Vieles an diesem Fluss ist ungewöhnlich. Liebevoll wird er von der Bevölkerung „Velho Chico“ genannt – der „Alte Chico„. Er ist nicht der längste, aber Brasiliens beliebtester Fluss und der Stolz der Nation. Vielleicht, weil er der einzige Fluss ist, der den reichen Süden mit dem armen Nordosten verbindet. Vielleicht weil er so vielen Menschen im trockenen Sertão Trost und Hoffnung, und vor allem, lebenswichtiges Wasser spendet. Er liegt ihnen buchstäblich am Herzen. Ohne ihn wäre ihr Lebensraum eine Wüste.
Auf den Höhen der „Serra da Canastra„, in Minas Gerais, wird der Flussgigant geboren. Durch seine zahlreichen Nebenflüsse wächst er schnell an Volumen und fliesst, schon bald einen Kilometer breit, aus dem mineirischen Bergland hinab in eine flache Landschaft voll herber Schönheit. Durch sein plötzlich nur noch geringes Gefälle glättet sich das Wasser, manchmal erscheint es zähflüssig, wie eine erstarrte türkisgrüne Flut unter dem gleissenden Licht der tropischen Sonne.
Man nennt ihn auch den „brasilianischen Nil„, weil er wie dieser von Süden nach Norden und durch trockene Regionen fliesst, Hochebenen durchquert, über weite Strecken schiffbar ist und von der Bevölkerung zur Bewässerung ihrer Felder benutzt wird. Allein in seiner Mündung liegt ein wesentlicher Unterschied: der Nil mündet in Form eines Deltas – der São Francisco in einem einzigen Strom.
Mit einer Gesamtlänge von 2.800 km – zwischen Minas Gerais und seiner Mündung zwischen den Bundesstaaten Sergipe und Alagoas – bewässert er ein Territorium von annähernd 641.000 km².
Zwei Abschnitte sind heutzutage noch schiffbar: Der mittlere, mit zirka 1.370 km – zwischen „Pirapora“/Minas Gerais und „Petrolina“/ Pernambuco (bzw. „Juazeiro“/Bahia, auf der anderen Seite der Grenze) – und der letzte Abschnitt, mit 208 km – zwischen „Piranhas“/Alagoas und seiner Mündung in den Atlantik.
Der Rio São Francisco fliesst durch Regionen mit den unterschiedlichsten Landschaften und Natur-Beschaffenheiten. Seine beiden Extreme, der obere und der untere Flussabschnitt, präsentieren gute Niederschlags- und Wasserstandsmengen, während er in seinem mittleren Abschnitt Areale mit trockenem und halbtrockenem Klima durchquert.
Deshalb sind auch für 75% seiner Wassermenge die Zuflüsse in Minas Gerais verantwortlich, obwohl dieser Bundesstaat nur 37% seines hydrografischen Beckens beansprucht. Kommerziell bedeutend ist sein mittlerer Abschnitt, mit den schon genannten 1.370 km – diese Strecke entspricht der Entfernung zwischen Brasília und Salvador/Bahia und ist zweifellos die wirtschaftlichste Verbindung zwischen dem Süden und dem Nordosten.
Das südliche Extrem der Wasserstrasse, der Hafen von „Pirapora“ in Minas Gerais, ist durch Eisenbahn und Strasse mit allen wichtigen Wirtschafts-Zentren des Südostens verbunden.
Mit Vitória (Espirito Santo), Rio de Janeiro und Santos (São Paulo) – ausserdem ist er ein Teilstück des Export-Korridors des Zentralen Westens. Das nördliche Extrem, die Schwesterstädte „Juazeiro“ (Bahia) und „Petrolina“ (Pernambuco), sind mit den wichtigsten Hauptstädten des Nordostens, ebenfalls durch Eisenbahn und Strasse, verbunden – mit Savador (Bahia), Recife (Pernambuco) und „Suape“ (Pernambuco). Der besagte mittlere Flussabschnitt kann zu jeder Jahreszeit befahren werden, obwohl sein Wasserstand in der Trockenzeit sinkt.
Die Bevölkerung, besonders in den trockenen Gebieten des oberen Flussabschnitts, nutzt den feuchten Boden des Flusstals, rechts und links der Ufer, für ihre Landwirtschaft. Leider fallen ihrer Unkenntnis dabei wertvolle Galeriewälder und Mangrovebestände zum Opfer, wenn sie ihre Felder oder Weiden teilweise bis direkt ans Wasser erweitern. Hier müssen dringend entsprechende Massnahmen ergriffen werden, die verhindern, dass dem Fluss und seiner jetzigen Beschaffenheit irreparabler Schaden entsteht.
Charakteristika
Mittleres Gefälle: 8,8 cm/Km
Mittlere Fliessgeschwindigkeit: 0,8 m/Sek.
Mündungsvolumen: 2.943 m³/Sek.
Die Zuflüsse in Minas Gerais sind:
Rio Pará, Rio Paraopeba, Rio das Velhas, Rio Jiquitaia, Rio Bambuí, Rio Indaiá, Rio Borrachuda, Rio Abaeté, Rio Paracatu, Rio Urucuia, Rio Pardo, Rio Pandeiro, Rio Verde Grande, Rio Piauí, Rio Peixe, Rio São Miguel.
Die Zuflüsse in Bahia sind:
Rio Carinhanha, Rio Corrente, Rio Formoso, Rio Grande, Rio Ondas, Rio Branco, Rio Preto, Rio Rãs, Rio Santo Onofre, Rio Paramirim, Rio Salitre.
Die Zuflüsse in Pernambuco sind:
Rio Pajeú, Rio Moxotó, Rio Brigida, Rio Graça.
Die Zuflüsse in Sergipe sind:
Rio Xingó, Rio Ouro, Rio Fino, Rio Curitiba, Rio Perpétua, Rio Onça, Rio Porto da Folha, Rio Betume.
Die Zuflüsse in Alagoas sind:
Rio Ipanema, Rio Traipu.
Wenn wir uns nun ein bisschen der Vegetation im Gebiet des Rio São Francisco widmen, dann möchten wir vorzugsweise auf die Gebiete an seinem Mittel- bis Unterlauf eingehen, dort, wo der sonst so trockene „Sertão“ vom Fluss durchschnitten wird und seine „Caatinga-Vegetation“ durch seine Feuchtigkeit zu einer Landschaft von herb-romantischer Schönheit erblüht.
In der Trockenperiode, zwischen Mai bis Oktober, werfen die meisten Bäume in der Region ihre Blätter ab. Aber es gibt andere Laubbäume, deren Blattwerk auch der Trockenheit widersteht – wie zum Beispiel der „Juazeiro“ (Zizyphus joazeiro, Mart.), der Icó-preto“ (Capparis ico, Mart.) und der „Oiticica“ (Licania rigida, Benth.) – sie sind stets voll belaubt. Regen ist überhaupt in den Regionen des Sertão eine Seltenheit, aber wenn er fällt, geht eine fast schlagartige Veränderung in der gesamten Landschaft vor: Bäume und Büsche, jeder kleine Strauch, sogar Felsblöcke – alle bedecken sich mit frischem Grün und überraschender Blütenpracht – die Gräser knospen und breiten sich aus und geben der Landschaft Farbe und Lebendigkeit zurück.
Die verschiedenen Arten von Kakteen speichern Feuchtigkeit und werden schon seit Jahrhunderten während der trockenen Periode als Viehfutter verwendet. Durch die vielen Stacheln – die übrigens den Mäulern der Ziegen und Rinder nichts anhaben können – kann die Pflanze ihre Feuchtigkeit besser vor der Verdunstung schützen. Die „Caatinga-Vegetation“ des Sertão bringt sogar Edelhölzer hervor, wie den „Baraúna (Melanoxylon brauna, Schott.), den „Cumaru-da-Caatinga“ (Dipterix odurata) oder den „Pau-de-ferro“ (Acacia catehu, Wild.). Häufige Pflanzen sind „Macambira“ (Bromelia laciniosa, Mart.), „Catingueira“ (Cesalpiniaceae), „Jurema“ (Pithecolobium tortum, Mart.), „Imbu“ (Phitolacca dioica), „Favereira“ (Clitoria cearensis, Hub.) „Marmeleiro“ (Pyrus cydonia, Lin.), „Maniçoba“ (Manihot glaziovü, Müll.Arg.), „Algaroba“ (Prosopis algarobilla, Griseb), „Angico“ (Piptadenia colubrina, Bth.) und „Quixabeira“ (Sapotaceae).
Die Fauna derselben Region ist von einer grossen Artenvielfalt, viele der Spezies sind jedoch stark gefährdet oder bereits verschwunden, durch unkontrollierte Brandrodungen, chemische Düngemittel und Umweltverschmutzung. Wie immer ist der Mensch der Natur schlimmster Feind, durch Unkenntnis oder bewusste Ignoranz – wer vermag das zu sagen. Ganze Biotope werden verbrannt oder niedergewalzt, um neue Weideflächen für das Vieh zu gewinnen – ein Prozess der Verwüstung eingeleitet.
Die besonders gefährdeten Spezies sind: der Kapuziner-Affe „Macaco Prego“ (Cebus apella), der Puma „Suçuarana“ (Puma concolor), der gefleckte Jaguar „Onça“ (Panthera onca), das mittelgrosse Gürteltier „Tatu-Peba“ (Euphractus sexcinctus), das kleine Gürteltier „Tatu-Bola“ (Tolypeutes tricinctus).
Unter den Vögeln, der Hyazinth-Ara „Arara-Azul“ (Anodorhynchus hyacinthinus). Weil es sich um eine relativ trockene Zone handelt, ist eine grosse Zahl von Reptilien-Arten ebenfalls hier heimisch. Unter ihnen: die „Jararaca“ (Bothrops jararaca), die Klapperschlange „Cascavel“ (Crotalus terrificus), die Königsschlange „Jibóia“ (Boa constrictor), die Korallen-Natter „Cobra Coral“ (Oxirophus trigeminus) und, darüber hinaus, zahlreiche Arten von Leguanen „Lagartos“ (Iguana iguana), Eidechsen „Calangos“ (Ameiva ameiva) und Landschildkröten „Cágados“ (Geochelone carbonaria).
Unter den Vogelarten des Flussgebiets kommen vor: der südamerikanische Strauss „Ema“ (Rhea americana), die „Seriema“ (Cariama cristata), der Schlangen fressende Falke „Acauã“, der „Avoante“ (Zenaida auriculata), die „Jandaia-verdadeira“ (Conurus aureus, Gm.) und viele Reiher und andere Wasservögel.
Die Umweltverschmutzung der Industrien, die Dünger-Chemie der Landwirtschaft, die Abfälle und Abwässer der Städte, die Konstruktion grosser Staudämme, unkontrollierte Fischerei, Waldrodung und noch einiges mehr, verursachen sehr ernst zu nehmende Schäden im Flora- und Faunabestand um den Rio São Francisco – viele früher hier heimische Spezies sind bereits verschwunden. Die empfindlichste Reaktion des „Velho Chico“ auf diese kontinuierlichen Aggressionen ist der deutliche Rückgang seines Fischbestandes. Ein anderes Problem, die Versandung des Flusses, hängt direkt mit der Rodung seines Galeriewaldes zusammen: denn die Bäume halten mit ihren Wurzeln die Erde der Steilufer fest, verhindern so, dass diese in den Fluss kippen und ihn auffüllen, was das Flussbett dann immer flacher und breiter werden lässt – dadurch wird die Schifffahrt behindert und das Land von Überschwemmungskatastrophen heimgesucht.
Die Wasserkraftwerke, mit ihren Staudämmen, stören den normalen Fluss des Wassers und verhindern, vor allem, die Wanderungen der Fische zu ihren natürlichen Laichplätzen am Oberlauf. Darüber hinaus werden täglich unbekannte Mengen von Schadstoffen in Haushalts- und Industrieabwässern, ohne filternde Behandlung, in den Fluss geleitet. Wie ein bekannter Fernsehjournalist bei uns in Brasilien zu bemerken pflegt: „Isto é uma vergonha“! (Das ist eine Schande!)
Eine Fahrt auf einem Flussdampfer
Um den typischen Menschen des Rio São Francisco kennen zu lernen, gibt es nichts besseres, als eine Fahrt auf einem Flussdampfer zwischen „Pirapora“ und „Sobradinho“ – es ist zwar schon ein paar Jahre her, aber Wesentliches hat sich in diesen Jahren und in dieser Region nicht verändert – nur die alte „Benjamin Constant“, ein Raddampfer im Stil der Mississippi-Steamer, ist inzwischen verschrottet worden. Das ist jammerschade aber nicht mehr zu ändern.
Wer diese Fahrt geniessen möchte braucht Zeit und viel Einfühlungsvermögen. Unter- oder Oberdeck – man kann den Reisekomfort wählen. Die Einheimischen reisen meistens unten – hier spannt man seine mitgebrachte Hängematte zwischen den Verstrebungen auf und schaukelt über Kisten, Säcken, und anderen sperrigen Mitbringseln. Wenn das Schiff vollbelegt ist, hängt man eingeklemmt zwischen dem einen und dem anderen Nachbarn – unvermeidlich, dass man sich beim Ein- und Aussteigen aus dem Schlafquartier, gegenseitig anrempelt. Die Verpflegung hier unten ist karg: In das ebenfalls mitgebrachte Essgeschirr bekommt man den unvermeidlichen Reis mit Bohnen und etwas Fleisch oder Huhn und wer möchte, kann sich aus einem gemeinsamen Pott etwas Maniokmehl zum Binden der Brühe angeln. Zu trinken – bitte sehr: der ganze Fluss steht den Herrschaften zur Verfügung.
Das Oberdeck dagegen bietet einen vergleichsweise unverschämten Luxus. Kabinen mit privatem Duschbad, weissgedeckte Tische und einen Kellner im separaten Speiseabteil. Darüber wölbt sich ein luftiges Sonnendeck mit Liegestühlen und Panoramablick auf den Fluss. Der beste Platz auf dem ganzen Schiff – aber auch viermal so teuer wie das Hängematten-Vestibül.
Eine Woche dauert die Fahrt auf dem alten Chico stromab – in Gegenrichtung ist man sogar zehn Tage unterwegs. Etwa 1.000 Kubikmeter Holz werden auf einer solchen Reise vom Dampfer verfeuert, das unterwegs abschnittsweise zugeladen wird. Ein halbes Dutzend Anlegestellen täglich, mit Kommen und Gehen der Einheimischen – arme Bauern die meisten, auch ein paar Viehhirten in ihrer typischen Lederkleidung sind dabei.
Überall gibt es etwas neues noch nie vorher Gesehenes. In „Januária“ zum Beispiel – noch in Minas Gerais – hier wird nach einheitlicher Meinung sämtlicher Mitreisenden der beste „Cachaça“ Brasiliens hergestellt. Alle strömen von Bord um sich einzudecken und kommen mit Flaschen unterm Arm wieder zurückgerannt, als die Dampfpfeife zur Abreise mahnt. Mein Kajütennachbar, ein Ingenieur aus São Paulo, schwenkt stolz seine hochprozentige Errungenschaft, Marke „Torpedo“ – und seinem „den müssen Sie unbedingt probieren“ habe ich nichts entgegenzusetzen, zumal er bereits zwei Gläser beim Kellner bestellt hat, die er jetzt bis zum Rand mit der gelblichen Flüssigkeit füllt und – nach einem gemurmelten „Saúde“ (Gesundheit), in einem Zug kippt – und dann zieht sein lustvoll ausgestossenes „Haaaaaaah“ anschliessend die Blicke aller Anwesenden auf uns.
Ich werfe einen hilfesuchenden Blick auf die untergehende Sonne und jage mir dann ebenfalls den „Torpedo“ durch die Kehle – und bin vollkommen überrascht, dass er seidenweich, fast wie ein Cognac, in meinem Inneren verrinnt. Also muss ich mich der Aufmerksamkeit heischenden Rückstoss-Reaktion meines Nachbarn nicht anschliessen, sondern setze mein Glas ab mit einem freundlichen „Bom“! (Gut). Der „Torpedo“ ist wirklich sehr gut – nur finde ich, dass er einen seiner Güte entsprechenden Namen tragen sollte – vielleicht „Seda Pura“ (Pure Seide) oder „Velho Amor“ (Alte Liebe) und nicht den irreführenden und für mich direkt furchteinflössenden, Namen „Torpedo“.
Nach drei Tagen Fahrt nähern wir uns der Grenze zum Bundesstaat Bahia. Das verschlafene Nest „Carinhanha“, am linken Flussufer, prunkt mit einem in Gelb und Grün angemalten Gebäude der Präfektur, auf dem doch tatsächlich eine Figur mit einem riesigen Schnauzbart thront – vielleicht ein ehemaliger Präfekt? Auf der rechten Seite liegt „Malhada“, ein noch verschlafeneres Nest, zu dem eine Brücke hinüberführt. Direkt hinter beiden Orten beginnt der bahianische „Sertão“ – Synonym für eine, von den dichtbevölkerten Zentren weit abgelegene, unkultivierte, trockene und verkarstete Landschaft, bedeckt mit der widerstandsfähigen Caatinga-Vegetation, und von Menschen nur sehr dünn besiedelt.
Schon im 17. Jahrhundert versuchten sich die ersten Siedler der Kolonialzeit im Sertão mit der Viehzucht, und um sich gegen den dornenstrotzenden Buschwald der Caatinga zu behaupten, kleideten sie sich von Kopf bis Fuss in derbes, selbstverarbeitetes Rindsleder, dem einzigen Material, dass den messerscharfen Dornen widerstand, wenn sie im Dickicht nach verlorenen Rindern suchten.
Diese „Vaqueiros“ genannten Viehhirten haben sich bis heute wenig verändert – auch ihr Leben im Sertão von Bahia, Sergipe, Pernambuco, Piauí oder Ceará ist das gleiche geblieben. Halbe Nomaden, fast verwachsen mit ihren kleinen, zähen Pferden, die noch von jenen der Bandeirantes abstammen, sind sie tagaus und tagein mit der Aufsicht ihrer Herden beschäftigt, die auf Ländereien grasen, deren Ausmasse oft denen eines kleineren europäischen Staates gleichkommen oder ihn sogar noch übertreffen. In den Städten sieht man sie selten, vielleicht anlässlich eines Viehauftriebs oder eines religiösen Festes.
Dann präsentieren sie manchmal ihre Reitkunst bei einer „Vaquejada“ (Rodeo). Traditionell gehört den Vaqueiros ein Teil der Herde – sozusagen ihre Lebensversicherung, deren Dynamik in Relation zu ihrem persönlichen Einsatz steht, und zur Geschicklichkeit, die ihnen anvertraute Herde nicht nur vor Schaden zu bewahren, sondern auch zu vergrössern. Es ist tatsächlich so, dass der Grossgrundbesitzer seine „Vaqueiros“ wochenlang nicht zu Gesicht bekommt – und diese sich als freie Menschen fühlen, deren „Chef die Sonne ist“, wie sie zu sagen pflegen, und, „dass sich die Rinder ihre Vaqueiros aussuchen, mit denen sie arbeiten wollen“.
Auf dem Schiff, vorwiegend auf dem Unterdeck, kann man mit den hartgesottenen Siedlern des Sertão ein Schwätzchen halten.
Gottergeben behaupten sie sich auf der von der glühenden Sonne aufgeplatzten Erde ihrer Heimat, trotzen ihr das Wenige ab, was sie zum Leben brauchen, unternehmen kilometerweite Wanderungen zu einer sauberen Lagune, um das nötige Wasser herbeizuschaffen und sehen zu, wie jedes Jahr ein weiteres Kind dazukommt, von denen jedes vierte stirbt. Und wenn dann alle ihre Gebete keinen Regen bewirkt haben, packen sie ihre wenigen Habseligkeiten in einen Sack und wandern mit Kind und Kegel entlang der glühenden Asphaltpisten in die Favelas der grossen Städte. Regelmässig, wie ein Naturgesetz, treten diese Dürreperioden im Sertão auf – der jährliche Regen, zwischen Dezember und März bleibt aus – die Flussläufe versiegen, die Erde wird rissig und platzt dann klaffend auf – die Natur stirbt. Der Sertão bietet ein Bild wie von einem anderen Planeten.
Bisher haben alle Dirigenten dieses Landes, angefangen von Dom Pedro II., versprochen, die Trockenheit des Sertão zu besiegen – Dom Pedro II. wollte sogar „seine Krone dafür hergeben“. Riesige Summen sind tatsächlich immer wieder investiert worden, um dem Problem beizukommen – mit Staudämmen, Bewässerungs-Projekten und der Anlage von Lagunen. Alles umsonst. Es bleibt der Sertão, wie er ist, und der Regen kommt oder nicht – und die Menschen fliehen, wie bisher, wenn es länger als ein Jahr nicht geregnet hat. Endlich, mit dem Regen, kehren die Älteren zurück – die Jüngeren bleiben in der Stadt, schlagen sich eine Zeit lang durch oder verkommen als Diebe und Handlanger von Drogendealern. Kaum einer schafft einen kleinen sozialen Aufstieg – keine Ausbildung, keine Mittel, keine Hoffnung.
Die Älteren haben ihren Glauben, sonst würden sie sicher an dieser Art Schöpfung verzweifeln. Und sie haben ihren Aberglauben. Diesen, im Gegensatz zum Sertão, äusserst fruchtbaren Boden nutzen falsche Prediger zu ihren Gunsten.
In der Regel ziehen sie über Land, vorzugsweise durch den Sertão, jeder mit einer anderen abstrusen Heilslehre. Unter diesen einfach konstruierten Menschen, in deren Köpfen sich die Wirklichkeit mit der Hoffnung und den Wunschvorstellungen mischt, kostet es diese falschen Propheten keinerlei Mühe, die Seelen zu entflammen und den Fanatismus zu schüren. Und das Schlimmste ist: wohin sie kommen, werden sie gastfreundlich aufgenommen und durchgefüttert – im Sertão eine der sichersten Existenzen.
Jeder erlebt diese Reise auf dem Fluss anders, eben so, wie er persönlich veranlagt ist. Die bequeme Rolle des zuschauenden und kritisierenden Touristen sollte man besser sofort aufgeben. Stattdessen: miterleben, mitfühlen, sich von diesen Menschen vereinnehmen lassen – und das liegt nicht jedem. Jeden Tag bekommt man ein bisschen mehr Einblick in die Vergangenheit, in die Gegenwart und – anhand der Vorstellungen dieser bunten Mischung von Zeitgenossen – sogar in die Zukunft dieser fast unbekannten Gegend Brasiliens.
Klar, dazu muss man die Sprache dieser Menschen verstehen. Allein durch die übliche Beobachtung aus der Perspektive des Touristen bekommt man wenig oder gar nichts mit von ihren Sorgen, Ansichten, Vorstellungen, Hoffnungen. Kurz: man sieht vieles, aber man erlebt wenig, wenn man sich nicht mit diesen Menschen unterhalten kann. Eine Reise, die dem Besucher eines so fremden Landes wie Brasilien, neben den physischen auch die psychischen Inhalte zu erschliessen vermag, ist nach meiner Meinung erst eine gelungene Reise (dazu ein guter Guide, der die Sprachprobleme für Sie löst – den bekommen Sie von uns!).
Jeder, der neu zusteigt, bringt auch seine Geschichten mit an Bord. Geschichten, die sein eigenes Leben verfasst oder die er von Nachbarn und Freunden gehört hat. Sie werden, wenn er sie erzählt, ein bisschen mit persönlichen Ansichten gewürzt – der sonst so einsam lebende „Sertanejo“ hat es gern, wenn er plötzlich Mittelpunkt und von Zuhörern umgeben ist und noch lieber, wenn jemand dazu ein Gläschen spendiert. Dann geht er ganz aus sich heraus, denn an Themen gebricht es ihm nicht, „Graças a Deus“ – er hat eben nur selten Zuhörer.
Und während der Dampfer sich auf dem spiegelglatten Strom durch die Mondnacht schaufelt, lausche ich den Geschichten und Anekdoten, Legenden und Berichten von wilden Indianern und von denen, die sie alle umbrachten, von Goldgräbern und dem gefährlichen Metall, das ihrer aller Leben kostete, von wundertätigen Priestern und von hinterlistigen Mördern. Es ist viel vom Tod die Rede, in diesen Geschichten, aber auch von heldenhaften Männern, die sich ihm erfolgreich entgegenstellten. Längst werden diese Geschichten nicht mehr nur von einem Erzähler zum Besten gegeben, sondern das Erzählen macht jetzt die Runde:
Wie überall im Nordosten, sind die „Cangaceiros“ ein beliebtes Thema, besonders ihr verehrter Räuberhauptmann „Lampião„. Prompt tauchen in der Runde Stimmen auf, deren Väter und Grossväter diesen „Virgolino Ferreira da Silva“ noch erlebt oder gar persönlich gekannt haben wollen, oder wenigstens einen seiner Komparsen. Nachdem man ihn zwanzig Jahre lang gejagt hatte, konnte man ihn schliesslich in einem Hinterhalt erledigen. Der ganzen Bande wurden die Köpfe abgeschlagen und, auf Stangen gespiesst, im Triumphzug durch die von ihnen einst heimgesuchten Ortschaften getragen.
Das war 1938 – die Mentalität der Menschen des Sertão hat sich seit damals nur wenig verändert. Ein VW-Käfer auf einer Erdstrasse, ein Kofferradio im scheibenlosen Fensterrahmen einer mit Palmstroh gedeckten Hütte, sind nur äusserliche Anzeichen einer Weiterentwicklung. Noch heute lebt man hier seine Leidenschaften unkontrolliert aus, richtet man sich im Umgang mit seinen Mitmenschen nicht nach seinem Gewissen oder gar nach einem Gesetz, sondern nach dem Auftreten des Anderen – nach seinem Ruf, der ihm vorausgeht oder nach seinem offensichtlich stärkeren Körperbau.
Zum Überleben in dieser unbarmherzigen Natur braucht es den ganzen Mann, der zupacken kann und zuschlagen, wenn’s drauf ankommt. Harte Menschen – so hart wie der aufgeplatzte Boden des Sertão. Sie sind das schlechte Gewissen der südamerikanischen Wirtschaftsmacht Brasilien, denn im Südosten und Süden ist das Leben leichter, auch, weil dort die Natur grosszügiger ist. Dort kann der Mensch sich mehr Sensibilität leisten und Unbeschwertheit.
Aussteigen kann man frühestens am vierten Tag der Fahrt, in „Ibotirama“ – oder am fünften, in „Xique-Xique“. Von beiden Orten sind es noch rund 500 Buskilometer nach Salvador/Bahia im Osten, der nächstgelegenen Stadt an der Küste. Wir schippern weiter über den, nun zu einem Binnenmeer verbreiterten alten Chico, nach „Sobradinho“ – dort steht, 500 km Luftlinie vor der Mündung, die bombastische Staumauer jenes künstlichen Sees, mit einem der grössten Wasserkraftwerke der Welt, wie wir erfahren.
Endstation
Auf einmal haben es alle eilig wegzukommen. Ist wahrscheinlich ein Syndrom, das mit dem Anlegen des Schiffes auf die Menschen übergreift. Sie drängen sich sogar, um möglichst schnell über den Brettsteg an Land zu kommen. Was sollte hier in dieser gottverlassenen Gegend solche Eile rechtfertigen? Ich möchte es gar nicht herausfinden, sondern hänge meinen Gedanken nach – immer noch auf dem Sonnendeck – lasse meinen Blick schweifen über den unendlich scheinenden See. „Er ist gefährlich“, hatte mir der Kapitän erklärt, „hat manchmal so hohe Wellen, dass wir in „Xique-Xique“ warten müssen, bis sich das Wasser beruhigt“. Also sollen die kenter-gefährdeten Raddampfer verschwinden und modernen, klimatisierten Dieselschiffen Platz machen, um den Tourismus zu fördern.
In den verschlafenen Häfen will man Firstclass Hotels bauen und an den Haltepunkten Folklore-Shows inszenieren. Dann wird zwar der Rio São Francisco immer noch ein aussergewöhnliches Erlebnis sein, aber vielleicht nicht mehr ganz die „psychischen Inhalte“ vermitteln, um derentwillen erfahrene Globetrotter eine Fahrt auf dem São Francisco höher bewertet haben als auf dem Amazonas.
Kanalbau am Rio São Francisco soll noch im Juni 2007 beginnen
Die Konstruktion zweier Kanäle samt dazugehöriger Pumpenstationen am Rio São Francisco soll noch diesen Monat starten. Laut dem Kommandeur der Operation, Major Aristóceles Pessoa werde man am 25. Juni mit den Arbeiten beginnen. Rund 50 Soldaten vom 2. Ingenieursbataillon des Militär sind inzwischen in Cabrobó im Bundesstaat Pernambuco eingetroffen und bereiten die Infrastruktur für die gewaltigen Erdarbeiten vor. Die Arbeiten sollen voraussichtlich Ende August 2008 abgeschlossen werden.
Mit den 700 km langen künstlichen Kanälen soll ein Teil des Wassers, welches ansonsten in den Atlantik fliesst, in die trockenen Zonen des Nordostens umgeleitet werden. Das Projekt ist vielfach umstritten, da der bereits jetzt schon ökologisch schwer angeschlagene 2700 Kilometer lange Fluss weiter geschädigt wird. Zudem befürchten Kritiker, dass durch das 2.2 Milliarden Euro teure Projekt lediglich die Grossgrundbesitzer und die Industrie profitieren, die arme Bevölkerung und die unzähligen Kleinbauern würden jedoch weiter sprichwörtlich “auf dem Trockenen” sitzen.
Staatspräsident Lula sieht die Umleitung, die schon von Kaiser Pedro II. (1822–1889) geplant war, als historische Chance, die Menschen des Nordostens endlich mit ausreichend Trinkwasser zu versorgen. Dagegen stehen Expertenmeinungen, die betonen, dass der Fluss an den Abzweigungsstellen durch Abwässer und Pestizide schon so dermassen belastet sei um das Wasser noch als Trinkwasser verwenden zu können.
Ein Armeesprecher erklärte in einer ersten Stellungnahme, die Soldaten seien von der Bevölkerung und vom Bürgermeister der Stadt Cabrobó aufs herzlichste begrüsst worden. Zu Beginn der Arbeiten werden dann weitere 140 Soldaten mobilisiert, die bis zur Fertigstellung auf 710 Mann anwachsen sollen.
Quelle Partnerseite: brasilien Magazin
Umleitungsprojekt Rio São Francisco: Nordosten muss weiter auf Wasser warten
Eigentlich hätte das Milliardenprojekt schon im Jahr 2010 etwa zwölf Millionen Menschen des äußerst trockenen Nordostens mit Wasser versorgen sollen. Laut Minister Gilberto Occhi wurden seit dem Baubeginn im Jahr 2007 bis dato jedoch erst 70 Prozent der Arbeiten abgeschlossen. Änderungen, zusätzliche Verträge und Probleme bei der Bauausführung haben zu den Verzögerungen geführt.
Die Auswirkungen auf die Umwelt sind ein weiterer kritischer Punkt. In den sieben Jahren seit Baubeginn wurden unter Aufsicht der Umweltbehörden 70.000 Tiere „gerettet“, deren Lebensraum durch Abholzungen, Baumaßnahmen und die Füllung der Becken mit Wasser zerstört worden ist. Andere Tiere wurden durch den Lärm der Motorsägen und Baugeräte vertrieben. Befürchtet wird auch eine Vermischung der Flussfauna. Trotz eingebauter Barrieren wurde bereits eine Einwanderung zweier Fischarten festgestellt.
Das Wasser des Flusses São Francisco kam am 26.Juni 2020 in Ceará an, mit der Aktivierung des Schleusentors der Nordachse des Integrationsprojekts von São Francisco.
Mit der Öffnung des Schleusentors werden die Gewässer, die bereits den Milagres-Stausee in Pernambuco versorgen, durch den Milagres-Tunnel an der Grenze der beiden Staaten fließen, am Jati-Stausee ankommen und schließlich nach Paraíba und Rio Grande do Norte gelangen.
Das São Francisco River Integration Project ist 477 Kilometer lang und das größte Wasserprojekt des Landes. Wenn alle komplementären Strukturen und Systeme in den Bundesstaaten in Betrieb sind, werden ungefähr 12 Millionen Menschen in 390 Gemeinden in Pernambuco, Paraíba, Ceará und Rio Grande do Norte davon profitieren.