Im brasilianischen Volk gibt es zwei Konstanten, welche die Behauptung untermauern, dass Brasilien das einzige brasilianische Land der Welt sei. Über die Massen brasilianisch sogar. Und die beiden Säulen unserer Existenz sind: die Kapazität des “Jeito“ (unter Brasilianern üblicher Kompromiss, ein Problem zu umgehen) und die Kapazität des Aufschiebens (der Dinge).
Erstere wird unter uns zwar hinreichend geübt – aber im Ausland noch überhaupt nicht verstanden, wo hingegen die zweite eben dort als unsere “volkseigene Charakteristik“ weiter verbreitet worden ist, als es uns lieb sein kann.
Das, was Oscar Wilde und Mark Twain lediglich als humorige Floskel ausgesprochen haben (niemals morgen zu tun, was man auch übermorgen erledigen kann), ist für Brasilien eine unbestreitbare Verhaltensnorm, eine fundamentale Richtschnur. Und die ist nicht nur stärker, sondern sehr viel stärker als jedes andere Prinzip: gewissermassen ein angeborener Instinkt, eine spontane Macht der fremden und überraschenden brasilianischen Rasse.
Für uns Brasilianer gehören folgende fundamentale Akte zur menschlichen Existenz: die Geburt, die Fortpflanzung, das Aufschieben und der Tod – letzterer, wenn möglich, ebenfalls aufgeschoben! Wir schieben die Dinge auf, aus einer wahren und unvermeidbaren introvertierten Stimulation heraus – so wie man die Augen mit der Hand schützt, wenn sie plötzlich durch einen intensiven Lichtstrahl geblendet werden. Solch direkter, schmerzhafter Reflex bedeutet für den Brasilianer ein Problem, und eine Serie von möglichen Reaktionen dienen ihm zur Wiederherstellung seines inneren Gleichgewichts, wie “gleich heute nachmittag – erst heute abend – morgen – am nächsten Montag – nach Karneval“ oder “leider erst nächstes Jahr“.
Wir schieben am liebsten alles auf – das Gute wie auch das Böse, die Arbeit, ein Rendezvous, das Mittagessen, ein Telefongespräch, den Zahnarzt – wobei jener auch uns aufschiebt – ein ernstes Gespräch, unsere Steuererklärung, die Ferien, die Agrar–Reform, die Lebensversicherung, den Termin beim Arzt, einen Kondolenzbesuch, die Reparatur unseres Autos, ein Beethoven–Konzert, den Tunnel nach Niterói hinüber, das Fest zum Kindergeburtstag, diplomatische Beziehungen mit China – einfach alles. Sogar die Liebe! Nur der Tod und ein unterschriebener Wechsel werden relativ pünktlich eingehalten.
Was den Tod des Brasilianers betrifft, so möchte ich an dieser Stelle zwei typische Werke unserer Romantiker zitieren: In seinem “Cancão do Exílio“ (Lied aus dem Exil) bittet Gonçalves Dias den lieben Gott, ihn nach seinem Tod wieder nach dort zurückkehren zu lassen – das heisst, nach hier. Während Álvares de Azevedo den für Brasilien und die Brasilianer symptomatischen Refrain geschaffen hat: “Se eu moresse amanha“ (Wenn ich morgen sterben würde). Wie man sieht, nicht einmal unsere Romantiker akzeptierten heute zu sterben, sondern sie erbaten sich sogar von Gott einen gewissen Aufschub.
Nun, wir verschieben die Dinge aus einer gewissen höheren Gewalt heraus – einer nationalen Schicksalsergebenheit. So wie der Franzose aus einem unerklärlichen Trieb heraus dauernd am Sparen ist, der Engländer in seine Times vertraut, der Portugiese den Bacalhau (Stockfisch) liebt, der Deutsche mit diszipliniertem Eifer seiner Arbeit nachgeht, der Spanier sich im Sterben übt, der Japaner seine Gedanken verbirgt und der Amerikaner stets die bunteste Krawatte bevorzugt.
Der Brasilianer schiebt auf – also existiert er!
Die Verbreitung dieser unserer authentischen Kapazität verschiebt auch die Grenzen des Atlantiks. Und sie findet sich bereits regelmässig in internationalen Büchern und Artikeln über unser geliebtes Land. Noch vor kurzem habe ich ein französisches Buch über Brasilien gelesen – es enthielt eine fast didaktische Sammlung von Reisen – auf den letzten Seiten des Bandes fand ich einige wichtige Informationen über uns Brasilianer und unser Land. Zwischen Adressen von Botschaften und Konsulaten, Statistiken und kulinarischen Rezepten hatte der Autor folgende Bemerkung eingefügt:
Des mots – Hier: ontem / Aujourd´hui: hoje / Demain: amanha / Le seul important est le demain.
Das einzige wichtige Wort ist “morgen”. Sieh mal an, dieser federfuchsige Franzose, will uns an den Wagen fahren! Na, lass nur – den Rest meiner Ausführungen verschiebe ich auf die nächste Woche.
Nach einer Erzählung von Paulo Mendes Campos