Nach dem erneuten Ausscheiden im Viertelfinale einer Fussball-Weltmeisterschaft ist nun in Brasilien auch dem letzten klar: die Götter der Seleção wurden endgültig vom Thron vertrieben und haben Sterblichkeit erlangt. Zu gross waren die Erwartungen, zu verwöhnt waren Fans und Funktionäre und haben das Lindenblatt auf dem Rücken ihrer Helden einfach ignoriert. Das BrasilienPortal wagt trotzdem einen Rückblick auf das „Rumo ao Hexa“ der Seleção 2010.
Am Anfang stand das Debakel. 2006 schied die Seleção zur Überraschung von mehreren Milliarden Menschen bereits im Viertelfinale aus. Keine Wirtschaftskrise, nicht einmal über 20 Jahre Diktatur hatten das Land so erschüttert wie die Niederlage von Ronaldo, Ronaldino und Co. gegen Frankreich bei der WM in Deutschland. Denn die Anhänger rund um den Globus waren schliesslich verwöhnt. Dreimal hintereinander – 1994, 1998 und 2002 – hatte die Seleção im Finale der WM gestanden, 1994 und 2002 hatte man den Titel geholt. Die zwei Jahrzehnte mit den Weltmeisterschaften zwischen 1974 und 1990 voller schwachem „Samba-Fussball“, wo man überhaupt nur ein einziges Mal ins Halbfinale vordringen konnte, waren längst vergessen. Und an die Sternstunden eines Pelé oder Jairzinho in den 60er Jahren mit der Krönung des Titelgewinnes 1970 erinnerten sich nur noch Nostalgiker.
Nach knapp 16 Jahren Erfolgsfussball kam also unverhofft das Aus im Viertelfinale 2006. „Rumo ao Hexa, die Jagd nach dem 6. Titelgewinn mutierte zu einem Debakel von nationaler Tragweite und forderte selbstredend Konsequenzen. Eine neue Mannschaft, ein neuer Trainer musste her. Der brasilianische Fussballverband CBF präsentierte Dunga, Weltmeister von 1994, und erntete Kritik von fast allen Seiten. Dessen Aufgabe war klar abgesteckt: Neuaufbau der Nationalmannschaft und Titelgewinn 2010. Während andere Teams zunächst die Qualifikation vor Augen haben, blickt man in Brasilien stets ein Stück weiter. Als wolle man sich nicht mit solchen Nichtigkeiten beschäftigen. Letztendlich wurde es ja auch diesmal mit dem Abschluss der „Eliminatorias“ als Tabellenerster bewiesen. Auch der Gewinn der Copa América 2007 und des Konföderationen-Pokals 2009 lag im Nachhinein als Selbstverständlichkeit auf dem Weg zum erneuten Titelgewinn.
Als Rekord-Weltmeister hat man es eben nicht leicht. Gerade ausländische Fans und Medien sind zudem sehr verklärt, was den berühmten „Samba-Fussball“ angeht. Der wird schon seit 1994 mit Dunga als Kapitän nicht mehr gespielt, die Jahre danach hat man sich mit ein paar Dribblings eines Ronaldinho oder einem netten Tor von Ronaldo dieses „jogo bonito“ weiterhin daher geredet. Und doch ist das Spiel in der „Ära Dunga“ systematischer, organisierter, effizienter und vor allem defensiver geworden. Vielleicht liegt dies aber auch daran, dass vor gut 30 Jahren die brasilianischen Nationalspieler in Brasilien gespielt haben. Nun stehen ausschliesslich Profis auf dem Platz, die seit Jahren in Europa spielen oder jahrelang in Europa gespielt haben. In europäischen Klubs in europäischen Ligen mit europäischen Teamkollegen. Nun picke man sich die besten Brasilianer aus den Topvereinen heraus, stecke sie in ein kanariengelbes Trikot und erwarte Samba-Fussball. Darüber lacht selbst Romário.
Bei der Aufstellung des Kaders für die Fussball-WM 2010 dann die Überraschung, die im Grunde keine ist: Ronaldinho ist nicht mit dabei, Ronaldo hat ausgedient, Adriano beschäftigt sich lieber mit seinem Privatleben. Die Kritiker blasen sofort ins Horn und fordern unter anderem den Einsatz von ganz jungen Spielern wie Neymar oder Ganso, wieder andere kritisieren die Neuzugänge ohne Erfahrung wie zum Beispiel Grafite. Manche finden die Auswahl einfach nur schlecht, sogenannte Experten errechnen sofort den Altersdurchschnitt und bemängeln das Ergebnis, viele müssen jedoch erst einmal die Biografien der brasilianischen Fussballprofis zu Rate ziehen. Aber letztendlich ist die Seleção eine Mannschaft und die Mannschaft ist göttlich und hat den Titel zu holen. Daher ist das Thema auch ganz schnell vom Tisch und die Parole lautet wie vier Jahre zuvor: „Rumo ao Hexa!“
Da im brasilianischen Fussball das Ziel den Weg markiert und nicht umgekehrt, begann somit Ende Mai dann auch das Schaulaufen der zukünftigen Weltmeister. Belagert von Journalisten im Trainingszentrum in Curitiba, wo sogar das Blutdruckmessen in Bild und Ton festgehalten wurde, über Krafttraining, Dauerlauf und dem ersten Ballkontakt bei einer nicht wirklich wichtigen Trainingseinheit – alles wurde akribisch verfolgt und natürlich bewertet. Auch wir vom BrasilienPortal haben in unserem News zur WM 2010 unseren Teil dazu beigetragen. Es folgte ein Empfang bei Staatspräsident Luiz Inácio Lula da Silva, der Sonderflug über den Atlantik und das Golfspielen oder Eisessen an einem trainingsfreien Tag. Umrahmt wurde die Berichterstattung von zwei Testspielen gegen viertklassige Gegner und einem öffentlichen Training vor beeindruckend geringer Kulisse.
Nach diesem Warm-Up ging es dann vier Tage nach dem Eröffnungsspiel auch für die Seleção ans Eingemachte. Gegen Nordkorea, die irgendwann später von Portugal mit 7:0 vom Platz gefegt wurden, lieferte man den Fans zwei Tore, kassierte allerdings noch eines nahm aber drei Punkte mit. Eine ähnliche Darstellung bot sich dem Zuschauer gegen die Elfenbeinküste, man machte hier sogar drei Tore, kassierte jedoch abermals eines. Beim abschliessenden Gruppenspiel gegen Portugal ging es dann schon nicht mehr um die Wurst, ein 0:0 hatte im Vorfeld für den Gruppensieg gereicht. Daher klingelte es auch nicht im Kasten, Kritiker nannten dies erneut „reine Effizienz“ bei einer langweiligen Spielweise.
Doch die Seleção war dem WM-Titel durch das Überstehen der Vorrunde, noch dazu als Gruppenerster in der sogenannten Todesgruppe, abermals ein Stück näher gekommen. Im vierten Spiel wurde es dann wirklich ernst. Die K.O.-Runde hatte begonnen und Brasilien musste im Achtelfinale gegen Chile ran. Ein Gegner, den man aus vielen Spielen in Südamerika gut kannte. Und deren offensive Spielweise den Brasilianern entgegen kam. So wurde es ein kurzweiliges Spiel mit schönen Toren und einem ansehnlichen Zusammenspiel der Dunga-Elf. Im Nachhinein darf man vielleicht anmerken, dass dies keine göttliche Machtdemonstration war, sondern das plumpe Ausnutzen riesiger Lücken, die der Gegner eben auf Platz nicht zu schliessen vermochte. 3:0 hiess es allerdings zum Schluss, „La Roja“ durfte die Koffer packen, die Seleção befand sich unter den besten acht Mannschaften der Welt.
Im Halbfinale lauerten Uruguay oder Nigeria, mit Sicherheit zwei bezwingbare Mannschaften. Und damit war man ja eigentlich schon im Finale. Auf dem Weg lag lediglich noch Holland, über die man wenig zu sagen hatte und noch weniger wusste. Zumindest im Land des fünffachen Weltmeisters. Wichtige Spiele bei Endrunden konnte man eigentlich immer gegen die „Oranje“ gewinnen, ein bisschen schwerer als gegen Chile dürfte das Spiel allerdings schon werden. So die Experten, die sich nach der ersten Halbzeit auch durchaus bestätigt sahen. Brasilien spielte stark, lief Holland auf und davon, ging in Führung und hatte noch einige weitere Chancen selbige auszubauen. Man sah den zukünftigen Weltmeister spielen – bis zum Pausenpfiff. Dann gingen die gottgleich bejubelten Stars der Seleção in die Kabine und stiegen irgendwie von ihrem Thron herab. Und erlangten die Sterblichkeit. Der weltbeste Torhüter griff daneben, der beste Mittelfeldspieler köpfte selbst ein und trat später frustriert mehr nach dem Gegner als nach dem Ball, auch dem weltbesten Stürmer und dem weltbesten Spielmacher sollte in den kommenden 45 Minuten nichts mehr gelingen.
Mit dem Schlusspfiff und der nie für möglich gehaltenen 1:2 Niederlage stürzten die Titelträume von 190 Millionen Brasilianern ein, Spieler und Fans weinten hemmungslos, Sündenböcke wurden gesucht. Die Niederlande traf Brasilien im wahrsten Sinne des Wortes mit dem Pfeil genau dort in den Rücken, wo das Lindenblatt die verwundbare Stelle hinterlassen hatte. „Ich zieh hinaus mit lauter guten Freunden, und wenn die Berge nicht zusammenbrechen und uns bedecken, so kann mir nichts geschehen.“ Treffender hätte man den Aufbruch der Seleção am 27. Mai ins ferne Südafrika Ende Mai nicht beschreiben können, auch wenn diese Einstellung vielleicht mehr von Aussen projiziert wurde als von innen heraus entstanden ist.
Erstes Opfer der Sterblichkeit wurde nun der gesamte Stab rund um Trainer Dunga, der nur Minuten nach der Rückkehr auf brasilianischen Boden komplett abgesetzt wurde. Weitere Spieler werden ihnen folgen und vermutlich nie wieder eine Chance in der Seleção erhalten. Nun soll ein Trainer her, der Götter erschaffen kann. Von einem ganzen anderen Konzept ist die Rede, von einem erfahrenen Trainer, der Rückkehr der Seleção zum Offensivfussball und dem Einbinden junger Talente wie: Alex Sandro (19 – Verteidiger, FC Santos), Douglas Costa (19 – Mittelfeldspieler, Schachtjor Donezk), Lulinha (20 – Mittelfeldspieler, Corinthians), Philippe Coutinho – (18 Mittelfeldspieler, Inter Maliand), Neymar (18 – Stürmer, FC Santos, Keirrison (21 – Stürmer, Fiorentina ).
Die kommende WM ist im eigenen Land, der Druck auf die Unsterblichen der Zukunft könnte nicht grösser sein. Denn das Ziel ist bereits heute klar definiert: Neuaufbau der Nationalmannschaft und Titelgewinn 2014. „Rumo ao Hexa!“