Ureinwohner in Brasilien – denen die Entdecker der Neuen Welt irrtümlich den Namen “Índios“ gaben.
Zum ersten Mal bin ich ihnen am Rio Araguaia begegnet, einem der landschaftlich schönsten Flüsse des brasilianischen Mittelwestens. 2.600 Kilometer lang, markiert er über Hunderte von Kilometern die Grenze zwischen den Bundesstaaten Goiás und Mato Grosso, Pará und Maranhão, ehe er in der Nähe der Stadt Marabá und den Goldminen der Serra Pelada in den gewaltigen Rio Tocantins mündet, der sich seinerseits, viel weiter nördlich, mit dem Amazonasstrom vereinigt. Das blaugrün schimmernde Wasser des Araguaia gibt während der Trockenperiode eine grosse Zahl schneeweisser Sandstrände frei, die in der Umgegend eines Dorfes von den Bewohnern gern als willkommene Badeplätze aufgesucht werden – während seiner zahllosen Windungen durch die immergrünen Galeriewälder dienen sie Vögeln, Alligatoren, Wasserschweinen und vielen anderen Tieren zu demselben Zweck.
Es waren ein paar Indianerfamilien in windschiefen Hütten am Ufer des Araguaia – die beiden auf den Wangen eintätowierten, blauschwarzen Kreise, vom Durchmesser einer Münze, wiesen sie als zum Stamm der Karajá gehörig aus, wie mir mein Freund Roberto erklärte. Sie liefen in schmuddeligen Textilien herum, wie es von einem Baptistenprediger, der sich unter ihnen niedergelassen hatte, angeordnet worden war, so hörte ich. Wenn ich mich heute an jene ersten Eindrücke erinnere, so waren es eben diese abgetragenen Kleidungsstücke, die den ehemals stolzen Naturmenschen sämtliche Würde nahmen. Später habe ich dieses Dilemma immer wieder dort beobachtet, wo Missionare in indianische Dorfgemeinschaften eingedrungen waren: sie predigten, dass Nacktheit Sünde sei und verteilten unter ihnen die abgetragenen Stücke überseeischer Kleiderspenden, um sie von ihrem sündigen Dasein zu erlösen, vergassen aber, ihnen auch die Waschanleitung mitzuliefern.
Die „Indianer“, denen die bunten, anschmiegsamen Stoffe zusagten, trugen sie, bis sie entweder vor Schweiss und Schmutz steif wurden oder ihnen in Fetzen vom Körper hingen. Ganze Epidemien schwerster Krankheiten, die viele Stämme an den Rand der Ausrottung brachten, waren die Folge dieses ignoranten Kleiderzwangs. Und, dass ich mich selbst unzählige Male mit Missionen und ihren Indianerbeauftragten angelegt habe, verdanken diese eifernden Ignoranten meinen zahlreichen späteren Beobachtungen vor Ort, die eigentlich nichts weiter waren als die Fortsetzung einer missionarischen Tradition, deren Anfang 500 Jahre zurück lag, als die ersten Kirchenmänner im Schutz der portugiesischen Eroberer das Indianerland betraten.
Niemand weiss, wem der grössere Anteil an der Vernichtung von schätzungsweise acht bis zehn Millionen Eingeborenen anzulasten ist: der mordenden und die Indianer versklavenden portugiesischen Soldateska oder den eifernden Missionaren konkurrierender Kirchenorden, deren Ignoranz den Indianern ein langsames und qualvolles Massensterben bescherte, indem sie ihre traditionelle spirituelle Welt verdammten und ihre Kultur mit Füssen traten, ohne sie überhaupt kennen gelernt zu haben, um ihnen ihren „einzig wahren Gott“ aufzuschwatzen – und ihnen, darüber hinaus, auch noch Verhaltenszwänge aufzuerlegen, die ihnen lediglich einen frühen Tod bescherten.
Was Wunder, dass die Xavante vom oberen Rio das Mortes noch im Jahr 1948 zwei Salesianer-Missionare mit Keulen erschlugen, als die sich einem ihrer Dörfer näherten. Solch „ungeheure Gräueltat“ ging durch die Weltpresse – die Xavante, heute mit rund 9.000 Mitgliedern eine der stärksten Stammesgemeinschaften Brasiliens, verwehren Missionaren aber immer noch das Betreten ihres Territoriums.
Und damit sind wir bereits mitten drin im eigentlichen Konflikt, dem sich alle eingeborenen Rassen unserer Welt früher oder später gegenüber sahen: die Männer wurden von den ihnen waffentechnisch überlegenen Eroberern entweder versklavt oder erschlagen, ihre Frauen vergewaltigt und das Indianerland teilten die Invasoren unter sich auf. Und wenn die Vertreter der Kirche solchen Völkermord zu verhindern suchten, indem sie den “Wilden“ ihren Gott als Wiedergutmachung anboten, so verlängerten sie damit lediglich ihre Agonie – denn mit ihren frommen Sprüchen und falschen Versprechungen brachten sie den Indianern auch ihre Zivilisationskrankheiten mit: Grippe, Diphtherie, Mumps und Keuchhusten – Viren, mit denen die Körper unserer Kinder in der Regel ohne weiteres fertig werden, verursachten bei den Eingeborenen, ohne körpereigene Abwehrstoffe, verheerende Epidemien und damit einen noch dramatischeren Tod.
Ganze Völker wurden durch solche eingeschleppten Viren ausgerottet oder auf eine Handvoll ihrer Angehörigen dezimiert. Ungläubige Pessimisten, wie zum Beispiel die Guaraní-Caiová begingen solidarischen Selbstmord, weil sie das Ende ihrer Welt kommen sahen – ein anderer Stamm in Amazonien fing an, seine weiblichen Neugeborenen zu töten, damit sie nicht später zur Prostitution in den Goldgräber-Camps gezwungen werden konnten – und entschieden sich damit selbst fürs Aussterben.
Dokumentation “Corpo a Corpo“ von Reinaldo Jardim aus dem Jahr 1996, mit poetischen Eindrücken und Portraits des empfindlichen Zusammentreffens zwischen den Yanomami-Indios und den Garimpeiros (Goldsucher) in der amazonischen Heimat der Ureinwohner. Wenn man sich einmal die Verteilung der Indianerstämme im brasilianischen Territorium von heute auf der Landkarte ansieht, dann kann man deutlich deren konstanten Rückzug vor der historischen, wirtschaftspolitischen Expansion erkennen. Völker, die an der atlantischen Ostküste lebten, wurden überfallen und vernichtet, Randgruppen flüchteten sich in unzugängliche Gebiete des Hinterlandes, um zukünftig jeglichen Kontakt mit Weissen zu vermeiden.
Einige Indianervölker haben sich, schon seit den ersten Zusammenstössen mit den Eroberern der Kolonialzeit, in die absolute Isolation zurückgezogen. Und immer noch existieren mindestens fünfzig Gruppen, die niemals Kontakt mit dem weissen Mann hatten – an ihnen sind sämtliche Veränderungen im Land unbemerkt vorübergegangen. Sie pflegen die kulturellen Traditionen ihrer Vorfahren und leben von der Jagd, dem Fischfang, dem Sammeln von Waldfrüchten und, in manchen Fällen, auch von einer flüchtigen Feldbestellung – absolut isoliert, nicht nur von der brasilianischen Gesellschaft sondern auch von jeglichem Kontakt mit anderen Eingeborenen. Sie verteidigen ihr Territorium todesmutig, und wenn sie den Gegner nicht mehr aufhalten können, ziehen sie sich selbst in noch weiter entfernte Gebiete zurück.
Die grosse Mehrheit der überlebenden brasilianischen Indianer von heute – je nach kontinuierlichem oder sporadischem Kontakt zur “weissen Front“ – wird inzwischen von der “Fundação Nacional de Assistência ao Índio“ (FUNAI) medizinisch, wirtschaftlich und auch gesellschaftlich unterstützt und betreut. Ihre Beamten – die inzwischen teilweise schon von studierten Indianern selbst gestellt werden – schirmen ihre Kommunen gegen schädliche Einflüsse von aussen ab, auch gegen Besuche von unbefugten Personen. Andererseits steht es den Indianern frei, Söhne und Töchter mit der Welt der Weissen bekannt zu machen, sie in eine weisse Schule und später auf die Universität zu schicken, denn nur aus der sukzessiven Anpassung erwächst ihren Völkern auf längere Sicht eine Überlebenschance.
Für die adaptierten Gruppen hat man sogar innerhalb ihres Territoriums Schulen eingerichtet, in denen sie neben der portugiesischen Landessprache auch in ihrer Muttersprache unterrichtet werden. Auch diesen Unterricht übernehmen inzwischen schon eingeborene Lehrer. Die Indianer überleben – wenigstens einige ihrer Stämme. Nicht nur im biologischen Sinne, sondern auch aus der kulturellen Perspektive gesehen. Das beweisen kürzlich vollendete Studien, die besagen, dass die indianische Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten sogar relativ schnell anwächst. Heute ergeben sich aus den 230 existenten unterschiedlichen indianischen Völkern rund 430.000 Personen, die 170 verschiedene Sprachen sprechen. Diese Indianer leben in den verschiedensten Gebieten des brasilianischen Territoriums und repräsentieren, in demografischer Hinsicht, nur einen winzigen Prozentsatz (0,2) der über 180 Millionen Brasilianer. Aber sie sind, trotz alledem, ein konkretes und signifikantes Beispiel der grossen kulturellen Vielfalt unseres Landes.
Allerdings werden die Indianer von den brasilianischen Behörden nicht als eine “touristische Attraktion“ angesehen, deshalb ist eine entsprechende Besuchserlaubnis für ein Indianerterritorium auch kaum zu bekommen – und das finden wir, den Indianern zuliebe, auch ganz in Ordnung.
Weil ich mich nach jahrelangem Aufenthalt unter verschiedenen Stämmen Brasiliens, mit den Indianern persönlich verbunden fühle, und in zahlreichen Vorträgen, auch unter Brasilianern, zum besseren Verständnis ihrer eingeborenen Mitbürger geworben habe, ist es mir eine ganz besondere Freude und Ehre, mit diesem Thema in unserem BrasilienPortal nun das noch viel grössere Publikum erreichen zu können: Im Team haben wir uns nämlich die Arbeit gemacht, Ihnen die vielen aktuellen Indianervölker Brasiliens vorzustellen – und zwar nicht in einem kurzen Absatz, sondern “en detail“ – mit ihrer Geschichte, ihrer Sprache, ihrem Lebensraum, ihren individuellen Sitten und Gebräuchen, ihren sozioökonomischen Eigenheiten etc. etc. und mit vielen, von ihnen selbst erzählten Storys. Wieder eine besonders interessante und spannende Rubrik, in der wir, wie gewohnt, in die Tiefe gehen – und die wir monatlich kontinuierlich erweitern werden.