Abseits der Musik: das war Rock in Rio 2011

700.000 Besucher feiern an sieben Veranstaltungstagen fast 100 Stunden Party in der 150.000 Quadratmeter großen „Cidade do Rock“: alleine diese Zahlen machen Rock in Rio 2011 schon zu einem gewaltigen Ereignis. Doch es gibt weit mehr über den Musikmarathon berichten, der rund 35 Kilometer von der Copacabana entfernt die Massen in seinen Bann zog.

Das BrasilienPortal war live an allen sieben Veranstaltungstagen (23./24./25.09. sowie 29./30.09. und 01./02.10.) vor Ort und versucht sich nun an einer Bilanz – allerdings ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

Die Erwartungen waren im Vorfeld zweifelsohne hoch. Nach 10 Jahren kehrte Rock in Rio endlich in seine Geburtsstadt Rio de Janeiro zurück. Nach 1985, 1991 und 2001 war es die vierte Ausgabe des Megaspektakels im größten Land Südamerikas. Doch als echten Nachfolger darf man Rock in Rio 2011 dabei nicht verstehen. Brasilien hat sich mittlerweile verändert, ist gewachsen, hat andere Ansprüche, stellt inzwischen andere Bedingungen an einen solchen Megaevent.

Dies war auch Festivalgründer Roberto Medina klar, dem zudem ein ehrgeiziger Bürgermeister bei den Planungen nicht von der Seite wich. Nicht noch einmal sollten zehn lange Jahre vergehen, schon jetzt müssten die Weichen für weitere Festivals in den kommenden Jahren gestellt werden. Mit dem „Parque Olímpico Cidade do Rock“ wurde daher direkt ein Veranstaltungsgelände geschaffen, in welchem nicht nur die Ausgaben 2013 und 2015 stattfinden sollen, sondern das in der Zwischenzeit der Bevölkerung auch als Freizeitstätte und 2016 den Sportlern bei der Olympiade als Trainingsgelände dienen soll. Und daher war die Verkündung durch Medina am letzten Festivaltag, Rock in Rio auch in zwei Jahren an gleicher Stelle zu veranstalten, eher Makulatur und keinesfalls eine Überraschung.

Doch der Unternehmer strahlte bei der Ankündigung nicht nur vor Vorfreude, auch im Rückblick auf das gerade endende Megaspektakel konnte er mehr als zufrieden sein. Denn nachdem Rock in Rio in den vergangenen Jahren aus Kostengründen in Lissabon und Madrid Station gemacht hatte, lag nun wieder das weltweite Interesse der Musikfans auf der Metropole unter dem Zuckerhut. 180 Millionen Internetuser in 200 Ländern hatten das Festival am heimischen Computer verfolgt und dabei auch fleißig die Kanäle in den sozialen Netzwerken genutzt und bedient. 4,5 Millionen User folgten dem offiziellen Twitter-Kanal, der Hashtag #RockinRio belegte bei den „Trending Topics“ zudem in 13 Ländern immer wieder den Spitzenplatz. Die offizielle Webseite selbst verzeichnete laut Angaben der Organisatoren an den beiden Festivalwochenenden insgesamt 5 Millionen einzelne Besucher.

Rio de Janeiro selbst wurde dadurch ebenfalls das Ziel von Musikfans, die zumindest einen der sieben Tage in der „Cidade do Rock“ verbringen wollten. Wie die Tourismusbehörde der Stadt nach Festivalende bestätigte, hat Rock in Rio 2011 umgerechnet rund 370 Millionen Euro in die Kassen der Metropole gespült. Die Hotels verkündeten zudem eine durchschnittliche Auslastung von über 90 Prozent. 350.000 Touristen waren für das Festival in die „Cidade Maravilhosa“ gekommen, ein Viertel davon aus dem Ausland.

Das Publikum vor Ort in der „Rockstadt“ feierte und vergnügte sich selbstverständlich ebenfalls mehr als ausgelassen. Aber nicht nur die knapp 160 großen und kleinen Shows auf den vier Bühnen zogen die Besucher in den Bann, auch die zahlreichen anderen Attraktionen, die durch den Kauf der mit 80 Euro nicht gerade billigen Tageskarte kostenfrei zu nutzen waren, waren mehr als gefragt. Über 83.000 Personen bestiegen dabei Riesenrad, Achterbahn und Freifall-Turm oder passierten an einer Seilbrücke die „Palco Mundo“ benannte Hauptbühne. Kleine Spielereien und andere Einzeldarbietungen von Artisten und Magiern verkürzten dabei die Wartezeiten bis zum nächsten musikalischen Highlight und ließen somit kaum Langeweile aufkommen.

Dass natürlich auch die vielen Event-Stände der Sponsoren gut besucht waren, bedarf dabei fast keiner Erwähnung mehr. Lediglich die langen Schlangen und die damit verbundenen Wartezeiten von teilweise mehreren Stunden vor den zahlreichen Attraktionen trübten ein wenig das anschließend dann meist doch eher kurze Vergnügen. Auch an den Essens- und Getränkeständen standen sich die Besucher im wahrsten Sinne des Wortes Löcher in den Bauch. Dabei sind selbst hier Rekorde zu vermelden. Bei der brasilianischen Fast-Food-Kette Bob’s gingen an den sieben Tagen insgesamt 448.000 Hamburger über die Theke, an einem Veranstaltungstag wurde mit 79.112 Stück sogar ein 26 Jahre alter Rekord gebrochen. Bei der ersten Ausgabe von Rock in Rio 1985 hatte McDonald’s an einem Tag 58.175 Hamburger verkauft und sich damit einen Platz im Guiness Buch der Rekorde gesichert.

Zudem fanden 21.000 Burritos, 25.522 Portionen Pasta und 55.783 Pizzen ihren Weg in den Mägen hungriger Musikfans. Nachgespült wurde mit Unmengen von Wasser, Erfrischungsgetränken und natürlich auch mit Bier. 1,7 Millionen Becher oder 700.000 Liter des beliebten Gerstensaftes konnte eine niederländische Großbrauerei absetzen, und dies unter anderem auf ungewöhnliche Weise: mit einem etwas mehr als 11 Liter fassenden Bier-Tornister gingen zahlreiche Verkäufer kontinuierlich über das Gelände und schenkten den Durstigen einfach immer wieder nach. Allerdings wurden die unverhältnismäßig hohen Preise von den Besuchern immer mehr kritisiert, so dass die Musikfans am zweiten Festivalwochenende dann zumindest auch eigene Sandwiches und alkoholfreie Getränke mitbringen durften.

Der beständige Hunger und Durst sorgte allerdings auch für ein gewaltiges Abfall-Problem. Insgesamt sollen laut den Organisatoren an den sieben Festivaltagen stolze 381 Tonnen Müll angefallen sein. Dieser landete zum Ärger der 200 Mitarbeiter des städtischen Abfallentsorgers allerdings nicht immer in den zuletzt 800 bereitgestellten Tonnen, sondern oftmals einfach auf dem Boden. Dementsprechend verwüstet sah das gepflasterte und in weiten Teilen mit Kunstrasen ausgestattete Festivalgelände am jeweils kommenden Morgen aus. Trotz der Appelle der Festivalleitung sowie eingespielter Animationen zwischen den Shows, die zur Nutzung der Tonnen aufriefen, änderte sich daran bis zum Ende von Rock in Rio 2011 leider nur wenig.

Auch bei den sanitären Einrichtungen kam es teilweise zu massiven Problemen. Obwohl die Veranstalter bewusst auf hunderte von Chemie-Klos verzichtet und eigene Toilettenanlagen aufgebaut hatten, lag stellenweise ein nicht mehr ertragbarer Urin-Gestank über den entsprechenden Bereichen. Zum einen lag dies zwar an den männlichen Festivalbesuchern selbst, die im Falle von nötigen Wartezeiten an dem Pissoir einfach ungeniert an die gegenüberliegende Wand pinkelten. Ganze Seen von Urin waren die Folge, selbst verstärktes Reinigungspersonal bekam die Situation nicht mehr in den Griff. Und zum anderen versagte zumindest an einem Veranstaltungstag nach einem kurzen Regen das Abwassersystem und drückte die Gerüche wieder an die Oberfläche.

Ansonsten registrierten die Gesundheitsbehörden, die kontinuierlich die Anlage überwachten, täglich Fälle von fehlendem Toilettenpapier, Seife und mangelnder Hygiene. Zwar wurden neben entsprechenden Aufforderungen zur Behebung der Missstände auch Bußgelder ausgestellt, doch diese sind nach der aktuellen Gesetzeslage vergleichsweise gering, als dass sie dem Veranstalter wirklich schmerzen würden. So wurde während der Festivaltage auch hier nur geringfügig nachgebessert.

Vielmehr Sorgen bereitete dem Team rund um Roberto Medina, der nach eigenen Angaben die ganze Zeit über auf dem Gelände verweilte und die Situation überwachte, die allgemeine Sicherheit. Bereits am ersten Veranstaltungstag war es zu zahlreichen Taschendiebstählen gekommen, lange Schlangen an der extra am Gelände installierten Polizeiwache waren die Folge. Auch Raubüberfälle auf Besucher außerhalb der „Cidade do Rock“ wurden registriert. Hier hatten es die Kriminellen vor allem auf die Eintrittskarten abgesehen. Aber auch mit Fällen von gefälschten Tickets, unerlaubtem Eindringen auf das Gelände oder dem nicht genehmigten Verkauf von Produkten durch “fliegende Händler” musste sich die Polizei beschäftigen.

Die Organisatoren verstärkten nach den ersten Diebstahlwellen nicht nur die Präsenz des privaten Sicherheitsdienstes innerhalb der Anlage, auch zwischen dem zentralen Busbahnhof und dem Eingang des Geländes bezogen weitere Einheiten von Militärpolizei und städtischen Ordnungshütern Stellung. Nachdem dies jedoch keine Reduktion der Vorfälle zur Folge hatte, gingen zuletzt auch Polizeikräfte zwischen dem Publikum auf Streife. Aber selbst dies konnte letztendlich nicht verhindern, dass so mancher Rockfan am Ende das Fehlen seines Handys oder seiner Geldbörse beklagen musste.

Rock in Rio 2011 war trotz dieser für die Betroffenen unangenehmen Zwischenfälle ein extrem friedliches Musikspektakel. Allerdings hatte der medizinische Dienst unabhängig davon jede Menge zu tun. Insgesamt 8.600 Besucher benötigten eine Behandlung in den an verschiedenen Stellen aufgebauten Gesundheitszentren des Dienstleisters Rede D’Or. Laut Dr. João Pantoja, medizinischer Leiter des Festivals, konnten 99 Prozent sämtlicher Patienten direkt versorgt werden, vornehmlich leisteten die Mediziner bei Prellungen und Verstauchungen erste Hilfe. Daneben wurden zahlreiche Fälle von Kopfschmerzen und Bluthochdruck verzeichnet. Im gesamten Festivalverlauf mussten 45 Personen für eine weitere Behandlung in Krankenhäuser gebracht werden, lediglich drei lebensbedrohliche Fälle wurden registriert: eine Lungenembolie, ein Schlaganfall und ein Herzstillstand.

Achillesferse des Musikspektakels war jedoch ohne Zweifel der Verkehr. Obwohl das Gelände weiträumig abgesperrt wurde und die Stadt unzählige Sonderbusse eingesetzt hatte, kam es jeden Morgen an dem eigens dafür unweit des Geländes eingerichteten Busterminal zu chaotischen Szenen. Restlos überfüllte Busse, genervte Fahrer und Anweiser, müde Besucher in scheinbar endlosen Schlangen: das zuvor als perfekt beschriebene System brach mit dem Ansturm der Rockfans nach Ende der täglichen Shows einfach in sich zusammen.

Zu Beginn waren selbst die Taxistände fast eine halbe Stunde Fußmarsch entfernt und damit keine Alternative. An den letzten Tagen durften die Taxis dann zwar näher ans Gelände heran, verlangten jedoch horrende Preise und weigerten sich oftmals, nach der Uhr zu fahren. Auch an den Umsteigebahnhöfen waren bis zum letzten Veranstaltungstag Wartezeiten von bis zu einer Stunde keine Seltenheit, so dass die Fahrt nach Hause oder ins Hotel selbst in Bezirke wie die in Richtung Stadtzentrum gelegene Copacabana mitunter drei Stunden in Anspruch nahm. Den Hinweg hatte man noch in der Hälfte der Zeit bewältigt.

Dass mit dem öffentlichen Nahverkehr nicht alles rund lief, gestand am Ende auch Bürgermeister Eduardo Paes ein. Er gelobte in Anwesenheit von Roberto Medina wiederholt Besserung und betonte, aus den Fehlern dieser Ausgabe lernen zu wollen. Zudem sei 2013 das sich derzeit im Bau befindliche Schnellbus-System einsatzbereit, was den An- und Abtransport der Gäste weiter erleichtern würde. Vermutlich hoffen die Verantwortlichen jedoch auch darauf, durch weniger Besucher die Situation in zwei Jahren leichter bewältigen zu können.

Wer von Rock in Rio trotz all der vorgenannten Schwierigkeiten noch immer nicht genug hatte, dem boten die Organisatoren bereits vor Festivalende einen Vorgeschmack auf die kommenden Ausgaben. Für umgerechnet knapp 32 Euro kann man derzeit Mitglied im „Rock in Rio Club“ werden und erhält dabei 20 Prozent Rabatt beim Kauf der hauseigenen Merchandising-Produkte. Zudem ist ein Recht am Ticket-Vorverkauf für Rock in Rio 2013 in Brasilien garantiert, auf Karten für die im kommenden Jahr in Lissabon und Madrid stattfindenden Konzerte gibt es 15 Prozent Nachlass.

Bereits 15.000 „Mitgliedskarten“ wurden laut den Veranstaltern bislang abgesetzt, die Zahl dürfte jedoch schnell ansteigen. Festivalgründer Roberto Medina plant nämlich einige massive Änderungen für die kommende Ausgabe. Unter anderem will der Erfolgs-Unternehmer die tägliche Besucherzahl von derzeit 100.000 um 15.000 auf 85.000 senken, um den Musikfans eine größere Bewegungsfreiheit auf dem Gelände zu gewährleisten. Und da noch nicht klar ist, ob es im September 2013 sechs oder sieben Veranstaltungstage geben wird, könnten damit im schlechtesten Fall „nur“ 510.000 Tickets zur Verfügung stehen. Die 700.000 Tickets beim jetzigen Musikmarathon jedenfalls waren binnen weniger Tage ausverkauft. Viele Fans mussten sich notgedrungen mit Livestreams und TV-Übertragungen zufrieden geben – sie sind nun die wohl potentiellsten „Kunden“ für die limitierte Club-Mitgliedschaft beim populärsten Musikfestival der Welt.

Am Ende unserer Bilanz steht jedoch auch fest: Rock in Rio 2011 wurde von den Musikfans hervorragend angenommen. Laut einer Blitzumfrage des Meinungsforschungsinstituts Ibope wollen 92 Prozent der diesjährigen Besucher auch 2013 wieder in der “Cidade do Rock” das Mammutspektakel miterleben. Befragt wurden insgesamt 700 Personen, jeweils 100 an jedem Veranstaltungstag.

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AutorIn: Dietmar Lang · Bildquelle: Dietmar Lang / IAPF

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