Wenn Sie einen Samstag in Recife erwischen, dann nutzen Sie ihn für ein einmaliges szenisches Erlebnis: einen Markt unter freiem Himmel, der wie aus einem schon vergangenen Jahrhundert entsprungen scheint – der grösste freie Markt des Nordostens. Oder, Sie übernachten in Gravatá, von Freitag auf Samstag, und fahren über die schon bekannte BR-232, am Samstag in aller Herrgottsfrühe, noch 50 km weiter – auf einer Hügelkette liegt der Ort „Caruaru“ – mit über 213.600 Einwohnern, 135 km von Recife, noch im „Agreste“ von Pernambuco
Tausende von Marktständen und Verkaufsbuden, Strassenhändler mit ihren Bauchläden, Musikanten, Sänger, Dichter und Schausteller – dazu eine unübersehbare Menge von Besuchern und Kaufinteressenten aus allen Teilen des Landes – machen diesen Markt zu einem Volksfest, das jeden Samstag neu ersteht. Um alles erleben zu können, sollten Sie hier mindestens gegen 8h30 morgens eintreffen! Lassen Sie sich einfach mal treiben von Ihrer eigenen Neugierde – wenn Sie eine Kamera dabei haben, sind Sie sowieso hin- und hergerissen von den unvergleichlichen Szenen, die Sie hier geboten bekommen – wie aus einem exotischen Film.
Hier kann man alles kaufen und sogar tauschen, was das Herz begehrt! Die verkäuferische Zungenfertigkeit stellt jede Theatervorstellung in den Schatten, Akrobaten unterhalten die Besucher, Bänkelsänger berichten in Reimen von den neuesten Schandtaten der Politiker und mir fallen dazu die mittelalterlichen „Minnesänger“ aus Deutschland ein.
Von den Bauchläden anderer Verkäufer hängt die so genannte „Literatura de Cordel“ – die Schnurliteratur – herab: Kleine, handgedruckte Broschüren, in denen Volks-Poeten in gereimter Form und mit Gibi-Zeichnungen das öffentliche Leben, die Politik und andere Themen glossieren, welche gerade die Öffentlichkeit beschäftigen.
Die findigen Verkäufer haben einige der gereimten Inhalte auswendig gelernt und deklamieren sie jetzt vor ihrem entzückten Publikum. Ab und an mit kurzen Unterbrechungen, wenn eines der Heftchen den Besitzer wechselt, weil der dargebotene Reim den Käufer besonders angesprochen hat. Die keramische Handwerkskunst gehört zum Interessantesten der „Feira“, und viele Kuriositäten, wie zum Beispiel der Tauschmarkt „Troca-Troca“, wo man ein Hemd gegen einen Kanarienvogel tauschen kann, eine Uhr gegen ein Paar Schuhe oder einen Hut gegen drei lebende Hühner.
„Sim, Senhor – der Hut ist aus echtem Leder und war sehr teuer!“ Alles Teile des ungewöhnlichsten Marktes, den Sie je gesehen haben, und der eine endlose Fülle von überraschenden Motiven für die Kamera bietet.
Übrigens sind es drei verschiedene volkstümliche „Feiras“ (Märkte), die in Caruaru abgehalten werden: Die „Feira da Sulanca„, ist in erster Linie ein Textil-Markt, der von lokalen Herstellern bestückt wird, aber man findet hier auch Schmuck und einige andere Artikel. Die „Feira de Importados“ wird auch „Paraguay-Markt“ genannt, weil man hier alle die elektronischen Erwachsenenspielzeuge kaufen kann, die eigentlich illegal nach Brasilien eingeschmuggelt werden. Die „Feira Livre„, ist die älteste und beliebteste. Aber Caruaru ist viel mehr als nur Markt! Es ist ein kulturelles Zentrum des „Agreste“, wenn nicht sogar des gesamten Interiors von Pernambuco.
Noch ein bisschen bekannter als durch den „Freien Markt“, ist Caruaru bei den Einheimischen durch seine Musik: hier steht die Wiege des „Forró“, und die Stadt wird im Nordosten in erster Linie als „Capital do Forró“ – Hauptstadt des Forró, bezeichnet. Der Tanz, auch bekannt unter dem eher volkstümlichen Namen „Rala Bucho“ (frei übersetzt: Bauch-Reiber – weil man beim „Forró“ den Bauch an dem der Partnerin zu reiben pflegt) hat die kleine Stadt weit über ihre Grenzen hinaus bekannt gemacht.
Dabei stammt der „Forró“ gar nicht aus dem choreografisch-musikalischen Repertoire eines „Caruaruense“ sondern entstand, Ende des 19. Jahrhunderts, aus einem Freizeitvergnügen der englischen Gleisarbeiter, die die Schienen der brasilianischen „Great Western“ Eisenbahnlinie verlegten. Heute eine Strecke von rund 1.600 km, von Recife in Pernambuco bis Fortaleza in Ceará.
Damals staunten die Bürger von Caruaru über die lustigen Ausländer, von deren Sprache sie kein Wort verstanden, deren Musik sie aber sofort nachempfinden konnten – und deren Rhythmus unter ihnen zur Mode avancierte. Und als die Männer mit dem wachsenden Schienenstrang weitergezogen waren, erinnerten sich die traurigen Mädchen nur noch jenes einzigen Ausdrucks, mit dem ihre neuen Freunde sie jedes Mal aufgefordert hatten mitzutanzen, wenn sie durch ihre Musik angelockt, im Lager auftauchten: „for all!“
Wahrscheinlich sagten die Männer so was Ähnliches wie „Come on in – it’s for all!“ aber davon war nur noch dieser klägliche Rest in ihrem Gedächtnis haften geblieben – und nicht einmal der, denn sie machten daraus „For-ró„. Eine Lautmalerei, die, von einem Brasilianer gesprochen, sich tatsächlich ähnlich anhört wie „for all„. Klar, dass auch der original englische Tanz, die Musik und der Rhythmus in der Zwischenzeit einige indianische, afrikanische und lusitanische Korrekturen und Retuschen erfahren haben. Und heute ist der „Forró“ ganz sicher so durch und durch brasilianisch, dass ihn selbst ein englischer Gleisarbeiter nicht mehr als „made in Great Britain“ erkennen würde!
Die UNESCO hat Caruaru als „Grösstes Zentrum Figurativer Kunst Amerikas“ bezeichnet und bezieht sich damit auf den Stadtteil „Alto do Moura“, wo sich zirka 200 Künstler mit keramischer Kunst beschäftigen. Viele von ihnen sind nicht etwa von aussen her zugewandert, sondern haben sich aus dem bürgerlichen Potential entwickelt – so wie ihr aller Meister einmal, der berühmte „Vitalino Pereira dos Santos“.
Mestre Vitalino (Meister Vitalino, 1909-1963)
Wie das Volk den in Caruaru geborenen respektvoll nannte, entwickelte sich zum grössten keramischen Künstler des Nordostens. Sein Vater war Landarbeiter und seine Mutter formte Töpfe aus Ton. Mit den Resten knetete der kleine Vitalino, schon im Alter von sechs Jahren, Ochsen, Pferde und andere Haustiere, die er auf dem Markt verkaufte.
Anfangs handelte es sich bei den Arbeiten Vitalinos um simples Kinderspielzeug – um 1930 folgten die ersten menschlichen Gruppen, meistens als Soldaten. Endlich, 1935, erschienen die „Peças de Novidades“ (Neuheiten), grosse, unterschiedlich konzipierte Gruppen, die aus Vitalino einen Künstler von nationalem Renomée machten.
Sein Repertoire enthielt ungefähr 100 verschiedene Motive, ausgeführt in zahllosen Versionen und unterschiedlichen Grössen, aber immer nur aus einem einzigen Material: dem Lehm des „Rio Ipojuca“. Mestre Vitalino hinterliess fünf Kinder, die ihm schon zu Lebzeiten assistiert hatten und die heute, zusammen mit einer Unzahl von Angehörigen seiner grossen Familie, das Werk weiterführen.
Sehenswert ist in diesem Zusammenhang das „Museu de Mestre Vitalino“, gegründet 1971, innerhalb des ehemaligen Wohngebäudes des Meisters. Die Sammlung enthält Fotos und Portraits des Meisters und seiner Familie, Objekte des persönlichen Gebrauchs – wie der Hut, den er immer benutzte, die Ziehharmonika, verschiedene Arbeitsinstrumente zur Herstellung seiner Figuren. Seine Originale stehen heute in den ersten Museen Brasiliens und des Auslands oder befinden sich in Privatbesitz, auf dem Markt sind sie bestimmt nicht mehr zu finden.
Wenn Sie eine wirklich interessante Übersicht der Figuren und Figuren-Gruppen von Vitalinos Nachkommen sehen möchten, dann versäumen Sie nicht, die mehr als 400 Stände des Freien Markts von Caruaru aufzusuchen, die unter der Bezeichnung „Feira de Artesanato“ firmieren. Sie finden sie ebenfalls samstags in einem Teil des riesigen Marktgeländes!