Touristen sehen, auch wenn sie besonders neugierig sind, im Allgemeinen kaum mehr als ein Viertel von Rio de Janeiro. Und vieles, was hinter den Kulissen geschieht – ausgelöst durch die unglaublichen Gegensätze zwischen Wohlstand und bitterer Armut, die innerhalb der Grossstadt unabänderlicher aufeinanderprallen als in der Weite des Landes – bleibt dem Fremden verborgen. Rio ist durch die „Serra da Carioca“ in eine Nord- und eine Südzone unterteilt – man möchte fast sagen: Rio besteht aus zwei verschiedenen Städten. Ober- und Mittelklasse leben in der „Zona Sul“, die unteren Klassen in der „Zona Norte“ – letztere ist mit allen ihren ineinander übergehenden Vorstädten längst viermal so gross wie die vom Meer umspülte Südzone. Diese „Cidade Maravilhosa“ ist Rios Visitenkarte für die Touristen, deshalb wird sie gepflegt, das heisst, die Strassen werden ausgebessert, Flanier-Trottoirs repariert, Mittelstreifen neu bepflanzt, Strände taghell beleuchtet und sogar mit öffentlichen Telefonen ausgestattet, Polizeistreifen eingesetzt und Abfall-Behälter aufgestellt.
Der Norden der Stadt dagegen, verschachtelt sich hinter den trennenden Bergen in einem chaotischen Wirrwarr aus Wellblech, Kistenbrettern und rohem Backstein – ein urbanistisches Chaos, das sich selbst und seiner Verkommenheit überlassen wird, mit Abgründen im Asphalt, in denen ein Motorradfahrer spurlos verschwinden kann. Trottoirs sind meistens überhaupt nicht vorhanden, und sich dort am Rand der Strassen entlangzuschieben, ist immer ein riskantes Unternehmen. Mittelstreifen gibt’s keine. Polizisten sieht man hier nur selten, denn die haben Angst vor den Vorstadtbanditen und Abfallbehälter braucht man hier keine, weil man den Dreck in die zu Kloaken verkommenen Kanäle oder direkt auf die Strasse werfen kann. Dort, wo ein Wasserhahn für viele tausend Menschen reichen muss, greift eine deprimierende Gefühlsverelendung um sich. Die Stadt hat nicht die Mittel, um im hektischen Rhythmus der Elendsausdehnung eine wenigstens bescheidene Infrastruktur zu schaffen – ganz zu schweigen von Arbeitsplätzen. Aber niemand will zurück aufs Land – hier in der Stadt besteht wenigstens die Hoffnung, dass es anders wird – vielleicht durch einen Lottogewinn oder beim verbotenen Glücksspiel, dem „Jogo do Bicho“. Auch die Industrie hat sich überwiegend in der Nordzone angesiedelt und deren Umweltverschmutzung verstärkt hier noch die allgemeine Problematik.
Und dann sind da die Bewohner der so genannten „Favelas„
Ihre Behausungen bedecken die steilen Berghänge in beiden Teilen der Stadt, und nicht, wie in anderen Grossstädten, nur in den Aussenbezirken. In der Südzone, zum Beispiel in Copacabana, trennen manchmal nur ein paar Strassenzüge diese, aus rohen Backsteinen, Kistenbrettern und Wellblech selbst gebastelten Heimstätten, von den mehrere hundert Quadratmeter grossen Luxus-Apartments der Oberschicht an der Avenida Atlântica. Bereits in der Mitte des 20. Jahrhunderts errichteten die ersten vor der Trockenheit ihrer Heimat geflüchteten Nordostbauern, an den von Buschwerk bedeckten Hängen der unzähligen Berge der Stadt Rio de Janeiro, ihre aus Abfallmaterial selbst gezimmerten Notquartiere – weil niemand diese steilen, trockenen Terrains beanspruchte, liess man sie gewähren. Dann kamen Jahre, in denen viele Tausende von ihnen vor der Trockenheit des Nordostens flüchteten und hofften, dass sie in Rio de Janeiro oder São Paulo eine Arbeit und neue Heimat finden würden. Die Notquartiere an den städtischen Berghängen wuchsen und wurden Administratoren, wie Bewohnern aus der besser situierten Klasse, ein Dorn im Auge.
Man machte verschiedene Umsiedelungsversuche dieser Menschen in extra für sie gebaute Appartements am Rand der Stadt, sie scheiterten alle. Besonders die Bewohner der Favelas an den Berghängen der Südzone, wollten dort nicht mehr weg – kein Wunder: sie haben eine bessere Aussicht aufs Meer als die meisten Appartement-Besitzer, und ihre Arbeitsstelle, zum Beispiel als Hausangestellte, Verkäuferin, Portier oder Aufzugführer, ist nur einige Minuten Fussweg von ihrer Wohnung entfernt!
Die grösste Favela Südamerikas, die „Rocinha“ in Rio, liegt an einem riesigen Berghang in der Südzone und hat rund 220.000 Einwohner, die ihre Wohngemeinschaft inzwischen als „Ex-Favela“ bezeichnen, denn man hat in diesem Fall, von behördlicher Seite, aus der Not eine Tugend gemacht und die „Favela Rocinha“ in den „Stadtteil Rocinha“ umbenannt.
Allerdings nicht ohne Basis: aus eigener Kraft haben es die ehemaligen „Favelados“ zu zirka 2.500 Geschäftsetablissements gebracht! Unter denen sich 2 Banken, 2 Omnibuslinien, 2 Radiostationen, 3 Show-Bühnen, 1 Samba-Schule, 1 Administrativ-Büro, 4 Schulen, 1 Poststation, 3 Zeitungen, 2 Erste-Hilfe-Stationen, 1 Fussball-Schule, 2 Supermärkte, 1 Omnibusgesellschaft, 2 Taxi-Standplätze und 2 Foto-Labors befinden.
Die „Rocinha“ ist bisher allerdings eher eine Ausnahme, wenn man sie mit der Situation der anderen Favelas von Rio vergleicht – eine rühmliche Ausnahme, der vielleicht sogar die andern gerne nacheifern würden, wenn sie daran nicht durch den unerbittlichen Griff der organisierten Drogendealer gehindert würden. Für die ist die Favela Festung und Versteck zugleich – die herumlungernde Jugend wird von ihnen als Handlanger benutzt. Am Anfang für Lieferungen, und wenn sie sich bewährt haben, dürfen sie ihre ersten Probeschüsse mit einer Maschinenpistole der letzten Generation abfeuern. Den bitterarmen, halbnackten Jungen, die nie ein richtiges Spielzeug hatten, gefällt das – und vor allem gefällt ihnen die Angst in den Augen ihrer Mitbewohner, die sie irrtümlicherweise als Respekt deuten. Wenn dann die Polizei von Zeit zu Zeit eine Razzia in der Favela durchführt, werden eben diese dummen, Kriegsspiel besessenen Jungs von den Bossen an die vorderste Front geschoben, wo sie, an ihre Maschinenpistole geklammert, ihr 16- bis 18-jähriges Leben unter dem Kugelhagel der Polizei aushauchen – während sich der Chef durch einen der unzähligen Hinterausgänge der Favela davonstiehlt. Und in den TV-Nachrichten, am nächsten Tag, verfolgt ganz Rio betreten den Schmerz der Mutter, die am Sarg ihres Sohnes zusammenbricht.
Rios besonderes Problem ist, dass sich die Favelas mitten im Stadtgebiet befinden und nicht in den Aussenbezirken, wie die Slums in anderen Grossstädten dieser Welt. Ungefähr eine Million Menschen leben heute unter diesen Bedingungen. Die grosse Zahl von Ein- und Ausgängen macht eine Polizeikontrolle schwierig. Und weil die Favelas sich praktisch neben den Bezirken von besser gestellten Bürgern befinden, wird auch deren Jugend andauernd mit dem Lebensstil der reichen Bürgerjugend konfrontiert – an den Stränden mischen sie sich sogar mit ihnen. Dies führt für einige zu Neid und Missgunst und, in Konsequenz, zur Kriminalität. Die meisten der führenden Bandenchefs sind noch Teens, und sie sterben jung. Ihr Motto ist: „Lebe dein Leben so intensiv und so schnell wie möglich!“
In den letzten dreissig Jahren sind rund um die Berghänge von Rio de Janeiro an die 600 solcher Wohngemeinschaften entstanden, die man als „Favelas“ bezeichnet. In ihnen leben inzwischen 20% der Bevölkerung. Die ehemaligen Notquartiere zugelaufener Landflüchtlinge haben sich zu Brutstätten des Drogenhandels und des organisierten Verbrechens entwickelt und sind damit zum Hauptgrund der internationalen schlechten Presse über Rio de Janeiro geworden, deren Artikel einen „Favela-Besuch“ als eine lebensgefährliche Unternehmung darstellen. Kein sensibler Tourist hatte sich nach diesen Berichten je noch in den Umkreis einer Favela getraut, bis in der Mitte der 90er Jahre die so genannten „Favela-Touren“ entstanden – geführt von Guides, die selbst in einer Favela aufgewachsen oder mit der entsprechenden Bevölkerung durch ein Band enger Freundschaft verbunden sind. Die Organisatoren dieser Touren verfolgen die gleichen Absichten, wie das behördliche Projekt „Favela Bairro“ – die Favelas zu rehabilitieren, zu zeigen, dass die „Favelados“ hart arbeitende, einfache Menschen sind, und dass ihre Wohngemeinschaften die gleichen Einrichtungen und Rechte in Anspruch zu nehmen verdienen, wie die anderen Bürger der Stadt.
1993 entwickelten die Stadtväter ein anspruchsvolles Projekt, mit dem man endlich die offizielle Eingliederung jener zugelaufenen Randbürger in die städtische Gesellschaft vorantreiben will: es heisst „Favela Bairro“ – Stadtteil Favela – mit folgender Grundidee: „Wenn sie partout nicht in eine bessere Infrastruktur verlegt werden wollen, dann müssen wir eben die Infrastruktur zu ihnen verlegen“! Das bedeutet: Anschluss der Favela an die städtische Strom- und Wasserversorgung, an die Müllabfuhr, an die Post, an das Schulsystem – an all die sozialen Vergünstigungen, aber auch Pflichten, eines Bürgers dieser Stadt.
Die „Interamerikanische Entwicklungsbank“ hat dafür 350 Millionen Dollar zur Verfügung gestellt – neben der Energie- und Wasserversorgung werden damit Strassen angelegt, Kinder-Tagesstätten eingerichtet, Erholungs- und Freizeitzentren, Müllabfuhr und Transport-System organisiert. Und das wichtigste: die Favelas werden offiziell in die sie umgebenden Stadtteile integriert. Das Projekt beinhaltet ausserdem eine Wiederaufforstung und die Vorbeugung der gefürchteten Erdrutsche, die immer wieder viele Menschenleben kosten, die unter ihren einstürzenden Häusern begraben werden. Die einzelnen Schritte des Projekts, und seine spezifische Vorgehensweise, werden mit den entsprechenden Repräsentanten der jeweiligen Favela vor ihrer Durchführung besprochen – hier können Änderungswünsche berücksichtigt werden.
In einer Reportage über das Projekt stand in der Tageszeitung „O GLOBO“ zu lesen: „Jeder Bürger sollte das Recht haben in einer Strasse und in einem Haus zu wohnen, mit einer Hausnummer!“