Das andere Gesicht Brasiliens

Heute, am 19. April, ist der “Tag des Indio” im offiziellen Kalender Brasiliens (eingeführt durch ein Gesetz während der Regierung Getúlio Vargas, 1943) – aber leider gibt es nur wenig zu feiern.

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Vor langer, sehr langer Zeit war der Kontinent, den man später Südamerika nannte, Heimat einer Bevölkerung, die unterteilt war in zahlreiche, unterschiedliche Ethnien mit einer noch grösseren Anzahl von Sprachen. Soweit sie zurückdenken konnten, hatten schon ihre Vorfahren hier gelebt, innerhalb einer menschlichen Gesellschaft, der es gelungen war, trotz aller Gefahren und Schwierigkeiten, die eine Existenz in den ausgedehnten Wäldern mit sich brachte, in beispielhafter Harmonie mit dieser wilden Natur zu leben. Sie nutzten ihre Ressourcen mit Umsicht und Zurückhaltung, entnahmen ihr nur das Nötigste, was sie für ihr bescheidenes Leben brauchten. Dann erschien eines Tages der weisse Mann . . .

“Und heute nehmen die Weissen für sich in Anspruch: “Wir haben das Land Brasilien entdeckt“! Das ist eine offensichtliche Lüge! Dieses Land existierte schon seit eh und je, und (Gott) Omama hat uns mit ihm geschaffen. Schon unsere Urväter kannten diese Erde. Sie wurde nicht durch die Weissen entdeckt! Viele andere Völker lebten ebenfalls auf ihr. Trotz alledem belügen sich die Weissen selbst und lehren ihre Kinder, dass sie dieses Land entdeckt hätten. So als ob es leer gewesen wäre! So als ob wir Menschenwesen es nicht schon seit Anbeginn der Zeit bewohnt hätten! Was die Weissen tatsächlich entdeckt hatten war, dass diese Erde schon lange vorher von unseren Vorfahren entdeckt worden war“! (Kommentar von Davi Kopenawa Yanomami – Índio vom Stamm der Yanomami).

Eigentlich kann man den “Tag des Indios“ kaum mit gutem Gewissen begehen oder gar “feiern“ – vor allem nicht von Seiten derer, die als Invasoren in diesen Kontinent eingefallen sind und sich als seine “Entdecker“ ausgaben, sich dann als seine “Besitzer“ aufspielten und seine Ureinwohner versklavten – und diejenigen, welche sich ihrem Joch nicht beugen wollten, skrupellos ermordeten. Ob man das schlechte Gewissen der Geschichte durch den Lauf der Jahrhunderte entlasten kann – nach dem Motto: Die Zeit heilt alle Wunden? Das kann man schon deshalb nicht, weil es, zum Beispiel in Brasilien bis zum heutigen Tag immer noch zu Gewaltakten gegenüber indigenen Gruppen kommt – durch Goldsucher, Holzfäller, Paranuss- und Latexsammler, durch Landbesetzer, durch sich ausbreitende Landwirtschaft und Viehzucht, deren Betreiber die vom Gesetz demarkierten Grenzen der Indianer-Territorien (ITs) einfach ignorieren.

Wenn Brasilien heute den “Tag des Indios“ begeht, so ist dies nicht mehr als eine Augenwischerei gegenüber der grossen Bevölkerungsmehrheit, die sowieso kaum etwas Konkretes über ihre Ureinwohner weiss – sie entweder mit Vorurteilen belegt oder idealisiert – sie generell aber als unbedeutend und in die Vergangenheit gehörig betrachtet. Und die Verantwortlichen in diesem Land sehen sich einer Vielfalt von Problemen gegenüber, die von den indigenen Gästen an “ihrem Ehrentag“ eingeklagt werden, zum Beispiel: Die mangelhafte medizinische Versorgung durch die staatlichen Stellen, die viel zu langsam fortschreitende Demarkierung der Indio-Territorien (ITs), die zunehmenden Konflikte der Indios mit den in ihre Territorien eindringenden Viehzüchtern und Holzfällern – um nur einige zu nennen. Und das grösste Drama ergibt sich aus dieser Gesamtproblematik: Das Sterben der indigenen Kulturen.

Damit sprechen wir von der Bedrohung einer Exterminierung von 190 Sprachen (nach Daten der Unesco aus dem Jahr 2010). Mit anderen Worten – die kulturelle Vielfalt seiner Eingeborenen, ein immaterielles, unbeschreiblich wertvolles Gut Brasiliens, stirbt, weil sie kein Echo, kein Regierungsinteresse, keine kontinuierliche Unterstützung erfährt. Mit der Sprache begräbt man die Mythen und Geschichte dieser Völker, ihre Kenntnisse, ein in seiner Vielfalt unschätzbares Wissen. Denen, die solchen Frevel ignorieren wünsche ich einen “glücklichen Indianer-Tag“!

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Aus unserer Redaktion · Bildquelle: Elza Fiuza / AgenciaBrasil

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