Einige der bedeutendsten Unterschiede zwischen Brasilien und dem spanischen Amerika entspringen der Geschichte der Kolonisation in beiden Teilen. Als sie keine der erwarteten grossartigen Städte wie die der Inkas, Azteken und Mayas vorfanden, konzentrierten sich die Portugiesen erst einmal auf die Bodenschätze, dann auf Exportprodukte (erst Brasil-Holz, dann Zucker). Und obwohl sich auch Städte wie Recife, Bahia und Rio de Janeiro endlich entwickelten, gab es doch, so unwahrscheinlich es klingt, bis zur Ankunft des portugiesischen Königs Joao IV in Brasilien (auf der Flucht vor Napoleon 1808) keine gedruckte Presse im Land. Das soll nicht heissen, dass es in Brasilien keine koloniale Literatur gegeben hätte, obwohl sich die Gelehrten immer noch darüber streiten, zu wie viel Prozent diese auch „brasilianisch“ gewesen ist! Als die Portugiesen 1500 brasilianischen Boden betraten, setzte der Brief des Pero Vaz de Caminha an seinen König Manuel – -der die tropische Wunderwelt der Landschaften und die Nacktheit seiner Bewohner besonders hervorhob – Massstäbe für Themen, die in zahlreichen späteren Werken erneut aufgegriffen wurden. Die ersten Schauspiele, die man in Brasilien aufführte, waren religiöse Dramen, choreographiert in drei Sprachen: Portugiesisch, Spanisch und Tupi-Guarani (die Sprache, welche von den meisten Eingeborenen verstanden wurde, übersetzt von dem Jesuit Josê de Anchieta, 1543 – 1597).
Der bemerkenswerteste Dichter des 17. Jahrhunderts ist Gregôrio de Matos (1636 – 1696), berühmt durch seine scharfen Satiren auf das korrupte Leben in der Stadt Salvador, sowie seine Verehrung für die schwarzen Frauen und Mulattinnen. Im späten 18. Jahrhundert stand eine Gruppe von Dichtern aus der Goldminengegend von Minas Gerais – unter ihnen Tomâs Antonio Gonzaga (1744 – 1810) – an der Spitze einer später von der Regierung blutig niedergeschlagenen Freiheitsbewegung (der „Inconfidencia Mineira“). Obwohl als lyrischer Dichter bekannt, ist nachgewiesen worden, dass Gonzaga auch der Autor des anonym veröffentlichten satirischen Werkes „Cartas Chilenas“ gewesen ist, welches ein lebendiges Portrait der kolonialen Gesellschaft zeichnet.
Das 19. Jahrhundert
Zum Verständnis der brasilianischen Literatur ist es hilfreich, selbst lange nach ihrer politischen Unabhängigkeit, sie als einen graduellen und manchmal auch sich widersprechenden Prozess der Emanzipation von ausländischen Einflüssen zu verstehen. Jede europäische Bewegung – Romantismus, Realismus, Symbolismus, etc. – hatte seine brasilianischen Nachfolger, aber jeder von ihnen machte irgendwie den Versuch, sein Modell auf die lokale Realität abzustimmen.
Ein gutes Beispiel dafür ist die erste dieser Strömungen, der „Indianismus“, welcher während der mittleren 19. Jahrhunderts blühte und zwei zentrale Figuren produzierte, den Dichter Antonio Goncalves Dias (1823 – 1864) – selbst mit einem Teil Indianerblut in den Adern – und den Novellisten Josê de Alencar (1829 – 1877). Es war eine Form von Romantismus, die den noblen Wilden idealisierte, mit entlehnten Szenen von Walter Scott, und unbekümmert ignorierte, was zur selben Zeit mit den lokalen Indianern geschah. Wie auch immer, es wurden nationale Gefühle und Empfindungen ausgedrückt, wenn auch durch nicht viel mehr als einer gewissen Nostalgie für eine Art von tropischem Garten Eden, der auch in dem vielleicht berühmtesten brasilianischen Gedicht von Goncalves Dias „Cancao do Exîlio“ besungen wird: „Mein Land hat Palmen-Bäume / wo die Drossel singt./ Die Vögel welche hier singen / singen nicht wie jene zuhause“.
Alencars Novellen, nicht alle handelten von Indianern, sind ein systematischer Versuch, Brasilien in seinen unterschiedlichen Aspekten zu portraitieren – die Städte inklusive. Sein „O Guarani“ (1857), von Carlos Gomes in eine berühmte Oper verwandelt, und „Iracema“ (1865) gehören zu seinen bekanntesten Novellen – die letztere ist wahrscheinlich die vollständigste mythologische Version der portugiesischen Invasion, basierend auf einer Liebesbeziehung zwischen einer indianischen Frau und einem frühen Kolonisten, dem „Martin Soares“: Iracema, die „Jungfrau mit den Lippen wie Honig“ stirbt am Ende bei der Geburt ihres Kindes, aber die Zukunft beginnt mit ihrem mischblütigen Sohn Moacir.
Nach dem Tod Alencars trat Joaquim Machado de Assís (1839 – 1908) die Nachfolge der Hauptfigur in der brasilianischen Literatur an. Er wurde Brasiliens grösster Schriftsteller überhaupt und auch der bedeutendste Lateinamerikas bis hinein in das 20. Jahrhundert, und er hatte gegen vielerlei Unbilden anzukämpfen: er stammte aus ärmlichsten Verhältnissen, war Mulatte, stotterte und wurde darüber hinaus noch von epileptischen Anfällen heimgesucht. Er schrieb neun Novellen und mehr als 200 Kurzgeschichten, schuf Gedichte und arbeitete auch als Journalist. Er beendete sein Leben als eine Persönlichkeit des Establishments, als Gründer der „Academia de Letras“ – jedoch seine Novellen, besonders die nach 1880 geschaffenen, als er „Memórias pósthumas de Brás Cubas“ publizierte, sowie die besten seiner Kurzgeschichten, sind überraschend subversive, verdeckte Attacken auf die Sklaverei und die Macht in der Hand weniger Männer, zum Beispiel. Er vermied Entdeckungen, indem er nicht seine eigene Stimme benutzte, versteckte sich hinter schrulligen, passiven Erzählern, denen man sowieso nicht trauen konnte. Alle seine Novellen und die meisten seiner Geschichten spielen in Rio de Janeiro, von wo er sich kaum je fortbewegte, und sie vermitteln ein bemerkenswert vielschichtiges Bild der Stadt und ihrer verschiedenen gesellschaftlichen Levels. Seine berühmteste Novelle , „Dom Casmurro“ (1900) gehört zu einem der best verschleierten Fälle eines unzuverlässigen Erzählers in der Geschichte der Novelle und provoziert immer noch eine kritische Polemik.
Machados Atmosphäre ist in erster Linie die des Imperiums, das im Jahr 1889 gestürzt wurde – ein Jahr nach der Befreiung der Sklaven. In der folgenden Republik drängte dann eine jüngere Generation nach vorn, sehr rebellisch in der Verfolgung ihrer Ziele, und beeinflusst von neuen wissenschaftlichen Ideen aus Europa. Wenn Machado der Ruhm des berühmtesten brasilianischen Autors gebührt, dann ist wahrscheinlich „Os Sertoes“ von Euclides da Cunha (1866 – 1909) das berühmteste Buch. Es ist eine Auseinandersetzung mit dem „Canudos Feldzug“ im Hinterland von Bahia von 1896-97. Dieser Feldzug geriet zu einem schrecklichen Desaster, der Sieg zu einem Verlust unzähliger Menschenleben, und Euclides, als Jornalist immer dabei, verwandelte dieses Desaster in eine Anklage gegen ein menschenfeindliches Gesellschaftssystem, das grosse Gruppen von Mitbürgern einfach ignorierte und ausschloss. Geschrieben in einem dramatischen, auf bestimmte Art selbstvergessenen Stil, unter stetem Gebrauch von wissenschaftlichen Ausdrücken, gibt es davon eine gute Übersetzung in Englisch unter dem Titel „Rebellion in the Backlands“.
Der andere bedeutende Schriftsteller derselben Periode war der Novellist Afonso Lima Barreto (1881 – 1922) – er war Mulatte, wie Machado, aber damit endet bereits die Ähnlichkeit. Sehr viel offener in seiner Rebellion und weniger bewusst als Künstler im Vergleich zu Machado, sind seine Novellen offene Angriffe auf die intellektuelle Scheinheiligkeit, die Korruption und den Despotismus in den die Republik immer weiter verfiel. Eine seiner bemerkenswertesten Novellen ist „Triste fim de Policarpo Quaresma“ (Das traurige Ende des Policarpo Quaresma). Eine flüchtige Bemerkung sollte man auch einem der „unklassifizierbaren“ brasilianischen Bücher widmen: Helena Morleys „Minha vida de menina“, ist ein freches, lustiges und bemerkenswert einfühlsames Tagebuch eines Teenagers, geschrieben in Diamantina, Minas Gerais, gegen Ende des 19. Jahrhunderts.