Als ich vor einiger Zeit die Geschichte des Negrinho do Pastoreio aufschrieb, war mein Interesse geweckt für die unzähligen und unglaublichen Geschichten, die sich die “Gaúchos“ aus dem Süden unseres Landes in den “Galpões“ (Schuppen) der Viehzucht-Estâncias erzählen – jenen behaglich eingerichteten Scheunen oder Schuppen kommt doch tatsächlich die kuriose Funktion eines “Männer-Clubs“ zu, nicht nur für die Angestellten des Anwesens, nein, auch Fremde sind gern gesehen, die sich hier ein wenig ausruhen wollen, einen glühend heissen “Chimarrão“ aus grünem Mate geniessen und, wer weiss, vielleicht sogar eine neue Geschichte beisteuern können.
Dieser “Club der Männer“ funktioniert allerdings nur am Abend, vereint alle, die tagsüber schwer geschuftet haben, um ein kleines Feuer auf dem Tennenboden – hier spielt man nicht, weder schluckt man irgendwelchen Alkohol noch diskutiert man die Politik: man erzählt sich nur Geschichten, während die Kalebasse mit dem unentbehrlichen “Chimarrão“ kreist. Und damit wird eines schon klar: man muss ein riesiges, schier unerschöpfliches Repertoire haben, um diesen “Erzähl-Club“ Abend für Abend offen halten zu können – und das über mehrere Generationen hinweg!
Wie gesagt, Fremde, die eine neue Geschichte in der Scheune erzählen können, sind besonders gern gesehen – in einer verallgemeinernden Form nennen die Gaúchos solche Geschichten “Causos“ (Vorfälle), die erzählen, wie sollte es anders sein, meistens von der Gegend, aus der jener Fremdling hergekommen ist, seinem eigenen Umfeld, viele Meilen weit weg. Alte Männer haben in der Regel eine ganze Reihe von “Causos“ auf Lager, wenn sie zur Versammlung in der Scheune erscheinen – und stets erzählen sie etwas aus ihrer eigenen Zeit, die vergangen und viele Jahre zurück liegt. Und die Knaben, die sich in der Scheune einfinden, haben stets einen speziellen Anlass, um zuzuhören – später können sie dann ihren eigenen Söhnen und Enkeln von den vernommenen Ereignissen berichten, die sich in Zeit und Geografie überschneiden – weiteste Entfernungen erreichbar machen und längst vergangene Zeiten aufblättern, wie die Seiten eines Buches.
UND WOHER KOMMEN ALLE DIE GESCHICHTEN?
Am Anfang gab es den Wald im Norden und die Pampa im Süden (von Rio Grande do Sul). Und zwischen dem Wald und der Pampa lagen die Hügel am linken Ufer des Rio Uruguai. Es gab auch die Strände an der Küste – aber zu jener Zeit, in der unsere Geschichten beginnen, waren die noch unbewohnt.
Den Wald beherrschten die “Botocudos“ (wilde Indianer) vom Stamm der “Caingangue“, der “Caiurucré“ und der “Camé“. In der Pampa lebten die “Guaicurus“ als Stämme der “Minuano“ und “Charrua“. Und die Hügel am Fluss gehörten den “Guarani“.
Die historisch ältesten Bewohner waren die Botocudos aus dem Wald: nur sie allein wussten jene Geschichten vom Anbeginn der Welt zu erzählen. Und dann erweiterte sich der “Causo“ plötzlich mit dem Erscheinen von zwei Pferden. Ob sie von der Pampa herauf kamen oder von den Hügeln herunter, entzieht sich bisher jedweder Kenntnis auch versiertester Erzähler – wahrscheinlich waren sie den durchziehenden Spaniern entlaufen und von ihnen dann vergessen worden – wie dem auch sei, sie waren plötzlich da. Ein Minuano fing sich die Stute, ein Charrua den Hengst ein – begeistert befestigten sie eine Art Zelt aus Tierhäuten auf dem Rücken ihrer Reittiere und liessen ihre Hütte am Boden hinter sich.
Nach einiger Zeit war aus den beiden Pferden eine grosse Herde von mehr als tausend Tieren entstanden. Und die berittenen Krieger der Guaicuru wurden weit über die Pampa hinaus von ihren Feinden gefürchtet.
Eines Tages sah man Padres in schwarzen Gewändern den Fluss überqueren – sie kamen von der anderen, der spanischen Seite, und auf der hiesigen begannen sie den Guarani das Beten beizubringen, dann Pflanzungen anzulegen und auch, wie man Pferde einfängt und zähmt. Schliesslich konnten die Indianer sogar Uhren anfertigen, Eisenerz schmelzen und bearbeiten, Pflanzen veredeln und Choräle singen, begleitet von komplizierten Orgeln, die sei ebenfalls eigenhändig konstruierten. Wo vorher die Hügelkette sich erstreckte, lagen jetzt sieben neue Städte, die in sich eine Unmenge von Menschen beherbergten. São Miguel war ihre Hauptstadt. Mit einer Kathedrale, Plätzen und Schulen. Auf den Altären dickes Gold und reichlich Silber. Ein Indianer wurde zum Sakristan gemacht – half bei der Messe und hielt den heiligen Kelch. Ein anderer spielte die Viola und, anstelle der Messe, spielte er zum Tanz auf. Ein Dritter half dem Padre Cristóvão eine Herde vom anderen Ufer über den Fluss zu treiben – und wunderte sich später, als aus dieser ersten Herde mehr als tausend Stück Vieh geworden waren. So kamen wir zu unserem “Gado xucro“ (typische lokale Rinderrasse).
Um den Indianern etwas beizubringen, erzählten ihnen die Padres “Causos“. In leicht verständlichen Sätzen und ihnen bekannten Beispielen, sodass sie sich später an das Gehörte erinnern konnten. Aus diesem Grund verbanden sie das Jesuskind mit allen möglichen, den Indianern bekannten Wesen und Phänomenen – mit Fasanen, einem Plattfisch, einem Gürteltier, dem Stinktier und dem Vogel “Quero-quero“. Allerdings überspannten sie dann den Bogen mit der Behauptung, dass Jesus Christus auch den “Chimarrão“ erfunden hätte – da fingen viele Indianer an zu zweifeln, denn – du lieber Himmel – jedes Kind weiss doch, dass der ein Geschenk ihres Gottes “Tupã“ gewesen ist!
Die Städte der Guarani wuchsen mit Geschichten und Chorälen im Schatten des heiligen Kreuzes. Währenddessen mieden die Indianer des Waldes und jene aus der Pampa die Padres wie der Teufel die Dreifaltigkeit. Und zur gleichen Zeit kamen Leute aus São Paulo in die Pampa herunter, um sich mit halbwilden Pferden und Rindern zu versorgen – und vom Rio Prata kamen andere herauf, um den Paulistas die erbeuteten Tiere wieder abzujagen. Die liessen sich das nicht gefallen, und schon hatten wir hier unten den schönsten Krieg im Gange. Um den “Causo“ korrekt wiederzugeben: wer sich da bekriegte waren weder Paulistas noch Leute vom Rio Prata – vielmehr sprach man von einem Krieg zwischen Spanien und Portugal.
Und sie bekriegten sich nur. Weder pflanzten sie Bäume, noch bauten sie Häuser. Warum auch Häuser bauen, wenn man doch allenthalben in der Pampa den mächtigen “Umbu“-Baum antreffen konnte – gerade so gut wie ein Haus, im tiefen Schatten seiner weit ausladenden Äste und seinem dichten Blätterdach, unter dem man sich ebenso geborgen fühlte. Den einen diente er als Haus, den andern zur Bestattung ihrer Toten – zwischen seinen Wurzeln begraben, mit der Lanze in den erkalteten Händen.
Jahr um Jahr zogen die Spanier gegen die Portugiesen um sie zu töten, und die Portugiesen spiessten Spanier auf, wo sie auf sie trafen. Niemand gewann und niemand verlor, denn beide Seiten waren in etwa gleich stark und ebenso ausgerüstet. Bis man eines Tages entdeckte, dass dieser Krieg zu nichts führen würde, also erfand man einen anderen, erfolgversprechenderen: man verbündete sich und zog nun gemeinsam gegen die Guarani-Indianer ins Feld – Kanonen und Musketen gegen Bogen und Pfeile. Das war doch endlich mal ein Spass! Die Indianer starben allesamt, ihre Städte wurden geplündert – Überfluss verwandelte sich in Einöde. Aus diesem Krieg ging ein Heiliger hervor: Sankt Sepé Tiaraju, Häuptling der Guarani-Nation. Und auf der Landkarte erschien ein neuer, schön klingender Name für die Ländereien der portugiesischen Krone: “Continente de São Pedro do Rio Grande do Sul“ – was für ein schöner Name, Teufel noch eins!
Doch das Land hatte eben nur jenen schönen Namen – aber keine Bewohner. Es lag da einsam und verlassen, mit wilden Rindern und Pferden und mit seinen Umbus. Manchmal jedoch kamen wieder die Paulistas herunter, und im Galopp trieben sie so viel Vieh zusammen, wie es ihre Eile erlaubte. Nicht, dass sie einen neuen Krieg fürchten mussten – die Spanier hielten sich endlich an die vereinbarten Grenzen und schrieben ihre Städte dahinter in spanischer Sprache – wen sie jetzt zu fürchten hatten, waren berittene Indianer! Bei einem Zusammenstoss mit ihnen fiel einer der Paulistaner in die Hände der Minuanos – aber die Prinzessin Imembuí verknallte sich in ihn – sie heirateten – und dieser Verbindung entsprang ein hübscher Knabe. Später hat dann einer unseres “Männer-Clubs“ die Entstehung unserer Gaúcho-Rasse in Rio Grande do Sul aus dieser Episode abgeleitet. Ob dieses Kind der beiden tatsächlich der erste Gaúcho gewesen ist, kann ich nicht sagen. Aber es entspricht der Wahrheit, dass Indianer und Paulistaner miteinander zahlreiche Verbindungen eingegangen sind. Wurde ihnen ein Sohn geboren, nannte man diesen einen “Chiru“ – war es ein Mädchen, so bezeichnete man es mit “China“.
Währenddessen verfielen die antiken Guarani-Städte zu Ruinen. Und die Weissen, gold- und geldgierig wie sie waren, suchten vergeblich nach legendären Schätzen in ihren halb verfallenen Mauern. (Aber der Goldschatz der Jesuiten, wie jedermann weiss, befindet sich im “Jarau“ – davon später mehr). Zur selben Zeit zogen sich die wilden Indianer des Waldes immer weiter in diesen zurück, bis er sie endgültig verschluckt zu haben schien. Keine Spur fand man mehr von ihnen.
Die Spanier machten sich die allgemeine Verwirrung zunutze. Während die “Gaúchos“ nach versteckten Schätzen suchten oder mit den “Chinas“ weitere “Chirus“ produzierten, kamen sie von “drüben“ wieder über den Fluss herüber, um im Galopp Vieh zu stehlen und über den Fluss in ihren Teil von Südamerika zu treiben. So wie es aussah – würde jetzt alles nochmal von vorne beginnen?
Um einen neuen Krieg abzuwenden, sandte Portugal ein Schiff voller Paare von den Azoren-Inseln herüber und verteilte diese Rotschöpfe entlang der portugiesisch-spanischen Grenze, mit der Order, jeden “Castelhano“ (Spanier) zu töten, der beim Überschreiten der Grenze, beim Hausbau oder einer Pflanzung herüben erwischt wurde, oder der Kinder gezeugt hatte, die weder “China“ noch “Chiru“ waren.
Aus dieser Mischung entstanden die “Rio-Grandenser“ – und die sind etwas ganz anderes als die “Gaúchos“. Die Rio-Grandenser lebten auf der einen, die Gaúchos auf der anderen Seite – und auch in ihrer Lebensweise waren sie völlig verschieden: Die Rio-Grandenser wohnten in Häusern, während die Gaúchos unter freiem Himmel ihr Nachtlager aufschlugen – so wie die “Charrua“ es ihnen vorgemacht hatten.
Nach einer gewissen Zeit jedoch vereinten sich beide Lager unter einer gemeinsamen Aufgabe: die Herden für ihren König (El Rey) auf den reichen Weiden der Pampa zu hüten. Die Rio-Grandenser bauten die Häuser, ihre Frauen sorgten für die Ernährung, und die Gaúchos hüteten und verteidigten die Herden und zähmten die wilden Pferde.
So entstanden die autarken “Estâncias“, landwirtschaftliche Familienbetriebe, deren einzige Aufgabe es war, die Rinderherden zu vergrössern – aber nicht des Fleisches wegen, sondern in erster Linie wegen der Häute, die man zu Leder verarbeitete und exportierte. Rindfleisch war, zur damaligen Zeit ohne Konservierungseinrichtungen, ein zu schnell verderbliches Produkt – und Rio Grande war der einzige Bundesstaat, in dem sogar die schwarzen Sklaven täglich Rindfleisch in den Töpfen hatten.
Apropos Sklaven: Viele Estâncias wurden reich mit ihrem Häute-Export und begannen auch sich auf Landwirtschaft einzurichten – diese Arbeit auf den Weizenpflanzungen oblag den schwarzen Sklaven. Sie wurden, wie überall, von ihren Besitzern geschlagen und misshandelt. Wenn sie eine Möglichkeit zur Flucht sahen, nahmen sie sie war. So floh auch “Pai Quati“, von dem ich noch berichten werde.
Um die Häute zu verschiffen, den Weizen zu verkaufen oder Sklaven einzuhandeln, brauchte man Städte. Und die wurden gegründet . . . Hier “Nossa Senhora da Conceição do Arroio“ . . “Nossa Senhora da Luz“ . . . und “Majé“ vor der Nase der “Castelhanos“, die zuerst nur dahin dämmerte – nicht wegen der Spanier auf der anderen Seite des Flusses, sondern wegen einem verdammten Monster, das zehn Personen mit einem einzigen Haps verschlingen konnte, so wie man eine Bohne verschluckt (Ein “Causo“, von dem ich noch berichten werde).
Und die Städte entwickelten sich. Und eine Hauptstadt wurde geboren: Porto Alegre – der “lustige Hafen“ – dessen Schutzpatronin die Mutter Gottes selbst war. Jedoch beteten ihre Bürger am liebsten zur gütigen “Nossa Senhora das Dores“ – der Heiligen, die ihnen alle Schmerzen abnahm. Jedoch ihre Kirche brauchte Jahre, um endlich fertiggestellt zu werden, weil ein gehängter Sklave die Baustelle verflucht hatte, und die Mauern immer wieder zusammenbrachen – bis man ihre Konstruktion an eine andere Stelle verlegte.
Mit Estâncias, Fazendas, Dörfern, Kleinstädten und einer Hauptstadt – jetzt war aus dem Land tatsächlich ein Rio Grande geworden!
Den Spaniern allerdings gefiel überhaupt nicht, was sich in diesem Teil der Geschichte abgespielt hatte. Und sie kopierten auf ihrer Seite dasselbe, was El Rey auf unserer vollbracht hatte: Estâncias, Fazendas und Städte schossen jenseits der Grenze aus dem Boden. Und die Gemüter erhitzten sich schon wieder auf beiden Seiten. Es war wohl Rio Grandes Schicksal – und diesmal kam es ganz besonders dick und dauerte eine Ewigkeit: Die Knaben wuchsen zu Männern heran, mit der Waffe in der Hand – wurden Väter unter Waffen und spielten als Grossväter mit ihren Enkeln – nie ohne ihre Waffen in Reichweite. Die Pampa, welche einst grün gewesen, verfärbte sich rot vom Blut der Opfer. Blut düngte die Erde und verdunkelte die Seelen der Menschen. Nach einem ganzen Leben in Kampf bestand die einzig übrig gebliebene Fertigkeit der Männer – sowohl hüben wie drüben – aus der Kriegführung. Und wenn mal kein Feind in der Nähe war, dann stritten sie unter sich – “damit wir nichts verlernen“, sagten sie.
Und dann auf unserer Seite plötzlich der Krieg unter Brüdern, der noch einmal zehn Jahre dauern sollte: Die Revolution “Farroupilha“ – und 1893 ein weiterer Krieg, der nicht solange dauerte, aber viel mehr Menschen das Leben kostete: In einer einzigen Attacke am Rio Negro schlachtete man mehr als dreihundert Männer ab! Eine Barbarei, die selbst den wilden Indianern des Waldes unbekannt, und noch weniger bei den Charrua oder den Guarani je vorgekommen war – das erklärt sich wahrscheinlich daraus, dass die Indianer nur “Wilde“ aber keine “Barbaren“ waren.
Endlich schlich sich verschämt der Friede ein in Rio Grande. Aber auf den Estâncias blühten die Geschichten aus dem Krieg – die Männer erzählten von ihren Kämpfen. Und selbst wenn ihnen die Kleinsten zuhörten, waren es Geschichten aus dem Krieg. “Damit sie Männer werden“!
Ihre Mütter jedoch, voll der schrecklichen Erinnerungen an jene schwierigen Zeiten, wünschten nichts sehnlicher, als ihre unschuldigen Kleinen vom Schlachtfeld fernzuhalten. Und deshalb erzählen sie ihnen ihrerseits , in den kalten Juninächten, Geschichten zum Lachen: unterhaltsame Geschichten aus der Zeit, als die Tiere noch sprechen konnten.
Es gibt Momente, da vergessen sogar die Männer ihre Kriege. Und die “Causos“, welche sie dann zum besten geben, gehören zu den schönsten auf der Welt: “Salamanca do Jarau“ – sieben Mutproben, um die “Teiniaguá“ zu finden Die verzauberte maurische Prinzessin hütet den Schatz nun schon über zwei Jahrhunderte. Einer bestand die Mutproben! Und er wurde reich! Aber der Reichtum verwandelte sich in Traurigkeit. Er ging zum “Jarau“ und gab alles zurück (Die ganze Geschichte kommt noch).
Und es gibt Momente in Rio Grande do Sul, in denen alle still werden, mucksmäuschenstill – um der schönsten aller Legenden zu lauschen, und niemand erzählt sie so, wie der alte Eusebio – die Legende vom “Negrinho do Pastoreio“. Gross und Klein hören ihm zu und vergessen alle ihren Stolz und ihre Kleinmütigkeit. Aus tiefstem Herzen widmet man dem “Negrinho“ einen Kerzenstummel und zündet ihn für ihn an – den schwarzen Sklaven ohne Namen, der den Menschen in der Barmherzigkeit den Weg zur Erlösung weist. Und wenn die Kerze brennt, betet man.
Um was auch immer man ihn bittet, er erfüllt es…..