller Ausbeutung werden. Und, wie sie betont, sind es nicht nur Touristen, von denen sie angemacht werden. Das Problem sind fehlende Perspektiven für arme Mädchen der Region – so werden sie zu Opfern.

“Hier sind es vor allem die Bewohner, die von der Situation profitieren. Unsere Sorge geht jedoch auch in eine andere Richtung, nämlich, dass Touristen die Mädchen nicht einfach mitnehmen – das wäre dann Menschenhandel“. Und sie erzählt von Fällen, in denen die Ausbeutung nicht durch Fremde geschieht, sondern von Bekannten inszeniert wird. “Das sind Freundinnen, die bereits mitten drin “im Geschäft“ stehen, und die ihre Freundin überreden – eine reisst die andere mit in den Strudel“, sagt Mônica. “Für sie ist Geld ein “Geschenk“.

Und so begeben sich ein Mädchen auf den Pfad der Ausbeutung: “Sie küsst einen wildfremden Kerl und fragt ihn dann: Hast du vielleicht mal zwanzig Reais für mich? Wir wissen, wie es weitergeht, wir erkennen die Ausbeutung dahinter – aber viele dieser Mädchen finden, das es keine ist“, empört sich Mônica. “Die Mehrheit der Mädchen, die das tun, ist in Wirklichkeit sehr bedürftig, aus kinderreichen Familien, die sonst nicht überleben könnten“, fügt sie hinzu.

Eine Strategie, die sich als wirksam gegen die sexuelle Ausbeutung erwiesen hat, ist das Programm “Vira a Vida“ (Ändere das Leben) der Sozialhilfe der Industrie (Sesi) – sie bezahlt ein Stipendium von R$ 500 (150 Euro) an Jugendliche, um an Kursen teilzunehmen. Leider gibt es nur wenige freie Plätze. Mit diesem Programm erlernen sie einen Beruf und erhalten einen Job nach Beendigung. “Sie verdienen dann ihr eigenes Geld und werden unabhängig“, berichtet Mônica.

Die Herausforderungen der Region sind unendlich viele. Die allergrösste ist das Fehlen von Erziehung und beruflicher Ausbildung, so die Beraterin Jeanny. “Wir haben weder Struktur noch eine öffentliche Politik für die grosse Menge von Jugendlichen, die ihre Zeit in der Kommune mit Nichtstun verbringen. Es gibt nicht einmal Freiplätze in den Schulen“, sagt sie.

Das Sekretariat für Menschenrechte in Recife berät zur Zeit über Massnahmen zur Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung und der Kinderarbeit, während der WM, in den verkehrsreichsten Zonen der Stadt. An den Tagen des intensivsten Publikumsverkehrs, so die Bewohner, werden in der Regel Kinder zum Verkauf von Getränken eingesetzt. Die Präfektur gibt bekannt, dass Kinder, die in dieser Situation von den eingesetzten Hilfskräften angetroffen werden, von diesen in eine temporäre, geschlossene Unterkunft transportiert werden.

Die Exekutiv-Sekretärin Elizabete sagte, dass sie bereits mit dem Sekretariat für Erziehung vereinbart hat, dass die Kindergärten im Umfeld von bekannten “Regionen sexueller Ausbeutung“ geöffnet bleiben, um die Aktionen der Kontroll-Teams zu erleichtern. “Wir müssen erreichen, dass die Erwachsenen begreifen, dass der Platz eines Kindes nicht am Ofen, am Kühlschrank oder beim Geldzählen ist. Sein Platz sollte ein sicherer sein, im Haus eines Familienangehörigen, eines Verwandten oder in einem Kindergarten“, sagt sie.

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