Wenn Sie ein Fan des Strassenkarnevals sind, dann liegt es doch nahe, dass wir auch ein bisschen von diesem Volksfest erzählen, das zwar fast in jeder Stadt Brasiliens, jedes Jahr, mehr oder weniger originell gefeiert wird, sich aber besonders in Recife und Olinda in einer Authentizität ausdrückt, die man sonst wo schwerlich antreffen wird. Ganz besonders nicht in Rio de Janeiro, wo der Karneval zu einer Supersexy-Monster-Show erstarrt ist, die jedes Jahr mit grösseren Rollbühnen, gigantischeren Plastikmonstern und weniger Wäsche an den gymgestylten und silikonkorrigierten Wonnekörpern daherkommt – und, jedes Jahr auch mit teureren Eintrittskarten für die Bewunderer solcher „entarteten“ Kunst.
Der „Carnaval Pernambucano“ ist ganz anders
Wer noch nicht dabei war, der hat wenigstens von ihm gehört und nimmt sich vor, im nächsten Jahr ganz bestimmt dabei zu sein. Die natürliche Freude und Ausgelassenheit dieser Menschen, die grosse Kreativität mit bescheidenen Mitteln und der spontane Enthusiasmus der Block-Mitglieder, die Bereitschaft der Bürger, sich vom Strom des Übermuts mitreissen zu lassen – das alles erfüllt jeden einzelnen „Pernambucano“ mit grossem Stolz, und – bevor er sich dann selbst unter seine lauthals jubilierenden Landsleute mischt – empfängt er den Besucher mit weit offenen Armen, um ihn mit zum „Carnaval“ zu nehmen. Etwas Schöneres als dieser ansteckende Rhythmus, die kreativen Kostüme und Masken, die Lichter der Stadt, die exotischen Farben und die heisse Musik kann er seinen Gästen privat wohl kaum bieten.
Der Karneval von Pernambuco gehört dem Volk – von Recife bis Olinda, von Petrolina, im „Sertão“ bis zu der „Zona da Mata“, in Vitória de Santo Antão – das Fest erfasst und bewegt sie alle. Und es ist egal, ob man in der Maske des Königs, dem Kostüm der Prinzessin oder dem Lederwams des Sklaven erscheint. Das Wichtigste ist, an den vier tollen Tagen mit dabei gewesen zu sein und mitgewirkt zu haben, die Tradition eines der schönsten Karnevalsfeste unseres Planeten aufrechtzuerhalten.
AUS DER GESCHICHTE DES KARNEVALS
Während der brasilianischen Kolonialzeit bis in die erste Republik war der so genannte „Intrudo“ allgemein verbreitet, ein derber Spass, den die Portugiesen aus ihrer Heimat mitgebracht hatten: man bewarf sich gegenseitig mit Mehl und Kalk, mit überreifen Tomaten und faulen Eiern, mit Farbe und allem was klebte. Getreu dem Beispiel des Königs und seinen Ministern, die sich gegenseitig mit allen erdenklichen landwirtschaftlichen Produkten die Seidenkleider und Spitzenkragen verdreckten.
Aber bald fand das in Brasilien niemand mehr spassig und man ging darauf über, sich mit angenehmeren Stoffen zu bewerfen und zu besprühen zum Beispiel mit wohlriechenden Zitronenstückchen, parfümierten Gummibällchen und parfümiertem Wasser aus einer Sprühflasche, die hier zum ersten Mal im Jahr 1885 auf dem Markt erschien. Luftschlangen und Konfetti kamen später ebenfalls hinzu.
In Pernambuco wurde der portugiesische „Entrudo“ bald durch traditionelle afrikanische Gebräuche ergänzt: Als sich (im 17. Jahrhundert) die Sklaven verschiedener Organisationen, wie zum Beispiel der „Kompanie der Zuckerträger“, anlässlich des Festes der „Heiligen Drei Könige“ versammelten. Sie formierten sich zu festlich geschmückten Gruppen, die unter bunten Fahnen zusammen marschierten und ihre Choräle sangen. Der Schluss war dann jedes Mal das lustige gegenseitige Bewerfen mit Feldfrüchten, wie sie es bei ihren Herrschaften gesehen haben.
Im 19. Jahrhundert führte man den „Frevo“ und den „Passo“ in Pernambuco ein – eigenwillige Tanzschritte und Rhythmen, die aus einer Mischung verschiedener europäischer und afrikanischer Einflüsse kreiert wurden. Damit bekam der Karneval in Recife seine unverwechselbare Identität. Und von da an organisierten städtische Arbeiter die ersten karnevalistischen Vereinigungen und präsentierten ihre Umzüge – streng nach Berufsgruppen getrennt – in den populären Stadtteilen. Diese Berufsgruppen-Trennung verlor sich dann im Lauf der Zeit, die Karnevalsclubs öffneten sich für jedermann und ihre kuriosen Namen haben sich teilweise bis heute erhalten.
Da gibt es zum Beispiel: die „Canequinhas Japonesas“ (Die Japanischen Becherchen), oder die „Marujos do Ocidente“ (Die Seebären vom Okzident) und die „Toureiros de Santo Antônio“ (Die Stierkämpfer von Sankt Anton).
Heute ist der Karneval in Recife einer der grössten kulturellen Schmelztiegel Brasiliens! Ausgelassene Menschen aller Rassen und Nationen, Einheimische wie Besucher marschieren, singen und klatschen begeistert den Rhythmus an der Seite der „Maracatus“, der „Ursos“, der „Caboclinhos“, der „Escolas de Samba“, der „Blocos“ und „Tribos“, und vergessen ihre eigenen kleinen und grossen Sorgen in jenem schwebenden Gefühl.
O GALO DA MADRUGADA
Der „Hahn der Morgenfrühe“ ist ein so genannter Karnevals-Block, der gegen 5h30 am Karnevalssamstag ganz Recife aufweckt und in eine immense bunte Tanzparty unter offenem Himmel verwandelt. 1977 fingen die Gründer mit einem kleinen Kostüm- und Masken-Club an, scharten ein paar Freunde um sich, die in der Nähe wohnten oder im Stadtteil „São José“ arbeiteten.
Heute strömen mehr als 1,3 Million Personen zu der grössten Volkskonzentration zusammen, die je von einem einzigen Block verursacht wurde. 30 „Trios Elétricos“, verschiedene „Frevo-Vereine“ und Dutzende von „Carros Alegóricos“ (das sind die allegorischen Wagen) gehören heute zu diesem Block. Kein Wunder also, dass der „Galo da Madrugada“ 1995 ins Guiness-Buch als „der grösste karnevalistische Verein des Planeten“ aufgenommen wurde.
FREVO
Dieser Tanz-Rhythmus ist das Markenzeichen des Pernambukanischen Karnevals, und er hat sich aus dem Repertoire der Militärkapellen während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt, angereichert durch die Rhythmen des „Maxixe“, der „Modinha“, der „Polka“, des „Tango“, der „Quadrilha“ und des „Pastoril“.
Im Lauf der Zeit hat sich der „Frevo“ seine eigenen Charakteristika geschaffen: zum Beispiel, typische Schritte und Sprünge aus dem bahianischen „Capoeira“ übernommen, wie die „Schere“, das „Scharnier“, den „Fusstritt“ oder den „Rollsprung“. Ab 1930 erschien der „Frevo“ in drei Präsentationsformen: „Frevo-de-rua“ (Strassen-Frevo), „Frevo-de-bloco“ (Block-Frevo) und „Frevo-canção“ (Frevo-Gesang).
Frevo-de-rua
Wird nur instrumental intoniert, ohne Text. Wird nur zum Tanzen gespielt. In ihm gibt es allerdings wieder Unterschiede: der „Frevo-abafo“ – hier überwiegen die Metall-Instrumente, der „Frevo-coqueiro“ – mit sehr vielen hohen Tönen (hohen Noten) und der „Frevo-ventania“ – mit stark synkopiertem Vortrag.
Frevo-de-bloco
Wird von einem so genannten „Holz- und Saiten-Orchester“ ausgeführt, mit Gitarren, Banjos und Ukuleles. Seine Texte und Melodien werden oft von weiblichen Chören ausgeführt. Im Allgemeinen präsentieren sie eine Mischung aus Lyrik und Poesie.
Frevo-canção
Auch „Marcha-canção“ (Marsch-Gesang) genannt, präsentiert eine musikalische Einleitung und dann einen gesungenen Teil, mit ganz unterschiedlichen Themen aller Genres.
„Der Frevo ist ein pernambukanisches Gefühl. Etwas, das man inmitten des Volkes spürt – der Druck der grossen Volksmassen, ihrem Kommen und Gehen in gegensätzliche Richtungen, wie beim Karneval“ – eine Definition von „Pereira Costa“ in seinem alten „Vocabulário Pernambucano“. „Frevo“ wurde von „ferver“ (kochen) abgeleitet. Im Volksmund auch „frever“ – „frevo“ = ich koche!
Das Niveau des pernambukanischen Karnevals kann man am besten an seiner Vielfalt von verschiedenen Rhythmen messen, die den Besucher tatsächlich wie ein exotischer Ohrenschmaus überraschen. Neben dem „Frevo“, dem in all seinen Variationen bestimmt der erste Rang gebührt, hat man den „Maracatu“, den „Afoxé“, den „Samba“ und den „Caboclinho“ weiterentwickelt – die ersten drei sind afrikanischen Ursprungs und der Letzte stammt von den Indianern. Jeden dieser Rhythmen wird man auf dem Karneval in Pernambuco finden und jeder Besucher kann sich, je nach Gusto, vom einen oder anderen vereinnahmen lassen. Er braucht nur ein bisschen Kondition!
MARACATU
Bis ins 19. Jahrhundert bezeichnete man in Brasilien ein Treffen oder irgendeine Versammlung von Schwarzen mit „maracatu“. Ein Begriff, der von den Sklaven aus ihrer Heimat Afrika mitgebracht worden war, allerdings als Bezeichnung für eine typisch afrikanische Krönungs-Prozession. Und die ist heute choreographischer Hintergrund für den karnevalistischen „Maracatu“: Das gekrönte schwarze Herrscherpaar in märchenhaften Roben, unter einem riesigen, von Dienern getragenen Sonnenschirm – flankiert von „Baianas“ in schneeweissen Spitzengewändern, die sich links und rechts der beiden im Tanz drehen. Es folgt die „Dama do Passo“, die auf einem langen Stock eine Puppe – die „Calunga“ – balanciert und damit dirigierend den Rhythmus angibt. Gefolgt vom „Tirador de Loas“ – dem Vorsänger, dessen provokative Solos der Chor der Beteiligten, wie in einem „Spiritual“, wunderbar melodiös und unter die Haut gehend, kontert. Zuletzt folgt die Rhythmusgruppe mit den lokalen Perkussions-Instrumenten.
Die „Maracatu-Gruppe“ formiert sich gewöhnlich im Hof der Kirche „Nossa Senhora do Rosário dos Pretos“, jener von Sklaven für die Sklaven erbauten Kirche, in der „Rua Estreita do Rosário“, im Distrikt „Santo Antônio“, bevor sie sich in Richtung des Stadtzentrums bewegt. Und sie macht vor jeder Kirche halt, an der sie vorbeikommt, um dem oder der Heiligen mit einer besonderen Tanzeinlage ihre Referenz zu erweisen.
BLOCOS CARNAVALESCOS
Während die „Frevo-Blocks“ die Leute auf der Strasse mit ihren Rhythmus-Gruppen regelrecht anheizen, vermitteln die „Karnevalistischen Blocks“ eher eine lyrische, poetische Stimmung. Ihre Untermalung ist der „Frevo-de-bloco“, ausgeführt von den so genannten „Bandas de pau e corda“ – Gitarren, Geigen, Ukuleles, Banjos, Lauten, Flöten, Klarinetten und einer sanften Perkussion. Ein grosser Choral singt die Texte, die sich begrüssend und mit allerlei guten Wünschen ans Publikum wenden.
Gegründet wurden die „Blocos“ innerhalb verschiedener Familien und ihrer Freunde – zusammen mit Nachbarn derselben Strasse. Der erste von ihnen war der „Bloco Flores Brancas“, der Block der Weissen Blumen von 1921, der heute immer noch existiert und sich in „Bloco das Flores“ umbenannt hat – der Block der Blumen.
Und die „Blocos“ öffneten sich im Lauf der Zeit auch für die Beteiligung der weiblichen Bevölkerung am Karneval. Zu den „Frevo-Clubs“ hatten sie keinen Zugang, denn die waren von Berufsgruppen gegründet worden, zu einer Zeit, in der Frauen noch kaum ausser Haus arbeiteten. Und mit der langsameren Musik der „Blocos“ öffneten sich sogar die Tore des Karnevals für ihre Kinder. Unter den bekanntesten „Blocos“ sind: „Banhistas do Pina“, „Flor da Lira“, „Apôis Fun“, „Batutas de São José“, „Flor da Magnôlia“, „Madeiras do Rosarinho“.
AFOXÉ
Ist eine Präsentation afrikanischer Religiosität, ein Kult zu Ehren der afrikanischen Naturgottheiten, den „Orixás“. Es gibt zwei unterschiedliche Interpretationen für die Herkunft des Wortes „afoxé“. Die erste behauptet, es stamme aus dem „Yoruba-Dialekt“ (den viele der in Bahia angelandeten Sklaven sprachen) und bedeute „die Sprache macht’s“. Und die zweite behauptet, es komme aus dem sudanesischen Sprachgebrauch „afohsheh“ und bezeichne eine Art von „Maracatu“.
Die „Afoxés“ tauchten im Karneval von Recife in den 70er Jahren wieder auf, als eine Initiative der Bewegung „Movimento Negro Unificado“ und jetzt sind sie alljährlich dabei mit ihren Melodien, genannt: „Orós da linha Ijexá“. Der Vorsänger, oder „Puxador“, schmettert einen Vers, der vom Chor der gesamten Gruppe wiederholt wird. Ein Wechselgesang, der von Perkussions-Instrumenten, wie dem „Agbê“ (gekerbte Kalebasse, die mit einem Netz von Samenkernen bespannt ist), dem „Atabaque“ (kleinere Trommel) und dem „Agogô“ (zwei unterschiedlich klingende Metallglocken, die mit einem Metallstab rhythmisch angeschlagen werden) begleitet wird.
SAMBA
Nicht nur in Rio de Janeiro hat der „Samba“ seine Heimat, auch in Pernambuco ist er einer der wichtigen Rhythmen geblieben. Allerdings hat man ihn hier mit ein paar zusätzlichen Charakteristika aufgemischt. Zum Beispiel mit Elementen aus dem „Maracatu“, dem „Frevo“ und dem „Capoeira“ und die „Escolas de Samba“ (Samba-Schulen) haben ebenfalls in Recife schon eine lange Tradition – die ersten seit 1930. Heute sind die wichtigsten „Escolas de Samba“ in Recife: „Limonil“, „Gigantes do Samba“, „Estudantes de São José“ und die „Galeria do Ritmo“.
CABOCLINHOS
Die Männer und Frauen in diesem „Bloco“, geschmückt mit traditionellen bunten Federkronen und Baströcken, Ketten aus Fruchtkernen und Tierzähnen, widmen ihre Präsentation den Ureinwohnern Brasiliens, den Indianern. Sie haben ein interessantes Perkussions-Instrument entwickelt, die „Preaca“ – von weitem einfach ein Bogen mit einem aufgelegten Pfeil – aber wenn man den mit der Sehne festverbundenen Pfeil spannt und loslässt ertönt ein lautes metallisches Geräusch – etwa so, wie wenn man zwei Metallstücke zusammenschlägt. Stellen Sie sich nun Hunderte von „Indianern“ vor, die im Rhythmus der sie begleitenden „Block-Band“ ihre „Preacas“ mitklingen lassen – richtig, ein ganz neues exotisches Audio-Spektakel.
Die „Caboclinhos“–Gruppe besteht aus dem Häuptling und seiner Frau, dem portugiesischen Kapitän und seinem Leutnant, einem Fährtenleser, der Stammesmutter, den „Perós“ (Indianerkindern), dem Standartenträger, den „Caboclos“ (Bauern–Mischlinge aus Indianern und Weissen), den indianischen Jägern und dem Medizinmann.
Die „Band“ setzt sich aus der „Inúbia“ (Panflöte aus Rohr), den „Caracaxás“ (Rasseln), dem „Tarol“ (kleine Trommel), der „Surdo“ (grosse Trommel) und den Hunderten von „Preacas“ zusammen.
Die ältesten „Caboclinhos“ von Pernambuco sind:
„Canindés“ (1897), „Carijós“ (1897), „Taperaguases“ (1916), „Caboclos Tupi“ (1933), „Tabajaras“ (1956) und „Tapirapés“ (1957).
Und wenn Sie noch mehr über den Karneval von Pernambuco erfahren wollen, dann besuchen Sie das „Casa do Carnaval“ – eine Art Karnevals-Museum im Stadtteil „São José“, im „Pátio de São Pedro – Casa 52“.
Hier werden Sie eine schöne Sammlung von Masken, Standarten, Kostüme antiker Vereine und viele andere Exponate sehen können. Die ganze Geschichte des Karnevals von Pernambuco.