Bevor man sich mit der Religion in Brasilien befasst, muss man sich darüber im Klaren sein, dass sie von ganz unterschiedlichen kulturellen Strömungen beeinflusst wurde: nämlich von den vielen Indianervölkern, den Portugiesen und den ebenfalls verschiedenartigen afrikanischen Volksstämmen, die man als Sklaven nach Brasilien verschleppte. Jeder Volksstamm hat seine religiösen Traditionen mitgebracht und die haben sich gegenseitig beeinflusst und in vielen Fällen mit einander gemischt.
Die Indianer
Vor der Invasion der Portugiesen war das brasilianische Territorium schon seit Jahrhunderten von vielen Indianervölkern bewohnt. Diese hatten ihre eigenen Gottheiten, entsprechende Kulte und eine sehr reiche, poetische Mythologie. Die bedeutendste ihrer Gottheiten war „Tupan“ – ein Geistwesen der Stürme, des Feuers, des Blitzes und des Donners. Er war es, der ihren Vorfahren die Geheimnisse der Feldbestellung und der Jagd anvertraut hatte. Die drei anderen wichtigen Gottheiten waren Jaci, der Mond – Guaraci, die Sonne, und Rudá, die Liebe. Darüber hinaus kannten sie weniger bedeutende Gottheiten, wie Guirapuru, den Schöpfer der Vogelwelt – Caapora, den Beschützer der übrigen Tierwelt, und Anhangá, den Schutzgott der Jagd und der Jäger. Auch Teufel oder Dämonen gab es in der indianischen Vorstellungswelt – der Gefürchtetste unter ihnen war Jurupari, ein böser Geist, der den Menschen die Albträume brachte. Die erste Beschreibung von Tupan und Jurupari, als bedeutendste Gottheiten im Vergleich mit dem christlichen Gott sowie dem Teufel, lieferten die katholischen Missionare der Kolonialepoche. Aber als Europäer verstanden sie es nicht, mit der ihnen unverständlichen Naturreligion der Indianer umzugehen, also verstümmelten sie die vielgestaltigen Attribute dieser Geister in Konzepten, die sie selbst verstehen konnten und benutzten sie dazu, Gegenlehren aufzustellen.
Die indianischen Priester oder Schamanen wurden als „Pagés“ bezeichnet – sie kannten allein die Geheimnisse der Pflanzen und ihrer magischen Extrakte. Sie allein verstanden es, kranke Mitglieder ihrer Kommune mittels Ritualen zu heilen, indem sie die Geister des Waldes anriefen, oder die Geistwesen ihrer Ahnen und auch die von gewissen Tieren. Als dann aber jene Krankheiten der weissen Invasoren ihre Völker befielen, waren auch die Pagés in den meisten Fällen hilflos.
Die Grundlagen des indianischen Glaubenssystems basierten auf den verschiedenen Aspekten der Natur und auf Situationen, mit denen sie in ihrem täglichen Leben konfrontiert wurden. Heutzutage sind die traditionellen Kulthandlungen der brasilianischen Indianer praktisch verschwunden – nicht nur wegen des allgemeinen Rückgangs ihrer Bevölkerung, sondern auch wegen der kontinuierlichen Missionstätigkeit sowohl der Katholiken wie der Protestanten, die seit ihrem Betreten des brasilianischen Bodens eine „Bekehrung der wilden Heiden“ anstrebten und mit ihrer Intoleranz der Ausrottung dieser Völker erst die Tür öffneten, um ihrem Holocaust ein christliches Mäntelchen umzuhängen.
Kolonisatoren und katholische Kirche
Das Schwert in der einen Hand und das Kreuz in der anderen – als einer der offiziellen und wichtigsten Gründe der Kolonisation der „Neuen Welt“ wurde immer wieder die Bekehrung der heidnischen Eingeborenen zum Christentum genannt. Die Mehrheit aller grossen katholischen Orden, wie Benediktiner, Karmeliter, Franziskaner und Jesuiten schifften sich nach Brasilien genau aus diesem Grunde ein, und „die Bekehrung der armen Heiden“ war ihr erklärtes Ziel. Am Anfang der Kolonialzeit – besonders zwischen 16. und 17. Jahrhundert – waren jene religiösen Orden praktisch die einzigen Institutionen, welche dem Volk eine Erziehung, und sogar künstlerische und akademischen Studien vermitteln konnten. Besonders die Jesuiten haben sich auf erzieherischem Gebiet hervor getan – sie pflegten die Indianer zu bekehren und anschliessend in von ihnen gegründeten Missionen (Reducciones) zusammen zu fassen und von der zivilisierten Aussenwelt zu isolieren.
Während der Kolonialzeit wurden neben der katholischen keinerlei anderen Religionen im Land geduldet. Viele jüdischen und islamischen Immigranten erkannten die Zeichen der Zeit und liessen sich zum katholischen Glauben bekehren. Dies war auch im Mutterland Portugal gängige Praxis, und viele dieser „Neu-Christen“ legten sich Familiennamen zu, die von Bäumen oder anderen Naturelementen abgeleitet waren, wie zum Beispiel „Pereira“ (Birnbaum), „Carvalho“ (Eichbaum) oder „Oliveira“ (Olivenbaum).
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als Napoleon Portugal besetzte und die portugiesische Kaiserfamilie sich gezwungen sah, nach Brasilien zu flüchten, entwickelte sich aus der kommerziellen und diplomatischen Verbindung des portugiesischen Kaisers Dom João VI mit dem Britischen Königreich eine grössere Toleranz gegenüber den Protestanten. Und nach 1808 wanderten viele englische Familien und Handelsleute nach Rio de Janeiro aus. Trotzdem wurde ihnen erst im Jahr 1811 erlaubt, einen protestantischen Friedhof einzurichten und erst 1819 durften sie ihre erste Kirche bauen – mit des portugiesischen Kaisers Auflage: „Sie darf aber nach aussen hin nicht wie ein religiöser Tempel aussehen“!
Während des brasilianischen Imperiums bis zur Einführung der Republik im Jahr 1889 war der Katholizismus die offizielle Staatsreligion. Danach, und so steht es geschrieben in allen republikanischen Konstitutionen, „herrscht völlige Religionsfreiheit, und niemand darf wegen seiner Religion verfolgt werden, so will es das Gesetz“. Trotzdem war der Einfluss der Katholischen Kirche auch weiterhin bedeutend – sowohl wirtschaftlich als auch politisch. In unserer Gegenwart bezeichnet sich immer noch die Mehrheit aller Brasilianer als römisch-katholisch – jedoch hat der Wechsel zum Protestantismus in den letzten 10 bis 15 Jahren stark zugenommen – besonders in den Wohngebieten der armen Bevölkerung. Neben den traditionellen protestantischen Kirchen sind die Baptisten, die Presbiterianer und die Lutheraner die bedeutendsten – letztere besonders im Süden, der vorwiegend von Deutschen kolonisiert worden ist. Allerdings gibt es darüber hinaus noch unzählige nonkonformistische evangelische Sekten – allen voran die „Igreja Universal do Reino de Deus“ (Universalkirche des Reiches Gottes), die von ihrem selbsternannten Bischof Edir Mecedo geleitet wird. Solche neuen christlichen Sekten, im Allgemeinen als „evangêlicas“ bezeichnet, sind in der allgemeinen Misere – sowohl finanzieller als auch erzieherischer Art – sehr erfolgreich in der Rekrutierung ihrer Schäfchen. Sie bedienen sich moderner Marketing-Techniken und er elektronischen Media – haben teilweise sogar ihre eigenen TV-Kanäle, Radiosender und Zeitungen. Ihre Prediger bedienen sich einer extrem dramatischen Sprechweise – unzähliger Beispiele von Wundern, Heilungen und Lösungen für alle möglichen materiellen und spirituellen Probleme. In einigen Fällen wurde auch von Sektenskandalen in der Presse berichtet und ihre finanziellen Operationen Zielscheibe von viel diskutierten polizeilichen Investigationen.
Afro-Brasilianische Religionen
Als die portugiesischen Kolonisatoren anfingen an der nordostbrasilianischen Küste Zuckerrohr anzupflanzen, wurde ihnen ziemlich schnell klar, dass sie ausdauernde Arbeitskräfte für dessen Pflege, Ernte und Verarbeitung brauchen würden – sie selbst hielten nämlich mehr vom gewinnbringenden Handel als von der arbeitsaufwendigen Produktion eines Produkts. Zuerst dachten sie daran, die lokalen Indianer zu versklaven und zur Schwerarbeit zu zwingen, aber diejenigen, welche nicht sofort an den eingeschleppten europäischen Krankheiten starben, betrachteten diese Art der Arbeit als unter ihrer Würde, sie machten schon nach kürzester Zeit schlapp, suchten ihr Heil in der Flucht oder starben dahin wie ein wilde Vögel im Käfig. Also verfiel man auf schwarze Sklaven, und Portugal schleppte sie in riesigen Schiffsladungen wie Schlachtvieh aus seinen afrikanischen Kolonien heran. Sie stammten aus verschiedenen afrikanischen Völkern, wie den Bantu, den Sudanesen, den Angolanern und den Hottentotten. Nach einer Überfahrt unter unmenschlichen Bedingungen – wochenlang in einem dunklen Laderaum aneinander gekettet – erlebten sie den nächsten Schock im brasilianischen Bestimmungshafen: Hier wurden sie noch einmal von eventuellen Familien- oder Clansmitgliedern getrennt, um in Gruppen zusammengefasst und auch verkauft zu werden, in denen möglichst einer den andern nicht kannte – ja nicht einmal einen gemeinsamen kulturellen Hintergrund mit seinen Leidensgenossen hatte. Indem sie auf diese Weise alle sentimentalen und kulturellen Bindungen zerstörten, beabsichtigten die Portugiesen eventuellen ethnischen Stolz und daraus resultierende Rebellionen zu unterbinden.
Natürlich brachten diese Menschen ihre eigenen religiösen Vorstellungen mit sich, aber das Resultat war, dass keiner ihrer Kulte sich in Brasilien in seiner afrikanischen Originalität erhalten konnte. Wenn wir einmal die afrikanische Region betrachten, die heute als „Nigeria“ bekannt ist, so existierten dort zu dieser Zeit ganz unterschiedliche Stammesverbände, jeder mit seiner eigenen Gottheit, der „Orixá“ (ausgesprochen „Orischá). Diese Orixás waren in der Regel entweder Geistwesen eines verehrten Vorfahren oder eines legendären Helden, und man verehrte sie jeweils nur in einer bestimmten Region. Als dann die schwarzen Sklaven in Gruppen von Menschen ganz unterschiedlicher afrikanischer Rassen und Regionen auf die verschiedenen brasilianischen Landsitze verteilt wurden, brachte jeder seinen speziellen Heiligen mit in die neue Gemeinschaft ein – und die Gruppe begann, ihnen allen zu huldigen. Dies war die Geburt des „Candomblé“ und der „Umbanda“ – afro-brasilianische Religionen, die sich zwar aus ihren afrikanischen Wurzeln entwickelt aber eine eigenständige afro-brasilianische Originalität angenommen haben.
Religiöser Synkretismus
Natürlich haben die Portugiesen ihren Sklaven nicht erlaubt, sich ihren eigenen religiösen Vorstellungen hinzugeben. Also begannen die Afrikaner, ihre eigenen Götter mit den katholischen Heiligen zu verquicken – oder besser: sie versteckten ihre Gottheiten hinter den Heiligen der Katholischen Kirche mit jeweils ähnlichen Charakteristika. Zum Beispiel: wenn die Gutsherren ihre Sklaven zum Heiligen Georg beten sahen, dem wehrhaften Ritter, beteten sie in Wahrheit zu ihrem „Ogum“, dem Orixá des Krieges und der Schlachten. Diese Art Assoziation nennt man einen „religiösen Synkretismus“ – sie ist besonders typisch für die afro-brasilianischen Religionen.
Der Kult der „ORIXÁS
Die Figur Gottes, des Schöpfers, wird im Candomblé durch „Olorum“ dargestellt. Aber diese Figur wird eigentlich nur ganz selten genannt oder bemüht. Nach verschiedenen Auskünften geschieht dies deshalb, „weil Olorum zu beschäftigt ist, um sich mit den kleinen Problemen der Menschen befassen zu können“. Diese Probleme werden vielmehr von den Orixás gelöst – eine Art „Hilfsgeister“ – die auch die Verantwortung für alle möglichen Geschehnisse in unserem Leben tragen. Nach dem Candomblé kümmern sich um jede Person, seit ihrer Geburt, ein oder zwei dieser Geistwesen als Förderer und als Beschützer. Die Persönlichkeit und das Temperament eines jeden Menschen wird direkt von seinem oder ihrem Orixá beeinflusst. Zum Beispiel wird der Sohn oder die Tochter von „Ogum“ (dem Kriegsgott) sicher eine impulsive und kämpferische Persönlichkeit offenbaren – während Söhne und Töchter von Oxum (Gottheit der Wasserfälle und der Liebe) zu Charme und Koketterie tendieren.
Um zu erfahren, wer Ihr beschützender Orixá ist, begeben Sie sich zu einem „Pae de Santo“ (Priester) oder einer „Mae de Santo (Priesterin) und bitten ihn (sie) das „Jogo de Búzios“ für Sie zu werfen. Hierbei handelt es sich um ein Orakel aus 16 Seemuscheln, mit dem der entsprechende Priester auch die Zukunft voraussagen oder Fragen beantworten kann, die materielle oder spirituelle Dinge betreffen. Es ist ausserdem üblich, den Orixás Opfer zu bringen, welche aus besonderen Speisen, alkoholischen Getränken, Zigarren, Blumen, Popkorn, Kerzen, Spielzeug und sogar rituell geopferten Tieren bestehen (Tauben, Ziegen oder Hähne) – jeder Orixá hat da seine besonderen Präferenzen. Auch die Orte, an denen diese Opfer zu entrichten, zu hinterlegen oder zu vollziehen sind, sind je nach Orixá ganz unterschiedlich. Zum Beispiel werden Opfer für „Oxossi“, dem Gott der Jagd, stets in einem Waldstück hinterlegt. Diese Opfer sind stets mit einem Wunsch des Opferbringenden verbunden – entweder, um ihn erfüllt zu bekommen, oder zum Dank, weil er schon erfüllt wurde.
Die religiösen Zeremonien finden in oder auf so genannten „Terreiros“ statt – mit viel Gesang und dem Dröhnen grosser Trommeln. Die Priester und Priesterinnen – in der Regel mit aussergewöhnlichen medialen Fähigkeiten – fallen in Trance, und ihr jeweiliger Schutzgeist ergreift von ihnen Besitz. In diesem Zustand kann er mit den Bittstellern kommunizieren, er beantwortet Fragen, erteilt Ratschläge und öffnet den Blick in die Zukunft – verblüffender Weise manchmal mit einer ganz anderen Stimme als der des Mediums!
Es ist schwer die genaue Zahl der Brasilianer anzugeben, die sich inzwischen dem Candomblè oder der Umbanda angeschlossen haben. Einer der Gründe dafür ist die Tatsache, dass viele ihrer Anhänger – vor allem solche, die der weissen Rasse angehören, ausserdem ihr katholisches Glaubensbekenntnis weiterhin aufrechterhalten. Viele Jahre lang waren die afrikanischen Religionen offiziell verboten und erst seit relativ kurzer Zeit beginnen sich die Menschen zu öffnen und ihre Glaubensrichtung auch in der Öffentlichkeit zu demonstrieren. Der grösste Einfluss des Candomblé und der Umbanda findet sich in den Städten Salvador da Bahia und Rio de Janeiro. Verschiedene Schriftsteller – akademische und andere – haben über dieses Thema geschrieben, bemerkenswert der Romancier Jorge Amado, der selbst Mitglied eines Candomblé-Terreiro gewesen ist.
Andere Religionen in Brasilien
Der Spiritismus ist eine philosophische und religiöse Doktrin, die von dem französischen Wissenschaftler Allan Kardec (1804-1869) gegründet wurde, dargelegt in seinem bekannten „Buch der Geister“. Die Spiritisten glauben an die Reinkarnation und die Möglichkeit eines Kontakts zwischen Mensch und Geistwesen. Für sie ist das Leben eine notwendige Erfahrung und Prüfung des spirituellen Fortschritts – der Tod ist nur der Anfang einer nächsten geistigen Evolution. Brasilien, so sagt man, ist das Land mit der grössten Zahl an Spiritisten in der Welt, und viele der brasilianischen spiritistischen Medien sind weltweit berühmt. Ein gutes Beispiel ist João Teixeira de Farias aus dem kleinen Flecken Abadiania im Bundesstaat Goiás, den sie alle nur „João de Deus“ (Johannes von Gott) nennen – heute kennt man ihn auf der ganzen Welt als „eines der bedeutendsten Medien und fähigsten Heiler der letzten 2.000 Jahre“. Man schätzt, dass João mehr als 15 Millionen Menschen im Lauf seiner 38 Jahre als „Wunderheiler“ von ihren Leiden befreit hat, unter ihnen bedeutende international bekannte Persönlichkeiten.
Obwohl sie noch keine bedeutende Anzahl von Mitgliedern hat, verdient eine Sekte, die sich „Santo Daime“ nennt, hier erwähnt zu werden. Ihre Wurzeln liegen in der Amazonasregion und sie stützt sich auf Visionen, welche durch ein Halluzinationen hervorrufendes Getränk mit Namen „Ayahuasca“ ausgelöst werden. Es wird aus den Wurzeln zweier Pflanzen hergestellt, die den Indianern Brasiliens seit Jahrhunderten bekannt sind.