Insektensterben – Folgen für Mensch und Umwelt

Zuletzt bearbeitet: 22. Mai 2024

Lebensbedingungen für die Nützlinge müssen stimmen

Es reicht jedoch nicht aus, Nützlinge einfach entlang der Äcker auszubringen. Um den Einsatz von Pestiziden wirkungsvoll zu reduzieren, müssen Nützlinge gute Lebensbedingungen in der Agrarlandschaft vorfinden – sowohl auf den Feldern als auch in der Landschaft insgesamt. Dafür benötigen sie vielfältige Strukturen:

Hecken und Bäume oder auch Teiche, Steinhaufen oder Trockenmauern bieten ihnen Raum zur Fortpflanzung und zum Überwintern. Als wichtige Rückzugsräume für Nützlinge funktionieren auch temporäre Strukturen wie Brachen, Altgrasstreifen oder Blühflächen mit einheimischen Wildkräutern.

Blattlaus – Foto: Mabel Amber who will one day auf Pixabay

Eine Studie aus England zeigt, dass blühende Untersaaten bei Apfelbäumen dazu führen können, die Anzahl der natürlichen Feinde von Blattläusen – vor allem Spinnen und Ohrwürmer – deutlich zu erhöhen. Das Ergebnis: Blattlauskolonien werden auf natürliche Weise reduziert und die Apfelernte geschützt. Um Nützlingen ein gutes Lebensumfeld zu sichern, sollten Felder – sowohl im konventionellen als auch im ökologischen Landbau – nicht zu groß sein, sondern etwa von Hecken oder Blühstreifen durchzogen und durch abwechslungsreiche Feldsäume begrenzt werden. So kann eine effektive Besiedelung der Nutzflächen mit Nützlingen sichergestellt werden.

Der tödliche Pestizid-Kreislauf

Eingespart werden durch Nützlinge teure Pestizide und menschliche Arbeitszeit: Hochrechnungen zufolge leisten natürliche Feinde von Schadinsekten allein in den USA einen Beitrag zum Pflanzenschutz von 4,5 Milliarden Dollar pro Jahr. Eine großflächige ökologische Aufwertung der Agrarlandschaften würde ermöglichen, auf natürliche Weise die Anzahl an Schädlingen zu reduzieren und Erträge zu sichern.

Die derzeitige Realität auf vielen landwirtschaftlichen Flächen sieht jedoch schlecht für Nützlinge aus. Längst ist eine Form der Landwirtschaft entstanden, die sich von natürlicher Regulierung weitgehend entkoppelt: Der großflächige Anbau von nur wenigen Kulturpflanzenarten in kaum abwechslungsreichen Fruchtfolgen führt zu einem gesteigerten Pestizideinsatz. Gefährdet werden dadurch auch die natürlichen Helfer der Schädlingsbekämpfung. Damit wird ein Kreislauf geschaffen, in dem eine abnehmende Zahl von Nützlingen einen steigenden Pestizideinsatz nach sich zieht, der Nützlinge weiter reduziert, was wiederum den Pestizideinsatz ansteigen lässt.

Versprühen von Pestiziden – Foto: Jan Amiss auf Pixabay

Es bleibt daher die Aufgabe der Politik, wirtschaftliche Anreize für eine naturfreundlichere Bewirtschaftung zu schaffen und eine ökologische Schadschwelle zu definieren. Diese Schadschwelle sollte neben den ökonomischen auch die ökologischen Folgekosten eines Pestizideinsatzes berücksichtigen – etwa den Schaden an Nützlingen. Zivilgesellschaftliche Organisationen, Wissenschaft und Umweltbehörden fordern daher: Agrarlandschaft und Landbewirtschaftung müssen so ausgestaltet werden, dass heimische Nützlinge genügend sicheren Lebensraum finden.

Wir vernichten uns selbst mit Pestiziden in Lebensmitteln

Pestizidanwendung führt zu Rückständen in Lebensmitteln, denen vor allem im globalen Süden viele Menschen ausgesetzt sind. Belastete Ware aus dem außereuropäischen Ausland, wo weniger reguliert wird, landet als Import auch auf EU-Tellern. Die tägliche Aufnahme pestizidbelasteter Nahrungsmittel birgt Gesundheitsrisiken für alle Menschen, besonders gefährdet sind empfindliche Personengruppen wie Schwangere und Kinder. Daher sind fast überall auf der Welt Höchstmengen für Pestizide in Lebensmitteln festgelegt.

Die Vereinten Nationen geben seit 1963 den Codex “Alimentarius“ heraus, eine Sammlung von Normen für Lebensmittelsicherheit und Produktqualität – die darin enthaltenen Rückstandshöchstmengen für Pestizide gelten international als eine wichtige Referenz. Allerdings gibt es je nach Land und Region große Unterschiede, welche Belastungsmengen den Menschen zugemutet werden.

Die hoch belasteten Lebensmittel aus Nicht-EU-Staaten

Brasilien bürdet seiner Bevölkerung Rückstandshöchstgehalte in Lebensmitteln auf, die zum Teil doppelt oder dreifach, in einigen Fällen auch hundertfach über den maximalen Rückstandswerten der EU liegen. 2021 überschritten dem offiziellem brasilianischen Rückstandsbericht zufolge 23 Prozent der Proben sogar die ohnehin schon hohen brasilianischen Rückstandshöchstgehalte.

Raupe Praia de Lua – Foto: sabiá brasilinfo

Auch Wirkstoffe, die in der EU verboten, aber in Brasilien erlaubt sind, wurden als Rückstände in brasilianischem Getreide, Obst und Gemüse nachgewiesen. Über den Export gelangen Lebensmittel mit diesen Rückständen auch in andere Länder. Russland erwog 2019 wegen hoher Glyphosatrückstände, die Einfuhr von brasilianischen Sojabohnen auszusetzen. 385 Millionen Menschen erkranken jährlich an Pestizidvergiftungen. Ein internationaler Verhaltenskodex der Weltgesundheits¬organisation soll den weltweiten Umgang mit Pestiziden verbessern und Vergiftungen vermeiden. Doch weil gesetzliche Regelungen fehlen, passiert wenig.

So können wir das Insektensterben beenden

Um das Massensterben der Insekten zu beenden und unsere Gesundheit und Versorgung mit Nahrungsmitteln zu sichern, muss die Landwirtschaft insgesamt nachhaltiger werden. Dazu können zum Beispiel insektenschonende Beweidung einen Beitrag leisten. Agrarchemikalien sollten nicht mehr vorbeugend, sondern nur als letztes Mittel eingesetzt werden dürfen. Wir brauchen Regelungen zur Begrenzung der Lichtverschmutzung, damit Lampen und Beleuchtung für Insekten nicht mehr zur tödlichen Falle werden.

Schmetterling Blauer Morphofalter – Foto: Gaby auf Pixabay

Aber auch jeder Einzelne kann sich mit einem naturnah gestalteten Garten oder Balkon und dem Konsum biologisch produzierter Lebensmittel für den Insektenschutz einsetzen. Insekten sind faszinierende, wunderschöne und für unser Überleben unverzichtbare Mitbewohner unserer Erde. Sorgen wir gemeinsam dafür, ihr stilles Sterben zu beenden!

Die EU-Vorgaben werden von Pestizid-Herstellern umgangen

Für jeden in der EU genehmigten Pestizid-Wirkstoff wird festgelegt, wie hoch sein möglicher Rückstand in den verschiedenen Lebensmitteln maximal sein darf. Überschreiten Waren diesen Wert, dürfen sie nicht gehandelt werden. Für die Festsetzung dieser Rückstandshöchstmengengehalte (RHMG) werden neben der Anbaupraxis die Giftigkeit der Wirkstoffe und die Verzehrmengen für die unterschiedlichen Lebensmittel berücksichtigt.

Nahrung für Babys muss wegen deren besonderer Empfindlichkeit strengere Vorgaben erfüllen. In der EU werden Lebensmittel jährlich anhand von Stichproben kontrolliert und die Ergebnisse in Berichten der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) veröffentlicht. 2019 überschritten 3,9 Prozent der Lebensmittel aus der EU die erlaubten maximalen Rückstandshöchstgehalte. Insgesamt war die Hälfte der Lebensmittel auf dem EU-Markt frei von Pestizidbelastungen, 27 Prozent der untersuchten Nahrungsmittel enthielten Mehrfachrückstände.

Besonders häufig wurden Mehrfachrückstände in frischen Produkten wie Johannisbeeren, Süßkirschen, Grapefruits, Rucola und Tafeltrauben festgestellt. Trauriger Spitzenreiter war eine Probe Rosinen mit Rückständen von 28 verschiedenen Pestiziden. Gesundheitsfachleute kritisieren, dass es keinen Summen-Rückstandshöchstgehalt für Mehrfachbelastungen von Pestiziden in Lebensmittel gibt. Ein weiterer Punkt: Verlieren Wirkstoffe beispielsweise wegen einer Einstufung als krebserregend ihre EU-Genehmigung, wird der maximale Rückstandshöchstgehalt automatisch heruntergesetzt auf in der Regel 0,01 Miligramm pro Kilogramm, um die Gesundheit der Menschen zu schützen.

Gottesanbeterin – Foto: alper eral auf Pixabay

Diesen Wert müssen dann auch Importwaren einhalten. Pestizidherstellern bringt es einen Vorteil, wenn sie einer zu erwartenden Einstufung ihres Wirkstoffs als gesundheitsgefährlich entgehen, indem sie die Genehmigung in der EU einfach auslaufen lassen. So können sie „Importtoleranzen“ beantragen: eine Hochsetzung der Rückstandshöchstmengen. Pestizide, die ihre Genehmigung explizit aus Gesundheitsgründen verloren haben, wird das nach EU-Recht grundsätzlich nicht gewährt.

In Obst und Gemüse finden sich Mehrfachrückstände

In Tomaten und Grünkohlproben aus drei verschiedenen Gegenden in Kenia wurden 2020 insgesamt 25 verschiedene Pestizid-Wirkstoffe gefunden, von denen 51 Prozent in Europa längst vom Markt genommen wurden. Maximal wurden zehn verschiedene Wirkstoffe in einer Tomatenprobe gefunden. Von den insgesamt 25 Proben überschritten 60 Prozent die erlaubten maximalen Rückstandshöchstgehalte.

Besorgniserregend ist hierbei, dass diese beiden Gemüsesorten zu den Grundnahrungsmitteln der kenianischen Bevölkerung zählen.
Auch Tomatenproben aus Nigeria wiesen erhöhte Rückstandsmengen auf, unter anderem von Permethrin. Dieses Insektizid wird von der amerikanischen Umweltbehörde (EPA) als „wahrscheinlich krebserregend“ eingestuft. Bohnen aus Nigeria weisen regelmäßig zu hohe Belastungen auf, sodass ein Exportverbot von Seiten der EU erhoben wurde.

Geschädigt werden Nervensysteme und Organe

Menschen kommen in unterschiedlichen Situationen mit Pestiziden in Berührung – auf dem Feld und im Forst, durch Lebensmittel oder Trinkwasser. Treten Krankheitssymptome kurz nach Kontakt auf, spricht man medizinisch von einer akuten Pestizidvergiftung. Deren Opfer können sich schlapp, müde und abgeschlagen fühlen und wie bei einer Grippe an Kopf- und Gliederschmerzen leiden. Darüber hinaus wird häufig der Magen-Darm-Trakt angegriffen – die Folgen sind Übelkeit, Erbrechen oder Durchfall. Folgen zeigen sich auch im menschlichen Nervensystem. Bei schweren Verläufen versagen schließlich die Organe: Herz, Lunge oder die Nieren setzen bei einer solchen Pestizidvergiftung aus. Etwa 11.000 Menschen sterben unbeabsichtigt daran, Jahr um Jahr.

Rote Vogelspinne – Foto: sabiá brasilinfo

Weil Pestizide nur schwer zu kontrollieren sind und sie leicht Gegenstände und Lebensmittel kontaminieren, sind auch Menschen außerhalb des Agrarsektors gefährdet. Wegen unzureichender oder nicht eingehaltener Sicherheitsvorkehrungen können schnell auch Unfälle passieren. Zwei Beispiele: Weil ihr Mittagessen mit einem Speiseöl zubereitet wurde, das durch das Pestizid Monocrotophos verunreinigt war, starben 2013 im indischen Bihar 23 Schulkinder. Im gleichen Jahr erlitten im brasilianischen Rio Verde über 90 Kinder und Erwachsene eine Vergiftung, weil der Pilot eines Agrarflugzeugs versehentlich den falschen Knopf drückte – und über einer Schule, die in der Nähe von Mais- und Sojafeldern liegt, ein Insektizid versprühte.

Die Missachtung der WHO-Empfehlungen

Verschiedene Studien zeigen, dass berufliche Pestizidvergiftungen seit Jahren stark ansteigen. So schätzte man 1990 etwa eine Million Pestizidvergiftungen mit schwerwiegenden Folgen pro Jahr, darunter 20.000 Todesfälle. Rechnet man hier noch die Fälle mit milderem Verlauf hinzu, kommt man auf eine Zahl von 25 Millionen Vergiftungen im Beruf. Ein Grund für den Anstieg auf mittlerweile 385 Millionen dürfte sein, dass auf der ganzen Welt immer mehr Pestizide zum Einsatz kommen – meistens aus Gewinnsucht.

2017 wurden etwa 80 Prozent mehr Pestizide verwendet als noch 1990. In manchen Weltregionen fällt der Anstieg sogar noch deutlicher aus. In Südamerika zum Beispiel beträgt er im gleichen Zeitraum fast 500 Prozent, während in Europa ein Rückgang von 3 Prozent zu verzeichnen ist. Gehäuft lassen sich Pestizidvergiftungen vor allem in den Ländern des globalen Südens beobachten: In Südasien, gefolgt von Südostasien und Ostafrika.

Heuschrecke – Foto: sabiá brasilinfo

Es gibt mehrere Gründe, warum hier die Menschen besonders betroffen sind. Erstens weil Schutzkleidung oft nicht vorhanden oder vor Ort unbezahlbar ist oder weil sie wegen der klimatischen Bedingungen nicht getragen wird. Zweitens werden diejenigen, die die Pestizide anwenden, oft nicht ausreichend über die Gefahren von Pestiziden informiert und zu selten in der Handhabung von Chemikalien und Sprühgeräten geschult. Drittens fehlt häufig die Möglichkeit, benutzte Geräte und Arbeitskleidung getrennt von den Wohnbereichen aufzubewahren.

Um die hohe Zahl an Pestizidvergiftungen zu senken, hat die WHO zusammen mit der Welternährungsorganisation (FAO) einen Verhaltenskodex für den Umgang mit Pestiziden verabschiedet. Er besagt unter anderem, dass auf Pestizide verzichtet werden sollte, deren Anwendung eine persönliche Schutzausrüstung erfordert, die unbequem oder zu teuer ist. Zudem empfiehlt die WHO den Einsatz von agrarökologischen Alternativen und ein Verbot von besonders giftigen Pestiziden. Diese Empfehlungen wurden jedoch bislang kaum umgesetzt und nicht auf eine verbindliche Rechtsgrundlage gestellt.

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