Karnevalgeschichte

Zuletzt bearbeitet: 8. Dezember 2020

WIE DAS FEST DES KARNEVALS ENTSTAND
Tradition in Brasilien und Afrika – Vergnügen und Ausdruck des Protests während der Monarchie. Drei tolle Tage Ausgelassenheit, Spiel und Spass, ein Begriff, den die Welt mit Brasilien verbindet: “Carnaval“. Mit Wurzeln in der Religiosität des Mittelalters – herübergebracht von den Portugiesen unter dem Namen “Entrudo“. Aber wenn der Karneval auch keine Erfindung von den Brasilianern ist, so haben sie ihn doch mit grossem Vergnügen adoptiert und seiner sympathischen Symbolfigur, dem “Rei Momo“ (König Momo) offiziell die Regentschaft übertragen. Nachfolgend erfahren Sie etwas über den Hintergrund der Karnevalsgeschichte in Europa – und wie der “zivilisierte“ Karneval der Elite sich bemühte, den “gewalttätigen Entrudo“ des Volkes zu zähmen. Über die Wurzeln des Samba in Rio de Janeiro, sowie über die Eigentümlichkeiten des Frevo aus Pernambuco – zusammen mit dem “Carnaval“, den Ex-Sklaven aus Brasilien in ihre Heimat Afrika zurück brachten. Und dann wollen wir uns endlich auch auf die Bühne des grössten Festes der Welt begeben, denn, wie der Dichter sagt: “Am Aschermittwoch fällt stets der Vorhang“.

KARNEVAL IN DER GESCHICHTE
Mit Wurzeln schon in der Antike, entwickelte sich der Karneval im Mittelalter und begann von Europa aus die Welt zu erobern.

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Karneval: ein hundertprozentiges Produkt Brasiliens? Tut mir leid, lieber Leser, aber die Antwort lautet NEIN! Seine Herkunft verliert sich in der Dunkelheit längst vergangener Zeiten, sodass die rund ums Mittelmeer entstandenen historischen Religionen erst einen Platz für dieses Fest in ihrem Kalender schaffen mussten. Das Christentum assoziierte den Karneval mit der “Quaresma“ – der Fastenzeit, die der Osterzeit vorausgeht – das Judentum platzierte ihn ins “Purim-Fest“ zu Ehren der Königin Esther – und der Islam räumte den Maskeraden ein bewegliches Datum innerhalb der Anfangsphase seines jeweiligen Mondjahres ein. Das Fest ist in allen drei Religionen fest verankert, wird jedoch unterschiedlich bewertet – bei allen dreien jedoch als Fragment oder Überbleibsel aus heidnischer Zeit.

Vorläufer des Karnevals hat es auch im einstigen Babylon gegeben und im antiken Rom – aber im christlichen Kalender befinden sich seine offensichtlichsten Wurzeln. Das Christentum vereinheitlichte die Zeit aller seiner Gläubigen rund um das Drama der Passion, sodass diese an irgendeinem Ort des Imperiums zur gleichen Zeit gefeiert werden konnte. Um das Jahr 1.000 herum legt dann die christliche Weltorganisation eine Unterbrechung in den Essgewohnheiten ihrer Gläubigen fest – einen Übergang von der Periode des Überflusses zu einer Fastenzeit. Um diese Übergangszeit auch im Kalender zu verdeutlichen, bedienten sich die Kleriker der Idee einer carnis privium oder carnis tolendas (Abstinenz des Fleisches).

Während des Mittelalters wurden Feste mit Maskeraden eher von den jeweiligen Jahreszeiten denn von exakten Daten bestimmt. Zwischen Weihnachten und Karneval wurden überall zahlreiche Kehrmessen (Kirmes) abgehalten. Dies war auch die Zeit der Schweineschlachtung und der Herstellung von Würsten für die Zeit des Überflusses – in der sich die jungen Leute die Gesichter mit der Asche der zahlreichen Kochfeuer einrieben, sich Säcke, Frauenkleider oder die eigenen Kleidungsstücke verkehrt herum überzogen, sich Kapuzen überstülpten und so andere Personen erschreckten, in Häuser eindrangen, assen, tranken und die Mädchen küssten, die versuchten, sie zu demaskieren. Am Aschermittwoch erschien dann eine Figur im Dorf, die den Karneval darstellte, begleitet von seinem maskierten Gefolge. Gegen Ende des Tages wurde diese Figur dann an der Kirchenmauer verbrannt, zusammen mit den Masken des Gefolges – diese Zeremonie wurde begleitet von lautem Klagegeschrei des Publikums, denn damit begann die Fastenzeit “Quaresma“.

In der Region von Nordspanien wurden zu diesem Fest die Rollen der Frauen vertauscht: am 5. Februar, ein Tag welcher der Schutzheiligen Santa Agatha geweiht ist, übernahmen die Frauen die Herrschaft in den Häusern und auf den Strassen, wo sie sich mit Tänzen und Gesängen präsentierten. In Griechenland feierte man das Fest am 8. Januar. Die Frauen versammelten sich im Haus der ältesten Hebamme, der “Babo“, in ihren schönsten Kleidern. Unter fröhlichen Gesängen konfektionierten sie ein männliches Subjekt aus allerlei Gemüse und Obst, um es dann durch die Strassen zu tragen und dabei zu beschimpfen. Schliesslich beendete ein allgemeines Bankett das Fest und besiegelte die Hoffnung aller auf ein fruchtbares Neues Jahr.

In anderen Regionen bereiteten die Frauen Mahlzeiten zu, deren Reste zur grossen Schlacht am Aschermittwoch verwendet wurden. Nachdem die Männer sich extrem vollgefressen hatten, imitierten sie eine Schwangerschaft und brachten ein schreiendes Baby zur Welt (ein Mitglied der Gruppe). Das Spiel mit der männlichen Schwangerschaft nimmt das Thema der Fortpflanzung wieder auf. Die “Festa dos Loucos“ (Fest der Verrückten), die sich in der Malerei des Renaissance präsentiert, kehrt die klerikale Hierarchie um – mit Tänzen, komischen Predigten, religiösen Gesängen mit doppeltem Boden und Padres in Frauenkleidern. Sie verliert sich im 15. Jahrhundert.

In den Städten der modernen Zeit marschierten maskiert die so genannten “Nationen“ der Studenten, die Bruder- und Schwesternschaften der Künstler und Kunsthandwerker. In ihren “Abadias de Alegria“, deren Mitglieder sich aus Künstlern, Kunsthandwerkern und ihren Schülern zusammensetzten, entstanden so genannte “Cavalgadas“ (Reiterspiele) und ein “König der Narren“ wurde in einem Karren während eines triumphalen Umzugs dem Publikum präsentiert.

Das ideale Modell stellt sich im “Carnevale“ der italienischen Städte dar, wo das Spiel zwischen Maskerade und Theater das höfische Leben kolportierte. In der Toskana, zum Beispiel, galoppierten junge Aristokraten, herrlich geschmückt, durch die Städte, während sich in Venedig die “Mascareri“ vervielfachten – Kunsthandwerker, die aus Pappe, Samt, Leder und gewachstem Leinen Masken herstellten. Die Figuren des Harlekins und der Polichinelo entstehen. Der Karneval bemächtigt sich der Elemente des Theaters, derart, dass Caterina de Medici (1519 – 1589) eine Truppe der “Commedia dell’arte“ verpflichtet, um die Feste zu animieren, welche sie am französischen Hof eingeführt hatte. Ab dem 18. Jahrhundert wird die Maske obligatorisches Utensil auf Festen und öffentlichen Plätzen. Einige Elemente haben bis heute überlebt: das Konfetti, zum Beispiel, wurde ehemals in Venedig hergestellt, aus gezuckerten Körnern, später ersetzt durch farbiges Papier. Und das Wort “Corso“ stammt aus der gleichnamigen Strasse der italienischen Hauptstadt, wo man die Volksfeste feierte.

Der Karneval folgte den europäischen Seefahrern auf dem Fuss und in den Rest der Welt. Im Lauf der Zeit haben sich ländlicher und städtischer Karneval dann ergänzt. Von unterschiedlicher Dauer, legten sie mehr oder weniger Wert auf die Maskierung, waren sie mit der Fastenzeit oder mit landwirtschaftlichen Riten verbunden – wie zum Beispiel in Mexiko oder in den Anden, beim Mardi Gras von New Orleans oder dem Karneval der haitianischen Schwesternschaften, wo sich die Masken des Woodoo mit denen des Karneval mischen. Als eine Zeit des Rollentausches, der erlaubten Revolte, besiegt der Karneval die Ängste und explodiert in Ausgelassenheit. Seit seiner Herkunft präsentiert er sich als eine kurze Zeit des ritualisierten Aufstandes, der sich in der Verunglimpfung der Autoritäten ausdrückt, im Fest der maskierten Gesichter, aber vor allem auch im Lachen der Menschen. Ein Lachen, welches sogar dem Tod trotzt – aber auch ein Lachen, das unweigerlich mit der Traurigkeit verbunden ist, die am Aschermittwoch beginnt.

nach obenEINE HAUPTSTADT IM VERGNÜGUNGSRAUSCH

Zwischen den Luxus-Umzügen der Eliten, welche sich nach Europa richteten, und den traditionellen Belustigungen des “Entrudo“, der die Cariocas animierte, schälten sich die Tendenzen Rio de Janeiros gegen Ende des 19. Jahrhunderts heraus.

Die Rua do Ouvidor, im 19. Jahrhundert als eine Synthese der Hauptstadt Brasiliens, Rio de Janeiro, betrachtet, war auch Schaufenster ihrer Widersprüchlichkeiten. Einerseits waren in ihr die alten kolonialen Fassaden perfekt erhalten, den ihr Name bereits suggeriert, andererseits war sie aber auch als “Arterie der Zivilisation“ bekannt, in der neue Trends zuerst gesichtet wurden. In ihr konzentrierten sich elegante Modegeschäfte, die ersten Schneider am Platz sowie Hutgeschäfte und Zubehör, Schönheitssalons, Restaurants und Hotels erster Wahl. Ausserdem war sie Adresse der bedeutendsten Buchläden und Verlage, Cafes, Bistros und anderen Treffpunkten einer intellektuellen Bohême, die von Paris träumte. Sie beherbergte, darüber hinaus, auch die Redaktionsbüros der bedeutendsten Tageszeitungen, in deren Eingängen sich Personen zu treffen pflegten, um die Neuigkeiten aus aller Welt zu erfahren. Das Ende der Sklaverei und die Projekte für die Zukunft waren zentrale Themen an den Tischen von Literaten und Journalisten im entscheidenden Jahrzehnt 1880. Aus diesem Grund hat Rui Barbosa jene alte Strasse als “Laufsteg unseres Geistes“ bezeichnet, als er sich dieser Periode seines Lebens erinnerte.

Ein so wichtiger Ort im Leben der Stadt war natürlich auch Mittelpunkt der alljährlichen Karnevalsveranstaltungen. Auf der Höhe der Erker und Balkone, deren bevorzugte Tribünenplätze von jenen gegen Gold angemietet worden waren, die sich solchen Luxus leisten konnten, versammelten sich die best situiertesten Familien der Stadt – Herren in feinsten Anzügen, Damen in schicken Kleidern oder Kostümen aus Seide, ihre Knaben und jungfräulichen Töchter. Während die Geschäftsleute, in einem Festkomitee organisiert, von einer Strassenseite zur andern Bögen gespannt hatten, mit Girlanden und festlicher Beleuchtung, um so die karnevalistischen Vereine gebührend zu empfangen, die von ihnen finanziert und von Journalisten und Schriftstellern unterstützt wurden – “von Männern des Geistes“, wie man sie damals nannte. In ihren “Cortejos“ – den langen und ausführlich vorbereiteten “Reden ans Volk“ (wir können sie mit den in Europa üblichen “Büttenreden“ vergleichen) – legten sie der Bevölkerung ihre persönliche Meinung über die gegenwärtige Politik, die Zustände und die Persönlichkeiten dar, denen das Wohl der Bürger dieser Stadt und des Landes anvertraut worden war. Diese Themen wurden bereits Wochen vorher mittels grosser Anzeigen in den verschiedenen Tageszeitungen verbreitet – den so genannten “Puffs“ – um die allgemeine Neugier anzustacheln: manchmal in komischen Versen, die auf die Ereignisse des vergangenen Jahres Bezug nahmen und am Karnevals-Montag in der Rua do Ouvidor zitiert werden würden – und die das zuschauende Volk in eine vibrierende Anhängerschaft von pro und contra spaltete.

Während der Aufmärsche war vor allem die Kritik an der Sklaverei, und der Regierung, welche diese Politik aufrecht erhielt, Thema Nummer Eins – was verständlich macht, warum diese Karnevalsvereine so sehr von den Cariocas verehrt und geliebt wurden. Solch gemeinsame Zuneigung der Reichen der Erker und Balkone auf der einen und jenen Personen, die sich unter diesen auf der Strasse drängten, auf der anderen Seite, war sicher ungewöhnlich. Schliesslich hatten die Vereinsmitglieder, die meisten erst wenige Jahrzehnte zuvor geboren, sich vor allem auf ihre Fahnen geschrieben, den als “barbarisch und gefährlich“ verschrieenen “Plebs“ zu “zivilisieren“ – dasselbe Volk, welches sich nun um sie drängte und ihnen frenetisch applaudierte. Dies sei der “wahre Karneval“, so sagten sie – so, wie man ihn in Paris, Nizza oder Venedig praktiziere – und seine einzige legitime Form.

Ihr ausdrückliches Ziel war es, Schluss zu machen mit jener karnevalistischen Ausuferung, die sie als “Entrudo“ bezeichneten – ein Terminus, der sowohl die Unsitte einschloss, Wasser auf ahnungslose Passanten zu schütten, sich das Gesicht zu übermalen und andere Arten der Persönlichkeitsveränderung, bis zu dem groben Unfug von Maskierten – den so genannten “Zé-Pereiras“ (Banden mit grossen Trommeln und anderen Lärminstrumenten) – die gesetzeswidrig lärmend durch die Strassen zogen und den braven Bürgern schlaflose Nächte bescherten. Unterstützt wurden sie in ihrer Absicht von den Behörden, welche jedes Jahr Flugblätter in Umlauf brachten, in denen solch “grober Unfug“ ausdrücklich unter Strafe gestellt wurde, und die viel Energie aufbrachten, widerspenstige Narren zu verhaften und ihnen entsprechende Geldstrafen aufzubrummen.

Und deshalb verwandelte sich die Rua do Ouvidor an jedem Karnevals-Montag in ein konfuses Meer von Menschen, die sich aus den unterschiedlichsten Gründen hier zusammengefunden hatten. Da gab es eine Art Mittelschicht, die sich aus den zentralen Stadtbezirken zu Fuss oder per Mietwagen hierher bewegt hatten – ganze Familien, deren Oberhaupt den Weg in höchster Alarmbereitschaft zurücklegte, weil er irgendwelche beeinträchtigenden Tollheiten fürchtete, die von allen Seiten kommen konnten. Aber, um die Karnevalsvereine zu sehen, unterwarfen sie sich einmal im Jahr dem Gedrängel und physischen Kontakt mit jenen gefürchteten “Disqualifizierten“. Sehr viel mehr Leute strömten allerdings per Strassenbahn herbei, aus den weiter entfernten Bezirken, die an diesem Tag ihrem eigenen, spontanen Strassenkarneval den Rücken kehrten. Am Montag hinterliessen sie ihre Wohnbezirke fast menschenleer – und verwandelten die Strassenbahnen mit ihren mitgebrachten Trommeln, Ziehharmonikas, Trompeten, Rasseln, Ratschen, Schellenbäumen und vielen anderen improvisierten Instrumenten, schon auf dem Hinweg in tobende, lärmende, rhythmische Klangkörper, die auf Schienen dem Zentrum der Stadt entgegenrollten.

Darüber hinaus brachten sie alle Utensilien für die “Molhadeira“ mit (das Nassmachen) – und steckten in ihren traditionellen Verkleidungen, die ausdrücklich von den Zeitungen und der Polizei “im Namen der Zivilisation und im Interesse der Karnevalsvereine selbst“ bekämpft wurden: unter den gutmütig wirkenden, riesigen Pappköpfen alter Männer verbargen sich in der Regel die geschicktesten “Capoeiristas“ (Fusskämpfer) der Stadt – die so genannten “Diabinhos“ (Teufelchen) – junge Männer, denen es besonderen Spass machte, das Fest mit ein bisschen Gewalt aufzumöbeln (für die Polizei verbargen sie Rasierklingen in ihren Haarschöpfen – aus diesem Grund mussten sich, einige Jahre später, ihre Beamten der unangenehmen Aufgabe unterziehen, jenen Teil der Anatomie dieser “armen Teufel“ mit der Schere abzuschneiden). Andere steckten in Domino-Kostümen, unmöglich zu identifizieren – es konnte sich um Männer oder Frauen, Schwarze oder Weisse handeln – und ihr Platz in der Gesellschaft der Bürger liess sich höchstens am Preis der Stoffe oder ihrer Verarbeitung erkennen. Dazwischen eine grosse Anzahl der verschiedensten Maskierungen, deren Bedeutung gegenüber ihren Zeitgenossen keiner Erklärung bedurfte: Totenschädel, Gerippe, “Vater Joâo“, der “eselige Doktor“ und viele andere. Auch Lausebengel ohne Kostüme strömten herbei in der Absicht, sich zu amüsieren. Einige Männer in Anzug und Zylinder versuchten, sich unbemerkt einzuschleichen. Gruppen von Studenten der Rechtswissenschaften und der Medizin beschäftigten sich damit – unter aktiver Unterstützung durch die Frauen, inklusive derer in den exklusiven Erkern und Fenstern über ihnen – teure gesellschaftliche Statussymbole mit Wasser zu bewerfen und zum Zusammenfallen zu bringen, welche sie als unangebracht befanden, innerhalb eines Rituals, in dem die gesellschaftlichen Unterschiede, ihrer Meinung nach, aufgehoben sein sollten.

Und während die Wartezeit auf den Einmarsch der Vereine verging, wuchs auch die allgemeine Erregung unter den Zuschauern. Die heterogene Menge drängelte sich, um die “Tenentes do Diabo“, die “Democráticos“, die “Fenianos“ und ein paar andere Vereine von geringerem Prestige vorbeimarschieren zu sehen. Obwohl sich der Karneval durchaus an allen seinen tollen Tagen animiert gab, war dieser Montagnachmittag und die ihm folgende Nacht etwas Besonderes. Am Tag zuvor, zum Beispiel, waren an derselben Stelle Gruppen von befreiten und versklavten Negern vorbei marschiert, bekannt als “Cucumbis“. Einige davon hatten ihren Vereinssitz in der Rua do Hospício und ein oder zwei Gruppen auch in der Cidade Nova. Sie repräsentierten einen Krieg zwischen Afrikanern und Indianern, vor dem sich die Meinungen des Publikums gespalten hatten. Noch wenige Jahre zuvor waren sie wegen des traurigen Schicksals der Schwarzen bemitleidet worden, während sie jetzt in den Kolumnen der Zeitungen bereits warnend als “alarmierendes Signal eines beginnenden Afrikanismus“ bezeichnet wurden – einer Gefahr, der es im Namen der brasilianischen Zukunft zu begegnen galt. Leute kamen herbei, um sich ihre “barbarischen Tänze“ anzusehen und ihre “gebrüllten Ovationen“ zu hören – aber die Anzahl der Zuschauer war nichts im Vergleich zu jener schweissüberströmten Volksmenge am Montag, die sich stets mit demselben Repertoire selbst unterhielt, solange “der eigentliche Karneval“ noch nicht aufmarschiert war: dazu gehörten Limonen als Wurfgeschosse, Angriffe mit weissem und rotem Puder, mit dem sich die Schwarzen gegenseitig zu bemalen pflegten, um so die Weissen lächerlich zu machen. Und inmitten dieser Szene auch immer wieder die so genannten “Rolos“, Rangeleien von aggressiven Zeitgenossen, die das kontinuierliche Eingreifen der Polizei erforderlich machten. In einem solchen Klima von explosiver Zusammengedrängtheit, teilten “Entrudo“ und Karneval die Öffentlichkeit in Fronten, welche in zunehmendem Masse die Aspekte eines Volksaufstandes anzunehmen schienen.

Dann vernahm man aus der Ferne plötzlich den Klang von Instrumenten und den tiefen Bum-Bum-Bass grosser Bauchtrommeln, die das Nahen des ersten Vereins ankündigten. Das vorausmarschierende Musikkorps, angemietet von der Feuerwehr oder einer anderen militärischen Korporation, wurde von einem Maestro angeführt, dessen Vorliebe für Polkas und Militärmärsche unüberhörbar waren. In diesem Moment führten sie gerade den Triumphmarsch aus Aida aus, gefolgt von der berühmten Arie aus dem Toreador. Die Musik (vollkommen anders als die kannibalische Trommelei am Vortag) bestimmte den Rhythmus und die Fortbewegung der einzelnen Vereinsgruppen. Die Wasserwerfer aus dem Volk und die anderen verpönten groben Spässe nahmen im Verlauf ihres Vorbeimarsches zwar etwas ab, hörten aber nie ganz auf. Die Menge reckte ihre Hälse, um die beiden Wagentypen zu bewundern, welche von den Vereinsmitgliedern auf die Strasse gebracht worden waren.

Die so genannten “allegorischen“ Wagen waren dazu bestimmt, das Auge zu erfreuen und mit viel Glanz und Glorie die Bedeutung des Karnevals und seines ihm huldigenden Vereins zu demonstrieren. In der Regel mit einer Referenz an die klassische Kultur, präsentierten sie Allegorien aus der Politik: die Freiheit, zum Beispiel, mit keck aufgesetztem Barett und unbedeckten Brüsten, gestützt auf griechische Säulen, wurde üblicherweise von einer Schauspielerin des Theaters oder von einer der schnellen Berühmtheiten der Stadt, mit französischem Namen, präsentiert. Auf den Wagen von gigantischen Dimensionen passierten sie die Fassaden der alten Gebäude auf der Höhe der Erker und Balkone – im Schutz deren Fenster Senhoras und Senhoritas sich im Rhythmus des intonierten Opernmarsches wiegten und jenen Frauen Küsschen und Blumen zuwarfen, die sie an normalen Tagen mit den allergrössten Vorurteilen zu belegen pflegten. Auf diesen Wagen wie auf anderen, die sich besonders in einer deutlichen politischen Kritik präsentierten, garantierten angeheuerte “Capoeiristas“ für die Sicherheit ihrer Belegschaften, an der Seite der Kurtisanen oder der verantwortlichen Journalisten und Schriftsteller.

Die so genannten “Wagen der Kritik“ ihrerseits, provozierten allgemeines Gelächter der erwartungsvollen Volksmenge – appellierten an den Humor, indem sie mit Satire und Zynismus die letzten Ereignisse in der Welt und die Unfähigkeit der Politiker ihrer Stadt kolportierten – in einem ungeschminkten Pamphlet-Stil. In jenen Jahren, in denen die Frage der Sklavenbefreiung das Thema Nummer Eins war, übte man Kritik an der Regierung und der Autorität ihrer Politiker ohne die geringsten Scheuklappen. Auf der anderen Seite waren Lobeshymnen gegenüber den Anführern zur Sklavenbefreiung, wie zum Beispiel Joaquim Nabuco, ebenfalls Inhalt der karnevalistischen Präsentationen. Karikaturen des Kaisers oder der Mitglieder seines Kabinetts, groteske Konstruktionen ihrer autoritären Figuren, Kritiken an ihrer Langsamkeit, mit der sie den Prozess der Sklavenbefreiung behinderten, wurden begleitet von einem Wagen, der die Kampagnen der bedeutendsten Karnevalsvereine darstellte, mit der sie im Lauf des Jahres die Eigentumsrechte an zahlreichen Sklaven angekauft hatten, um diesen armen Teufeln dann die Freiheit zu schenken – und diese Schenkung zu verbriefen. In den Jahren um 1880 provozierten sie damit gewaltige Emotionen und Sympathien, zumal in einer Stadt, die sich ganz offen gegen die Sklaverei aussprach und selbst zu einem beträchtlichen Teil von schwarzen Bürgern bewohnt wurde.

Aber kaum war ein Verein vorbeimarschiert, fingen wieder die Limonen an in entsetzlichen Mengen durch die Luft zu fliegen und das profanere Volksvergnügen nahm seinen Verlauf – bis zu dem Moment der Fanfarenstösse, die den Aufmarsch des nächsten Vereins ankündigten.

Diese alljährliche fröhliche Veranstaltung jener Tage verwandelte sich zusehends in eine richtige Schlacht. Auf der einen Seite die Verteidiger des “wahren Karnevals“ der bedeutendsten Vereine, die wie “grosse Eroberer“ hinter ihrer gemeinsamen Aufgabe hermarschierten, den Pöbel und das Land zu “zivilisieren“. Auf der andern die Zielobjekte ihrer Anstrengungen, die sich zwar ebenfalls an den Vereinspräsentationen ergötzten, ihren Ideen auch applaudierten, sich darüber hinaus aber auch köstlich mit so profanen Spässen amüsierten, wie sich gegenseitig nass zu machen, zu beschmieren, sich unflätige Beleidigungen unter dem Schutz einer Maske an den Kopf zu werfen, zum infernalischen Getrommel der “Zé-Pereiras“ zu tanzen und all das zu tun, wonach ihnen der Sinn stand – ohne sich im geringsten um die in den Medien und allen gemeinsamen Rückzugsgebieten der Elite aufkommenden Diskussionen zu kümmern, welche sich besorgt mit der Zukunft beschäftigten – nicht nur der des Karnevals, sondern auch der des ganzen Landes. Noch vor wenigen Jahren hatten sie alle mit dem “Entrudo“ ihren Spass gehabt – jeder, wo es ihm belebte, entweder innerhalb seiner vier Wände oder eben auf der Strasse – jeder an seinem Platz, mit seinem eigenen Kodex und seiner eigenen Hierarchie. Und jetzt? Worum es bei der Diskussion eigentlich ging, war die Art und Weise eines Zusammenlebens von Ungleichen, ein neuer Zustand, der durch die Abschaffung der herrschaftlichen Barrieren geschaffen wurde, und nun zu einer permanenten Form der Unsicherheit in der Bevölkerung und letztlich sogar im Reich der Narrenkönigs “Momo“ heranwuchs.

Wenn es in einer noch nicht so weit entfernten Vergangenheit auch noch akzeptiert worden war, die Zylinder von antikarnevalistischen Snobs zu ruinieren, war es jedoch inzwischen nicht mehr zu tolerieren, dass solcher Vandalismus sich auf offener Strasse abspielte, angeführt wurde von Jugendlichen, die sich mit dem rachsüchtigen schwarzen Abschaum mischten und sämtliche Grenzen der Zivilisation weit hinter sich liessen. Es war normal und in gewisser Weise auch komisch, sich unter ebenbürtigen Provokationen an den Kopf zu werfen oder maliziöse Vermutungen, wenn man sein Gesicht hinter einer Maske verstecken konnte und es darüber hinaus auch noch verstand, seine Stimme mit weiblichem Falsett zu verfremden – aber es war eine geradezu schreckliche Peinlichkeit, einer dieser “groben Beleidigungen“ jener Individuen beiwohnen zu müssen, deren Anonymität von Dominos aus grober Sackleinwand gewahrt wurde und Masken aus Draht und Pappmaché. Es galt einmal als romantisch und erregend, im Schoss einer Jungfrau – vor Neugierigen beschützt zwischen den Wänden eines “Sobrados“ – Limonen aus Wachs voll sinniger Inhalte zu zerbrechen – jetzt jedoch schien es eine unverzeihliche Beleidigung, dass es unbekannten Individuen erlaubt sein sollte, mit Wasserspritzen und Puderdosen über unbescholtene Damen in Begleitung herzufallen, die sich zu einem Spaziergang auf die Strasse wagten.

Auch Fenster und Erker bewahrten nicht mehr, wie noch vor wenigen Jahren, die Klassenunterschiede und den Respekt vor der “Obrigkeit“. Darüber hinaus schienen auch alle diese suspekten Leute von der Strasse sich gar nicht mehr so passiv gegenüber jenen Regeln zu verhalten, welche den alten Karnevalsveranstaltungen jenen Anstrich eines ruhigen Festes aller Bürger verliehen hatten – ohne Drohungen oder Ausschweifungen. Die “Regeln“ zerbrachen – umgeben von tatsächlichen und eingebildeten Gefahren – die Normen lösten sich auf und die Hierarchien, die noch vor kurzem als unangreifbar galten, schienen sich in Luft aufzulösen. Und nachdem sie ihre Referenzen verloren hatten, verlangten die weniger couragierten liberalen Eliten nun nach neuen Regeln für ihr Land und auch für ihren Karneval: sie weigerten sich, “sich im Meer der Unbekannten zu verlieren“, nur ein Name in einer Chronik zu bleiben, ohne Geld zum Anmieten eines Wagens, der ihn “vom Pöbel der Strassen“ unterschied – mit deinem deutlichen Gefühl, das vom Schriftsteller Machado de Assis registriert wurde, nachdem er seinen Lesern Bons Dias (schöne Tage) gewünscht hatte und sich damit auf den letzten Karneval des Jahrzehnts bezog: Die elegante Rua do Ouvidor war endlich zu einem Kriegsschauplatz geworden.

Angesichts der Differenzen und dem völligen Fehlen von Regeln des Entrudo, suchte man ein homogenes Fest zu rekonstruieren, welches die alten Klassenunterschiede wieder herstellen sollte. Angesichts der hierarchisierten Gesellschaft aus alter Zeit, die inzwischen kurz vor einer Explosion zu stehen schien, wie eine jener Limonen aus Wachs, träumte man von einer modernen Nation und einem in sie integrierten, untertänigen Volk. Unter dem Segen des Narrenkönigs Momo erwartete man, dass es diesem gelingen möge, in einer einzigen gemeinsamen Riege zu marschieren oder wenigstens dabei zuzuschauen – entzückt und passiv – wie sich die Riege der antiken Zylinder neu formierte.

Maria Clementina Pereira Cunha ist Professorin an der UNICAMP (Universidade de Campinas im Bundesstaat São Paulo) und Autorin des Buches “Ecos da Folia: uma história social do Carnaval Carioca entre 1880 e 1920“.
São Paulo: Companhia das Letras, 2001.

Deutsche Übersetzung/Bearbeitung Klaus D. Günther für BrasilienPortal

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