750.000 brasilianische Kinder wurden offiziell nie geboren

Ohne Ausweis geht doch heutzutage eigentlich gar nichts. Man kann kein Bankkonto eröffnen, nicht wählen, rein gar nichts auf Kredit kaufen und natürlich auch keine staatlichen Hilfen wie die „Bolsa Família“ in Anspruch nehmen. Und man bekommt auch keine Arbeitspapiere, zahlt nie in Versorgungskassen ein und wird immer schwarz beschäftigt werden.

Und doch gibt es unzählige Brasilianer, die sich nicht ausweisen können, die nie eine Geburtsurkunde von sich gesehen haben, die niemals irgendwo registriert wurden. Für den Staat sind sie einfach nicht existent. Sie besitzen kein Eigentum, kein Auto und haben auch offiziell keine Kinder. Denn ohne die Dokumente der Eltern, können auch Kinder nicht so einfach angemeldet werden.

Und so wächst derzeit eine ganze Generation von Kindern heran, die es für den Staat einfach nicht gibt. Nicht alle davon haben Eltern ohne Dokumente. Doch diese haben es einfach versäumt, das Standesamt aufzusuchen und ihren Spross anzumelden. Oder sind einfach nicht richtig informiert. Rund 750.000 Kinder soll es in Brasilien geben, Tendenz steigend, die nirgendwo auf einem Stück Papier vermerkt sind. Sie werden nie einen Kindergarten oder eine Schule besuchen können, nie in den Genuss von Beihilfen kommen.

Am schlimmsten ist es im Nordosten des Landes, wo fehlende Infrastruktur das Leben zusätzlich erschwert. Im dortigen ärmsten Bundesstaat Piauí sollen sogar 38% der Kinder nicht angemeldet sein. Ähnliche Zahlen werden auch aus dem Amazonas gemeldet. Dabei werden die Urkunden und Ausweise für Personen mit niedrigem oder gar keinem Einkommen sogar kostenlos ausgestellt.

Die Bundesstaaten reagieren darauf mit unterschiedlichen Aktionen. So wird oftmals ein Tag ausgerufen, an denen alle Einwohner ohne entsprechende Dokumente sich kostenlos registrieren lassen können. Ich selbst weiss aus eigener Erfahrung, dass dabei oft alle Augen seitens der Meldeämter zugedrückt werden, da die Nachweise oft fehlen. Nachbarn oder Verwandte fungieren dann als Zeugen, der Name wird festgelegt und fertig. Auch wenn mit Sicherheit der ein oder andere Missbrauch betrieben wird und sich so mancher eine neue Existenz oder ein weiteres Kind verschafft, für die Mehrheit der Menschen ist es einfach zwingend erforderlich, endlich korrekte Dokumente zu besitzen.

In Aracaju im Bundesstaat Sergipe ist seit einiger Zeit ein Gesetz in Kraft, welches die Anmeldung von neugeborenen Kindern erheblich vereinfacht. Inzwischen reicht es aus, wenn eine unverheiratete Mutter alleine mit dem Kind im Standesamt vorspricht. Selbst wenn sie keinen eigenen Personalausweis besitzt, reicht der Mutterpass des Krankenhauses aus. Die Ausstellung der Geburtsurkunde ist kostenlos und so konnten nachträglich bereits 1.500 Kinder registriert werden.

Auch im übrigen Land wird vielen nicht angemeldeten kleinen „Brasileiros“ inzwischen geholfen. Aber meist nur, wenn die Eltern versuchen, ihre Kinder in einem Kindergarten oder einer Schule anzumelden. Dann kommt die Wahrheit ans Licht und die Behörden können eingreifen. Wenn der Nachwuchs jedoch nie in einer solchen Institution vorgestellt wird und nie mit dem Gesetz in Konflikt gerät, dann bleibt er sein Leben lang „não existente“ – ein Brasilianer, den es eigentlich gar nicht gibt.

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AutorIn: Dietmar Lang

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