Wenn am 12. Juni 2014 die Fussballwelltmeisterschaft im Land des Fussballs in Brasilien beginnt, wird die Welt nicht nur auf die geachtete und gefeierte “Seleção” schauen. Auf dem Prüfstand wird das ganze Land stehen, mit all seinen Problemen und all seinen Schönheiten. Brasilien ist nicht einfach Brasilien. Es ist das Land, in dem der Fussball mehr ist als nur ein Sport ist. Und es ist das Land der Extreme, das sich schon vor langem auf den Weg zum Fortschritt gemacht hat, dabei irgendwie aber nicht richtig voran kommt.
Seit Monaten steht der Ausrichter der Fussballweltmeisterschaft schon im Kreuzfeuer der Kritik. Da sind die Flughäfen, deren Umbau- und Verbesserungsarbeiten wahrscheinlich nicht bis zum Beginn der WM abgeschlossen sein werden. Zumindest gilt das für einige der Flughäfen, wie dem in Cuiabá, in dem das Dach des Terminals weit davon entfernt ist, tatsächlich ein Dach zu sein. Auch bei den Stadien sind längst noch nicht alle fertig gestellt. Am meisten hinkt die “Arena da Baixada” in der Südbrasilianischen Stadt Curitiba hinterher. Die Bauarbeiten hinken soweit hinter, dass es fraglich ist, ob dort überhaupt gespielt werden kann. Probleme gibt es auch bei der neuen Spielstätte des Traditionsclubs Corinthians, der “Arena de São Paulo”. Dort stürzte ein Kran ein, tötete zwei Arbeiter und sorgte für Bauverzögerungen. In Curitiba soll jetzt rund um die Uhr gearbeitet werden, nicht nur wegen der WM, sondern auch um der Schmach zu entgehen, es nicht geschafft zu haben.
Vielleicht muss auch für einige Baustellen der Plan B herhalten oder ein Provisorium. Die Brasilianer sind jedenfalls zuversichtlich, dass doch noch alles irgendwie klappen wird. Schliesslich sind sie einfallsreich, wenn es darum geht, ein Problem zu lösen. Einfallsreich, wenn auch nicht glücklich bei der Wahl des Beispiels, war auch der Sportminister Aldo Rebelo, als er sagte, dass die Braut immer zu spät in die Kirche zur Hochzeit komme, die Vermählung aber trotzdem noch jedesmal stattgefunden habe. Angenommen, die Braut wäre die Fussballnation Brasilien, dann wäre das Land die Kirche, eine Kirche freilich mit ein paar Baugerüsten rund um den Altar. Die Hochzeit, die WM, kann natürlich so oder so stattfinden. Baugerüste sind zwar kein schönes Szenario, zumindest kann aber der Pfarrer dem Brautpaar seinen Segen erteilen.
Kritik gibt es nicht nur von aussen, wie von Joseph Blatter dem Präsidenten des Fussballweltverbandes FIFA. Der erklärte, noch kein Austragungsland sei je so dem Zeitplan hinterher gehinkt. Kurz später pfiff er sich allerdings schnell selbst zurück. “Brasilien 2014 wird ein Erfolg” twitterte er, fröhlich dem Hochzeitsfest entgegen sehend. Der Ex-Fussballspieler und derzeitiger Parlamentsabgeordente “Romário” hat mit der Hochzeit, um beim Bild zu bleiben, aber noch so seine Probleme. Sie ist ihm zu teuer. Das Geld, so der berühmte Fussballer hätte besser anders ausgegeben werden sollen, etwa für Krankenhäuser oder dem sozialen Wohnungsbau. Er kritisiert, dass die FIFA mit der WM 1,3 Milliarden Euro einstreichen werde, während das lokale Organisationskomitee COL lediglich 330.000 Euro zu erwarten habe.
Nicht dass Brasilien nur schlecht ausgestattete Krankenhäuser mit überforderten Ärzten und ellenlangen Warteschlangen von Patienten hätte. Nein, es gibt auch Krankenhäuser wie das Sírio Libanes in São Paulo, das durch seine herausragende medizinische Kompetenz weltweit anerkannt ist. Den meisten Fussballfans und anderen Menschen bleibt dort eine Behandlung jedoch verwehrt, es sei denn, sie gehören zur reicheren Kaste, wie es etwa Politiker tun oder berühmte Fussballspieler. Dazu gehört auch der Ex-Spieler “Ronaldo Fenômeno”, der als Mitglied des lokalen Organisations-Komitees COL den Fortschritt der Baustellen in den zwölf WM-Austragungsorten begleitet und schon jetzt stolz auf die modernen Stadien ist. Während Romario die Demonstrationen des vergangenen Jahres eher wohlwollend sah, setzte sich Ronaldo mit einem Contra-Kommentar in die Nesseln. “Die Weltmeisterschaft findet in Stadien statt, nicht in Krankenhäusern”, so der Ex-Milan-Spieler.
Bei den Demonstrationen wurden unter anderem die hohen Ausgaben für die Stadien kritisiert, während das öffentliche Gesundheitswesen vor sich hin darbt. Mit ironisierenden Schildern wie, “Wenn dein Kind krank ist, bring es ins Fussballstadium” zogen im Juni 2013 zigtausende Menschen in verschiedenen Städten durch die Strassen. Kritisiert wurden dabei auch die Korruption, die mangelnde Infrastruktur, die klaffende Schlucht zwischen reich und arm, das mangelhafte Schulsystem und irgendwo auch die Erhöhung der Busfahrpreise. Angesichts all der Probleme und der Milliarden, die gleichzeitig in die Weltmeisterschaft gesteckt werden, ging vor allem vielen jungen Leuten der Hut hoch. Das brasilianische “Opium des Volkes”, der Fussball, wirkte nicht mehr. Waren die Proteste zunächst friedlich, wurden sie bald von militanten Gruppen unterwandert. Darauf war die Polizei nicht wirklich vorbereitet. Sie wirkte unbeholfen und schlug erst einmal auf alle Seiten ein, anstatt sich auf das Grüppchen gewalttätiger Demonstranten zu konzentrieren. Auch vor wenigen Tagen zogen einige militante Gruppen wieder los, um mit grenzenloser Randale Aufmerksamkeit zu erregen. Inzwischen ist die Polizei jedoch schon besser trainiert.
Angst hat FIFA-Präsident Blatter dennoch, dass es auch bei den Spielen zu gewalttätigen Protesten kommen könnte. Er vergisst dabei, dass sich die Manifestationen nicht auf die Touristen und Fans beziehen und, dass die brasilianische Regierung längst schon eine 10.000 Mann starke Spezialeinheit ausgebildet hat, die tropa de choque, die für einen reibungslosen Ablauf sorgen und die Stadien gegen Demonstranten abschirmen soll.
Brasilien ist ein Land der Superlativen und eins der Extreme. Es ist das einzige Land, das an allen Fussballweltmeisterschaften teilgenommen hat, die seit der ersten Austragung im Jahr 1930 in Uruguay stattfanden und es ist das einzige Land, das fünf Titel aufweist. Brasilien und Fussball ist untrennbar. So mancher Bub träumt davon, in die Fussstapfen von Ronaldinho Gaucho, Ronaldo Fenômeno oder Fussballkönig Pelé zu treten, während er barfuss auf einem matschigen Feld mit improvisierten Toren den Ball dominiert. Die Chancen sind klein es vom “Salário mínimo”, dem Mindestlohn von derzeit umgerechnet etwa 240 Euro im Monat, mit Hilfe der Kunst des Fussballs zum Millionär zu schaffen. Beispiele gibt es dennoch einige und die Gehälter der Stars sind mit 100.000 Euro und mehr im Monat astronomisch hoch im Vergleich zum mageren, brasilianischen Durchschnittsgehalt von gut zwei Mindestlöhnen.
Dass Träumen nicht schadet, kann Marta Vieira da Silva bestätigen. Als kleines Mädchen spielte sie im Bubenteam Fussball. Mittlerweile wird die Stürmerin mit der Fussballlegende Pelé verglichen. “Pelé de Saias”, Pelé in Röcken, lautet der Spitzname, den ihr die Fans zugedacht haben. Fünfmal wurde sie zur besten Fussballerin der Welt erchoren und erhielt 2010 den goldenen Ball der FIFA. “Brasilien ist ein Land, das in den Fussball verliebt ist, unabhängig vom Geschlecht”, so Marta. Von der “Copa”, der Fussball-WM erhofft sie sich, dass diese auch ein wenig dem Frauen-Fussball zugute kommt.
Die Fussballnation Brasilien, wird versuchen, sich bei der Copa von seiner besten Seite zu zeigen, das steht fest. Dass es nicht leicht sein wird weiss Seleção-Trainer Luiz Felipe Scolari, wissen die Brasilianer. Vor allem vor der deutschen Nationalmannschaft haben sie eine gewisse Hochachtung. Aber auch ausserhalb des Fussballfeldes hoffen sie auf einen Gewinn, auch wenn sie vielleicht anstatt mit einer perfekten Organisation sondern mit einem äusserst grossen Provisionstalent glänzen werden. Um es mit den Worten des Sportministers zu sagen: Die Hochzeit hat noch jedesmal stattgefunden.
Abgesehen von all den Baustellen und Kritiken, hat das Fussballjahr 2014 jedenfalls schon einmal gut angefangen. Mit einer “goleada”, einem Torregen, von zehn zu eins gegen den Erzrivalen Argentinien holte sich die brasilianische Nationalmannschaft des Strand-Fussball Anfang Januar den Titel der Copa das Americas. Ausserdem stehen die Sterne günstig. Die „Copa“ soll im Zeichen des Mars stehen, so die Astrologen. Wer mag, kann das für die Seleção positiv deuten. Kämpferisch antreten wird sie wohl aber mit oder ohne Mars.
Brasilien ist ein patriotisches Land. Die Brasilianer sind stolz auf das, was sie erreicht haben, stolz auf ihren Cristo Redendor, der täglich all die tausenden Touristen mit offenen Armen empfängt, stolz auf die längste Küste der Welt, den grössten Regenwald, die einzigartige Seleção. Sie wissen um die Unzulänglichkeiten, bekommen sie Tag für Tag zu spüren im Stau oder in überfüllten Bussen und U-Bahnen auf dem Weg zur Arbeit, in der Warteschlange auf ein Krankenhausbett, in den Schulen, die nicht wirklich auf das Arbeitsleben vorbereiten. Und sie lieben den Fussball, auch wenn er längst nicht mehr das Opium des brasilianischen Volkes ist.