Seit die Katholische Kirche und ihre Missionare in allen Teilen des heutigen Südamerika eingewandert sind, ist entsprechende religiöse Musik überall in diesen Regionen komponiert worden, besonders unter der Schirmherrschaft der Jesuiten. Aus diesen Kompositionen entwickelte sich die Barock-Musik und andere Klassiker. Brasilien war da keine Ausnahme, und die Oper von Carlos Gomes, „O Guarani“, erreichte eine enorme Popularität, nach ihrer ersten Aufführung im Jahr 1870.
Brasilianische Klassiker
Während des 20. Jahrhunderts waren brasilianische Komponisten, zusammen mit denen aus Mexiko und Argentinien, vorderste Front lateinamerikanischer klassischer Musik und haben viele beachtete Werke geschaffen, die auf populären völkischen Themen basieren. Die Figur des Heitor Villa-Lobos (1857 bis 1959) steht über allen anderen, er hat Anerkennung schon zu seinen Lebzeiten in der ganzen Welt gefunden. Er war weitgehend Autodidakt, sein bemerkenswertes Werk enthält, unter anderen, die gefeierten neun „Bachianas Brasileiras“ und die sechs „Choros“.
Andere bekanntere Namen unter den so genannten „nationalistischen“ Komponisten sind die von „Francisco Mignone“, „Camargo Garnieri“, „Radames Gnatalli“ und der von „César Guerra Peixe“ – letzterer fand Inspiration in der regionalen Musik des Nordostens.
Urbane Volksmusik
Die grosse Vielfalt regionaler Volksmusik wird höchstens von der chronologischen Tiefe urbaner Schöpfungen erreicht, von denen eine der anderen folgt, wie die endlose Bewegung der Wellen an einem Strand. Um zu ihren Wurzeln zu gelangen, müssen wir zurückgehen bis zu den Missionen der Jesuiten und der Volksmusik des kolonialen Portugal, beeinflusst und abgerundet von den afrikanischen Sklaven, von denen im 19. Jahrhundert die „Lundús“ , „Polcas“ und „Maxixes“ auch in der besseren Gesellschaft Fuss fassten, die ihrerseits die romantischen und sentimentalen „Choros“ (von „chorar“ – weinen), begleitet von Gitarre, Flöte und Cavaquinho (kleine Gitarre mit nur 4 Saiten), zur Entwicklung beitrugen – letztere haben noch heute ihre besonderen Liebhaber.
Eine Schlüsselfigur in der urbanen Musikszene war Ernesto Nazaré, Komponist und Pianist, der eine ganz besondere Nische zwischen Volksmusik und leichter Klassik einnahm – er komponierte zwischen 1880 und 1930 eine grosse Anzahl brasilianischer Tangos, die man nicht mit der argentinischen Variante verwechseln sollte, darüber hinaus schuf er Mazurkas, Polkas, Walzer und eine Menge Volkslieder.
Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts
Um die Jahrhundertwende stimmte sich die Instrumentierung mehr auf Blasinstrumente ein – da wurde Rios urbaner Samba geboren, eine Geburt, die durch die Aufnahme von „Pelo Telefone“ (Donga) von 1917 angekündigt wurde. Namen aus dieser Entstehungsgeschichte des Samba sind Pixinguinha, Sinhô, Heitor dos Prazeres, Ary Barroso, Noel Rosa und natürlich Carmen Miranda, die den Samba nach Hollywood exportierte, von wo aus er den Rest der Welt eroberte. Diese Musik verband sich inniglich mit den ersten Karnevalsparaden, in Form von „Marcha Ranchos“ und „Sambas de Enredo“, die von den ersten Samba-Schulen „Portela“, „Mangueira“, „Salgueiro“, „Beija-Flor“, „Mocidade“, „Viradouro“ intoniert und perkussiv zelebriert wurden.
Die gesamte Perkussions-Maschinerie des Samba ist eine schier endlose Sammlung von professionellen und improvisierten Klopf-, Schlag-, Rassel- und Ratsch-Instrumenten, unter denen die folgenden Beispiele nur eine kleine Auswahl sind: „Surdo“ (grosse Trommel), „Atabaque“ (kleinere Trommel), „Pandeiro“ (Tamburin), „Agogô“ (Kuhglocken), „Reco-Reco“ (Metall-Ratsche), „Chocalho“ (Kalebassen-Rassel), „Afoxês“ (gekerbte Kalebasse mit Perlennetz), „Cuica“ (kleine, unten offene Trommel, in der ein feuchter Lappen hin und herbewegt wird – es entstehen fast menschliche Jammerlaute). Hören Sie sich mal Lúcio Perrone an oder eine der „Escolas de Samba“ (Samba-Schulen) aus Rio de Janeiro.
Die 50 und 60er Jahre: Geburt der „Bossa Nova“
Mythos Bossa Nova: 50 Jahre Leichtigkeit im Zeichen der Melancholie |
Die Bossa Nova wird 50. Kein anderer Musikstil hat diese Leichtigkeit und diese vollendende Tragik. Die Kombination von schwerelosen Melodien und melancholischen Texten hat ein Gesamtkunstwerk erschaffen, in dem soviel zusammenfliesst, dass daraus ein einmaliges Klangerlebnis wurde, welches noch heute so zeitlos klingt, als wären die Stücke erst vor wenigen Wochen geschrieben worden. Die Sendung erzählt von der Entstehung der Bossa Nova, beleuchtet das wohl berühmteste Werk “Garota de Ipanema” von Tom Jobim und Vinicius de Moraes und zeigt die Veränderungen im Laufe der Jahrzehnte bis hin zum Brasilectro, die elektronisierte Form der Bossa Nova in der heutigen Zeit. |
Eine neue Ära brach an, mit einer musikalischen Invasion aus Bahia und dem Nordosten, in den frühen 50er Jahren. Von Bahia kam Dorival Caymmi, der mit seinen Fischer-Liedern den Samba eine Weile verdrängte, und aus dem Nordosten brachte Luiz Gonzaga es fertig, mit seinen unwiderstehlichen „Baiãos“ – begleitet von seinem Akkordeon, dem „Zabumba“ (grosse Trommel) und dem „Triangulo“ (Triangel) – den Samba fast in die Vergessenheit zu treiben – sein „Asa Branca“ wurde ein Klassiker!
Fast aus der Asche des Samba erhob sich die „Bossa Nova“ – weiss, mittelklassisch und seidenweich. Vinícius de Moraes und Tom Jobim waren seine Helden – 1958 bis 1964 waren seine besten Jahre – Copacabana, Ipanema und Leblon der beliebteste Hintergrund: „Garota de Ipanema“, „Desafinado“ und „Samba de uma nota só“ waren die beliebtesten Songs und Nara Leão, Baden Powell, Toquinho, João Gilberto, Luís Bonfã und einige andere, waren seine besten Interpreten. Der amerikanische Jazz-Saxophonist Stan Getz, begeisterter Anhänger des „Bossa Nova“, half mit, diesen neuen Sound aus Brasilien in der ganzen Welt zu verbreiten.
Die 70er Jahre: Música Popular Brasileira (MPB)
Was als nächstes kam war die MPB, „Música Popular Brasileira“, die sich aus den verschiedenen Strömungen zusammensetzte und in verschiedene Richtungen entwickelte.
Chico Buarque de Holanda, Edu Lobo und Milton Nascimento waren Protest-Sänger. Aus Bahia tauchte der sogenannte „Tropicalismo“ auf, präsentiert von Gilberto Gil, Caetano Veloso und seiner Schwester Maria Betânia – Gal Costa, João Gilberto und der „Som Livre“. Der Text wurde immer wichtiger – aber der Rhythmus ging deshalb nicht verloren.
Auch einen „Brazilian-Rock“ hat man kreiert – mit Stars wie Roberto Carlos, Elis Regina, Rita Lee und Ney Matogrosso. Sogar „Heavy Metal“ wurde als Stilrichtung kopiert und ist noch in der Entwicklung – mit der Band „Sepultura“. Eine andere Band, die sozusagen einen Kultstatus erreicht hat, ist die „Legião Urbana“ aus der Hauptstadt Brasilia. Ihr Lead-Sänger, Renato Russo, starb 1996 an Aids.
Die 80er Jahre: Rückbesinnung
Kurios ist, dass 40% aller in Brasilien verkauften CDs die sogenannte „Música Sertaneja“ zum Inhalt haben, die Kostverächter auch abfällig als „Música Caipira“ bezeichnen – Bauernmusik.
Sie steht der amerikanischen Country and Western Musik näher als irgendeiner anderen brasilianischen Musikrichtung. Hören Sie sich dazu die „Duplas“ (Doppel – weil sie meist zu zweit singen) „Rio Negro & Solimões“, „Chitãozinho & Chororó“, „Leandro & Leonardo“ oder „Tonico & Tinoco“ an, dann verstehen Sie, was wir meinen.
Die 90er Jahre: Salvador – die neue Musikmetropole Brasiliens
Die Bahianer haben, angespornt durch die internationale Welle schwarzen Bewusstseins, Reggae und Samba gemixt – das Ergebnis heisst „Axé“. Natürlich hat der Samba selbst das alles überlebt. Hat sich etwas kleiner gemacht, die Wellen neuer Stilrichtungen über sich hinwegrollen lassen, bis sie am Strand verebbten – jetzt ist er sogar in einer beliebten kommerzialisierten Form wieder da: dem „Pagode“. Und in der „Roda de Samba“, jenem informellen Meeting von Musikern in einer kleinen Bar am Wochenende, feiert er sein deutliches Comeback.
In der Zwischenzeit haben sich eine Reihe von brasilianischen Instrumentalisten einen internationalen Namen gemacht und leben dauernd oder zeitweise im europäischen oder amerikanischen Ausland: der Komponist Sérgio Mendes, der Gitarrist Sebastião Tapajós, der Flötist Hermeto Paschoal, der Saxophonist Paulo Moura, der Akkordeon-Spieler Sivuca, der Schlagzeuger Airton Moreira – die Sängerinnen Astrud Gilberto und Flora Purim – und der Allround-Künstler Egberto Gismonti, sind ein paar Beispiele.
Brasilianer lieben eine „Festinha“ (Party) irgendwo, bei irgendwem. Das Gemisch so vieler ethnischer Gruppen in diesem Land führt zu einigen besonders farbenfrohen und auch sehr unterschiedlichen Arten von Partys. Sämtliche Probleme des Alltags können durch eine „Festinha“ erst einmal „ad acta“ gelegt werden – dagegen wird die Phantasie befreit. Ausser einem Geschenk – im Fall eines Geburtstags – oder einem persönlichen Beitrag, in Form einer Flasche Wein oder einer Kiste Bier, nimmt man auch seine eigenen Cd’s unter den Arm, um sie im Freundeskreis abzuspielen – das ist etwas ganz anderes als allein zuhause! Und, zu etwas vorgeschrittener Stunde entsteht sie wieder, die allgemeine Kommunikation durch die Musik – wenn nämlich plötzlich jemand anfängt, einen der romantischen Texte mitzuträllern, die aus den Lautsprechern schallen – und dann singen alle mit.
Wenn’s mit der alten Weisheit „wo man singt, da lass Dich ruhig nieder“ wirklich etwas auf sich hat, dann wird es einem in Brasilien ganz besonders gut gehen, denn Musik und Gesang ist das halbe Leben dieser Leute, und wer mitsingt und mittanzt ist ein Freund!