Das Indiovolk der Werekena lebt am Rio Xié und dem Oberlauf des Rio Negro. Am Rio Xié existieren heute neun Kommunen: Vila Nova, Campinas, Yoco, Nazaré, Cumati, Tunu, Umarituba, Tucano und Anamuim. Die Dörfer, welche sich oberhalb des Wasserfalls Cumati befinden sind: Tunu, Umarituba, Tucano und Anamuim. Tunu befindet sich auf einer Flussinsel, seine Bevölkerung lebt zum grössten Teil in kleineren Wohngemeinschaften, wie Macuxixiri oder Cuati, und kommen höchstens mal zu Festen in das zentrale Dorf.
Werekena
Andere Namen: Warekena Sprache: Nheengatu (vorher sprachen sie einen Dialekt aus der Aruak-Familie) Population: 887 (2010) Region: Nordwesten von Amazonien (Das Gebiet vom Rio Xié und dem Oberlauf des Rio Negro) |
INHALTSVERZEICHNIS Lebensraum und Bevölkerung Sprachen Geschichte des Erstkontakts Religiöses Leben Wirtschaftliche Aktivitäten Zeitgenössische Aspekte |
Lebensraum und Bevölkerung
Das Gebiet, welches vom Rio Xié und dem Oberlauf des Rio Negro durchquert wird, oberhalb der Mündung des Rio Uaupés, wird in erster Linie von den Baré und den Werekena bewohnt, etwa 60% von ihnen identifizieren sich als Werekena. Insgesamt sind es annähernd 140 Dörfer und Siedlungen, in denen zirka 3.200 Personen leben. Ihre Mehrheit ist zu so genannten “Comunidades“ (Kommunen) zusammengeschlossen, wie man in dieser Region die Ansiedlungen nennt, die sich im Allgemeinen aus einer Gruppe von Häuschen aus Lehm und Häcksel zusammensetzen, die rund um einen grossen Platz gruppiert sind – mit einer Kapelle (katholisch oder protestantisch), einer Schule und eventuell einem Sanitärposten. Aber es gibt auch Kommunen, die nichts ausser ihren Häuschen besitzen. Die bedeutendsten Siedlungen dieser Art sind Cucuí, Vila Nova und Cué-Cué.
Oberhalb von Cucuí verlässt der Rio Negro Brasilien – hier bildet er auch die Grenze zwischen Venezuela und Kolumbien. Oberhalb des Casiquiare-Kanals, der den Rio Negro mit dem Rio Orinoco verbindet, hat der erstere jetzt den Namen Guaínia. Der Abschnitt des Rio Negro zwischen der Mündung des Rio Uaupés und der Stadt Santa Isabel ist das Gebiet, welches heute die grösste Bevölkerungszahl Nordwestamazoniens beherbergt. Die Städte Santa Isabel und São Gabriel da Cachoeira sind haben sich als zentrale Pole der zuströmenden Landbevölkerung erwiesen, Menschen, die früher im Innern des Landes lebten, an den Ufern der Quellflüsse des Rio Negro. Dieser Zustrom der Landbevölkerung erklärt sich aus ihrem Interesse an einer schulischen Bildung für ihre Kinder, an bezahlter Arbeit, am Militärdienst und der Nähe kommerzieller Etablissements mit akzeptableren Preisen als denen, die von den Geschäftemachern erhoben werden, welche mit ihren Booten auf den Flüssen unterwegs sind.
Sprachen
Baré und Werekena sprachen einst Aruak. Jedoch nach dem Kontakt mit den Missionaren und der Kolonisation passten sie sich der “Língua Geral” an, dem “Nheengatu” – heute repräsentiert diese Sprache ihre kulturelle Identität. Trotzdem gibt es immer noch wenige Kommunen des Oberen Xié, die ihrer originalen Wekena-Sprache mächtig sind und sie je nach Situation auch benutzen.
Das “Nheengatu” ist eine vereinfachte Form des antiken Tupi, welches in einem grossen Teil Brasiliens in den ersten Jahrhunderten der Kolonisation gesprochen wurde, und dann von den Jesuiten-Missionaren bearbeitet und weit verbreitet worden ist. Mit der Zeit, und durch die Einführung des Portugiesischen als Nationalsprache, verlor das “Nheengatu” an Terrain. Aber es lebt und wird im Bereich des Rio Negro täglich verwendet – in seinem mittleren und oberen Abschnitt ganz besonders, in São Gabriel und an einigen Nebenflüssen, wie dem unteren Içana und am Rio Xié.
Geschichte des Erstkontakts
Erstmals begegneten die Werekena dem “Weissen Mann” wahrscheinlich am Anfang des 18. Jahrhunderts, es gibt verschiedene registrierte Referenzen bezüglich dieses Volkes aus jener Zeit. Im Jahr 1753 schrieb der Jesuitenpater Ignácio Szentmatonyi (siehe Wright 1981:603-608) nieder, dass die “Verikenas“ am Rio “Issié“ (Xié) lebten und ihre eigene Sprache hätten, die jener der “Mallivenas“ ausserordentlich ähnlich sei. Er erwähnte ausserdem, dass ihr Häuptling zwei Jahre zuvor “eingeladen“ worden war, den Fluss herunter zukommen, um das Christentum anzunehmen. Andere Quellen (Caulin 1841: 70-75; Cuervo 1893, t. III: 244, 322-323, 325, 327; Arellano Moreno 1964:389) geben die Präsenz von Werekena-Dörfern, zwischen 1758 und 1760, an den Flüssen Guaínia (oberhalb der Mündung des Cassiquiare), am Tiriquin, Itiniwini (gegenwärtig São Miguel und seinen Zuflüssen Ichani, Ikeven oder Equeguani und Mee), Atacavi, Oberlauf des Atabapo und Caflo Maruapo (Zufluss des Cassiquiare) an, letzteres ein Gebiet, in dem noch heute Werekena in Venezuela leben. Dieselben Quellen beschreiben die Präsenz der Werekena im Jahr 1767 am Zusammenfluss des Casiquiare mit dem Guaínia und an der Mündung dieses Kanals in den Orinoco, wohin sie von den Kolonisatoren des Itiniwini und des Caño Muruapo gebracht worden waren.
Der Padre José Monteiro de Noronha (1768) gibt die Präsenz der “Uerequena“ am Rio Xié an, und zwar als mit anderen Völkern zusammenlebend – mit den „Baniba” (Baniwa), Lhapueno, Mendó und anderen. Und “sie leben auch am Rio Içana, zusammen mit den Baniba, Tumayari, Turimari, Deçana, Puetana und anderen. Für diesen Pater zeichneten sich die “Uerequena“ – “die man im Volksmund auch Ariquena nannte“ – durch ein grosses Loch zwischen dem Ohrknorpel und dem Ohrläppchen aus, in das sie “Strohbüschel“ zu stecken pflegten. Unter ihnen waren viele, die durch den Kontakt mit Weissen hebräische Namen trugen – manche dieser Namen waren “rein“, andere vom Hörensagen etwas verändert, wie: “Joab, Jacob, Yacobi, Thome, Thomequi, Davidu, Joanau und Marianau”. Solche Informationen über die Werekena wiederholen sich während des 18. Jahrhunderts, mit einigen Veränderungen und Ergänzungen durch die Reisenden in jener Region.
In den Jahren 1774 bis 1775 sollen Gruppen der “Uariquena“ in Barcelos gewohnt haben – wahrscheinlich mit Sklaventransporten Jahre vorher von den Portugiesen verschleppt – so erzählt Francisco Xavier Ribeiro de Sampaio (1825: 104-114). Dieser portugiesische Offizier erwähnte auch die “Uerequena“ am Rio Içana, während er vom Rio Xié erzählte, dass dort die “Assauinaui” lebten (wahrscheinlich handelte es sich um eine Bruderschaft der Baniwa, die Dzauinai). Die “Uerequena“ so erzählte auch er, seien “berühmt wegen ihrer Kommunikation, die zwischen ihnen und den Weissen Jahre zuvor bestanden habe, und seither gebrauchten sie hebräische Namen wie: Joab, Jacobi, Thome, Thomequi, Davidu, Joanau, e Marianau. Diese Nation von Kannibalen sei auch berühmt wegen ihrer “Knotenschrift“, ähnlich der antiken peruanischen “Quipos“ – mit diesen Knoten in einem Strick könnten sie ihre Gedanken an ferne Personen übermitteln, die sie verstehen und jene Knoten zu deuten wissen – dieselben Stricke dienten ihnen auch für den arithmetischen Gebrauch.
Im Jahr 1784 deutet Manoel da Gama Lobo d’Almada, ein anderer portugiesischer Offizier an, er habe keinen einzigen Indianer an den Ufern des Rio Xié gesehen, aber es gäbe Hinweise auf sehr viele Indianer – er erwähnt leider keine Namen – zwischen den Quellflüssen dieses Stroms und dem Rio Tomo, einem rechtsseitigen Zufluss des Rio Guaínia (der in Brasilien Rio Negro heisst). Er berichtet: “Ich bog in den Rio Xié ein und fuhr dann stromauf bis zu seinem östlichen Arm, der “Uheuaupuiy” (wahrscheinlich der Teuapuri) genannt wird, und den fuhr ich hinauf bis zu einem Hügel, wo ich zwischen dem Dschungel einen geraden Weg entdeckte, der offensichtlich häufig begangen wurde. Es war nötig, dass meine Truppe geordnet und aufmerksam marschierte, denn es gab vielerlei Leute um uns herum, von denen wir stets im Morgengrauen die Trommeln schlagen hörten. Zweimal erwischten wir Spione von ihnen, bewaffnet mit “Curabis”, das sind kleine, in Pflanzensaft getränkte Pfeile, mit denen sie uns beschossen, aber nach ein paar Schüssen in die Luft zogen sie sich zurück, und wir marschierten friedlich weiter”.
Alexandre Rodrigues Ferreira ([1885-88] 1983:253-254) bereiste die Flüsse Xié und Içana im Jahr 1785. Er berichtet, dass er am Xié von seinem indianischen Bootspiloten gewarnt wurde, die “Uerequena” hätten stets vorgeschobene Wachposten an einem bestimmten Wasserfall, um von den Kanus zu erfahren, die dort vorbei kämen. Je nach Anzahl der Eindringlinge und je nach ihrer Bewaffnung, entschieden sie dann, diese zu überfallen oder auch nicht. Interessant, dass der Naturalist, als er den Wasserfall Cumati erreicht hatte, in sein Tagebuch schrieb, dass “von dort in Richtung Oberlauf gibt es besonders viel Piassava-Palmen” – und damit schon das besondere wirtschaftliche Interesse andeutet, welches heute dem Quellgebiet dieses Flusses gilt.
Am Rio Içana beschreibt Alexandre Rodrigues Ferreira ebenfalls die Präsenz der “Uerequena” zusammen mit den “Banibas”, den Termaisaris, Turimaris, Duanaes, Puitenas und anderen. Von den Uerequena wiederholt er ebenfalls, obwohl er sie nicht persönlich kennen gelernt hat, dass sie mit Hilfe von verknoteten Stricken kommunizierten und erwähnt auch ihre “hebräischen Namen” sowie ihre grossen Löcher in den Ohren. In einem späteren “Anhang”, geschrieben 1787, enthüllt der Naturalist eine Reihe von Charakteristika der Uerequena, die er wahrscheinlich durch Informationen Dritter gehört hatte – zum Beispiel von Soldaten, welche die Truppe unter Miguel de Sequeira Chaves im Jahr 1757 begleitet hatten, die ausgezogen war, um einen “Angriff von rebellischen Indianern” abzuwehren (wahrscheinlich am Unteren Rio Negro), unter denen es ein paar “gezähmte Warekena” gegeben haben soll. Unter den beschriebenen Charakteristika heben sie vor allem hervor – neben dem schonbeschriebenen Ohrloch – dass diese Indianer “Kannibalen” seien und dass sie die Eutanasie praktizierten – bei sehr alten Leuten und bei unheilbar Kranken – und, dass sie “Pferche” für Gefangene besässen.
Alle diese Berichte – obwohl teilweise zweifelhaft, was die Genauigkeit in der Beschreibung der physischen Gestalt und der kulturellen Gepflogenheiten der Werekena betrifft, denn sie enthüllen, dass sie grösstenteils von Beobachtungen Dritter stammen – scheinen darauf hinzudeuten, dass diese Indianer eine relativ grosse Bevölkerung hatten, obwohl sie durch die Sklaventransporte und von den Weissen eingefangene Epidemien schon damals ziemlich dezimiert worden waren.
Die Berichte deuten ebenfalls darauf hin, dass sie ein Territorium zwischen dem Içana, dem Xié und dem Guainía als ihre Heimat betrachteten, und mit ihren Nachbarn strikte Relationen unterhielten (und auch Kriege führten) – wenigstens bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts, einer Periode, in der über jenes Gebiet kaum noch Informationen vorliegen. Von da an tauchen wieder ein paar Referenzen bezüglich der Wekena auf, in diversen Texten über die Natur Amazoniens, die alle auf eine Dezimierung der Gruppe hinweisen, je mehr sich die Weissen in diesem Territorium ausbreiten.
Die lange Horrorgeschichte des Kontakts zwischen jenen Händlern mit extraktiven Produkten und den Indianern des Rio Negro nahm ebenfalls ihren Anfang im 19. Jahrhundert. Was dort geschah, beweist eine offizielle Note, die vom Präsidenten der Provinz Pará an den “Auditor des Rio Negro” im Jahr 1821 gesandt wurde, und die “Zivilisierung und Niederlassung der Indianer” betrifft. In seinem Schreiben fordert der Präsident seinen Untergebenen auf, “die Kommandanten und Autoritäten hart zu bestrafen, welche jene Leute malträtieren, ausserdem jene fahrenden Händler, welche diese Menschen mit falschen Gegenwerten täuschen und so die Moral disakreditieren, welche man ihnen zu verstehen geben will”. Mit anderen Worten: der Chef des Staates versuchte schon 1821 die Exzesse zu stoppen, mit denen sich Händler, Autoritäten und Militärs an den Indianern vergingen. Und viele Male in der Geschichte jener Region war es schwierig, Händler von Autoritäten zu unterscheiden, denn alle zeigten sie die beiden Seiten derselben Münze – und das war die gewaltsame, gnadenlose Ausbeutung der indianischen Arbeitskraft.
Ab Anfang des 19. Jahrhunderts waren sowohl auf brasilianischer wie auf venezuelanischer Seite viele Indianer in die Extraktion und Verarbeitung von Kakao, Salsaparilla, Piassava, Puxuri, Balata und Latex involviert – als Zwangsarbeiter, die von gewissenlosen Geschäftemachern angetrieben und von korrupten Militärs bewacht wurden. Dies war auch der Anfang von Zwangsumsiedelungen und Massenfluchten von Indianern, die weit weg von ihrer Heimat an entsprechende Produktionsstätten transportiert worden waren (Cf. Wright, 1992:263-266).
Der Naturalist Alfred Russel Wallace, der 1848 bis 1850 den Rio Negro bereiste, liefert andere Informationen. In seinem Reisebericht (1853) gibt er an, dass die “Ariquenas” am Rio Içana wohnen, zusammen mit den Baniua, Bauatanas, Ciuci, Quatis, Juruparis, Ipecas, Papunauas – sie alle sind Bruderschaften der Baniwa. Was den Rio Xié betrifft, bestätigt er, dass “die Indianer, welche seine Ufer bewohnen, wenig bekannt und noch Wilde sind“ und, dass sich “dort ein beginnender Handel“ abzeichnet. Jedoch keine Bemerkung über die Art und Weise dieser “Wilden“ des Rio Xié und welcher Art dieser “beginnende Handel“ sei – es könnte sich um Piassava gehandelt haben, dessen Produktion schon zur damaligen Zeit bedeutend war, und in seinem Bericht auch an anderer Stelle vorkommt. Über die “Ariquena“ als Bewohner des Içana schreibt er lediglich, dass sie “auf die selbe Weise wie die “Cobeuas“ andere Stämme angreifen, um Gefangene zu machen. Ihre religiösen Vorstellungen und ihr Aberglaube ähneln denen anderer Völker des Uaupés“.
Wenige Jahre später als Wallace – ungefähr zwischen 1852 und 1854 – gaben der Kapuziner-Pater Gregório José Maria de Bene und der Geschäftsmann des Oberen Rio Negro, Jesuino Cordeiro, an, dass die “Uriquena“ Bewohner des Rio Içana seien, zusammen mit den Baniua, Piuns, Cadauapuritaua, Murureni, lurupari, Siussi, Quaty, Ipeca, Tapibira, Tatutapia, Caetitu, lujudeni, Uaripareri (alles Bruderschaften der Baniwa) – aufgezeichnet von B. F. Tenreiro Aranha in der Zeitschrift “Arquivo do Amazonas” (1906: 67-68). Nach Tenreiro Aranha kannte der zitierte Jesuino Cordeiro ebenfalls das Gebiet des Rio Xié, aber der amazonensische Historiker macht keinerlei Angaben in seinen Dokumenten gegenüber der dortigen Bevölkerung.
Im Jahr 1857 übernimmt der Artilleriekapitän Joaquim Firmino Xavier am Oberen Rio Negro die Aufgabe, “die Indianer an der Grenze zu befrieden” – mit anderen Worten: den “Rio Içana und den Xié mit Indianern zu kolonisieren” – Indianer, mit denen er sich persönlich getroffen hat, was vielleicht darauf schliessen lässt, wer jene “wenig bekannten Wilden” besucht von Wallace und Jesuino Cordeiro am Rio Xié eigentlich gewesen sind. Ein anderer Zeitzeuge dieses Jahrhunderts ist der italienische Baron Ermano Stradelli, der im Jahr 1881den Rio Negro ab Cucuí hinabfuhr. Nach seinem Bericht war der Rio Xié zu seiner Zeit fast menschenleer. Es ist aber möglich, dass die eingeborene Bevölkerung sich an die Quellflüsse zurück gezogen hatte, um den destruktiven Kontakt mit den Weissen zu meiden.
Beim Studieren dieser Quellen scheint sich zu verdichten, dass die Werekena wanderten, oder dass sie ein Wanderleben zwischen dem Içana, Xié und dem Gualala führten, wahrscheinlich mittels des Rio Tomo und diverse andere Verbindungskanäle – solche Wanderungen wurden provoziert durch den fortschreitenden Druck und das Eindringen der Weissen in ihr Gebiet, sowohl von venezuelanischer als auch brasilianischer Seite. Eine solche Hypothese mag vielleicht auch den schlechten Ruf erklären, den man diesem Volk anhängte. Besonders die Militärs machten sich unglaublicher Gewalttaten gegen die Indianer schuldig – inklusive gegen die Werekena – denn nichts sonst könnte die abgrundtiefe Furcht erklären, die sich vor den Offizieren auf ihre Gemüter gelegt hatte, und die zu einer totalen Entvölkerung bestimmter Gebiete führte, in denen neu erbaute Häuser, Felder, Jagd- und Fischfanggebiete verlassen und die Ernte versäumt wurden – Grundlagen ihrer wirtschaftlichen und kulturellen Existenz (siehe Wright, 1981: 289ss). Lieber nahm man während solcher Fluchten lange Wanderungen in Kauf, an denen auch die Ausbeutung der Indianer durch gewissenlose Geschäftemacher und andere Motive schuld waren.
Sicher ist, dass die Bevölkerung aller Gruppen des Içana und Xié zu jener Zeit gewaltige Verluste erlitten hat. Unter ihnen allen grassierte, tief und dauerhaft, der Schrecken vor jedem weissen Mann, der sich einem ihrer Dörfer näherte. Also bekräftigen die voran gegangenen Berichte die Hypothese, dass jene Gewalttaten auf beiden Seiten der Grenze nicht nur die Dezimierung der indianischen Bevölkerung verursacht, sondern auch ihre Wanderungen, mal auf die eine, mal auf die andere Seite, provoziert haben.
Viele dieser historischen Aspekte des 19. Jahrhunderts erstreckten sich bis ins 20. Jahrhundert hinein. Die Präsenz der Geschäftemacher nahm noch zu, und die Ausbeutung der indianischen Arbeitskraft in den Latex- und Piassava-Sammellagern betraf vor allem die Indianer des Rio Negro. Ein alter Baré-Indianer erzählt zum Beispiel, dass sein Vater, der 1888 geboren wurde, bei dem portugiesischen Händler Antonio Castanheira Fontes gearbeitet hat, der zu Beginn dieses Jahrhunderts der “grösste Händler des Unteren Rio Negro“ gewesen sei, und dass er im Haus dieses Händlers einen Baumstamm aus Brasilholz gesehen habe, “an dem Ketten befestigt waren, mit denen aufsässige Indianer angebunden wurden, um sie auszupeitschen“.
Der Sanitäter Oswaldo Cruz erwähnt in einem Bericht, den er über das Amazonasgebiet zu Beginn des 20. Jahrhunderts schrieb, die erzwungene Abwanderung der Indianer vom Oberen Rio Negro zum Unterlauf desselben, und er bestätigt “wenn die Eigentümer der Latex-Sammelstellen des Rio Negro neue Arbeiter benötigen, dann suchen sie dieselben oft oberhalb von S. Gabriel, am Rio Caiairi (Rio Uaupés), der dicht bewohnt ist, aufzutreiben, oder hinter der Grenze zu Venezuela (1913 : 106). Jene Wanderungen, in dieser und auch späteren Perioden, hatte wahrscheinlich auch einen anderen Grund: viele Indianer zogen zum Unteren Rio Negro auch auf der Suche nach ihren versklavten Angehörigen oder ihren Vorfahren, die in jenem Gebiet verblieben waren. Vielen Familien gelang die Flucht aus der Sklaverei, und sie kehrten in ihre Stammregionen zurück, entgingen so auch den tödlichen Epidemien, welche in den Zonen der Ausbeutung grassierten, wie zum Beispiel die Malaria.
Curt Nimuendajú beschreibt in seinem Bericht einer Reise auf dem Oberen Rio Negro, die er für den SPI (Indianerschutzdienst) im Jahr 1927 durchführte, das Verhältnis zwischen jenen Händlern und den Indianern auf eine Art und Weise, die man perfekt noch heute auf die gegenwärtige Situation der Region übertragen könnte:
“Alle diejenigen, welche mit den Indianern Handel treiben, wissen ganz genau – mit seltenen Ausnahmen – dass niemand von ihnen auch nur gewillt ist, aus freien Stücken einen reellen Preis für die von Indianern angebotenen Produkte zu zahlen, sondern erst auf besonderen Druck des Anbieters hin. Aber anstatt ihn dann bar zu bezahlen, versucht der Händler im Gegenteil, dem Indianer eine Schuld aufzuladen und rechnet bereits mit seinem “Recht”, den Schuldner später zwingen zu können, ihn so zu bezahlen, wie er es für richtig halten würde. Dadurch gerät der Indianer sehr oft in grössere Schwierigkeiten als dies in einem Gefängnis der Fall wäre”.
Die Aussage des Wissenschaftlers José Cândido de Melo Carvalho bestätigt seine Beobachtung. Der bereist die gesamte Region des Rio Negro im Jahr 1949 : “Alle, mit denen ich auf diesem Abschnitt geredet habe (dem Mittleren Rio Negro) stimmen darin überein, dass gewisse “Weié“ dieser Region die Indianer schamlos ausbeuten und sie dazu zwingen, ein wahres Sklavenleben zu führen. Eigenartigerweise überliefert die orale Tradition der Indianer selbst keine Bestätigung jener Geschichten der Reisenden und Wissenschaftler.
Es geschah ebenfalls, dass viele weisse Händler, wie zum Beispiel Germano Garrido, sich mit indianischen Frauen der Region verheirateten – die meisten vom Volk der Baré – und dadurch eine grosse Rassenmischung im Gebiet des Rio Negro verursachten. Damit schufen sie verwandtschaftliche Beziehungen zwischen weissen Händlern und den Indianern und eröffneten ihren eingeborenen Schwagern die Möglichkeit, als Unterhändler zwischen ihnen und den Stammesgenossen zu fungieren.
Religiöses Leben
Die Kommunen, welche im Umkreis des Wasserfalls Cumati gelegen sind – Nazaré, Yoco, Campinas und Vila Nova – besitzen eine mehrheitlich protestantische Bevölkerung, unter dem Einfluss der “New Tribes Mission”, die einen Sitz in Vila Nova innehat, fast an der Mündung des Rio Xié – dort leben permanent vier Missionare. Diese Mission am Rio Xié wurde Anfang der 80er Jahre gegründet, aber die Missionsarbeit selbst wurde schon viel früher von der Mission an der Mündung des Rio Içana geleitet. In diesen Kommunen wird nicht getrunken und nicht geraucht – wenigstens nicht in der Öffentlichkeit – was heisst, dass hier auch keine Caxiri-Feste mehr stattfinden, zu denen Alkohol und Tabak im Mittelpunkt standen. Stattdessen veranstaltet man hier “Konferenzen”, wie die Versammlungen der “Gläubigen” genannt werden. Trotzdem sucht die Mehrheit der Bewohner die Medizinmänner und Gesundbeter der katholischen Kommunen auf, wenn sie krank sind, die noch immer die traditionellen Ressourcen wie Tabak und “Paricá” anwenden und mit von den Missionaren verbotenen Gesängen dem Unheil zu Leibe rücken.
Die Kommunen oberhalb des Wasserfalls Cumati – Tunu, Umarituba, Tucano und Anamuim – sind dagegen katholisch. An den Festen der Heiligen, im Juni, präsentieren sie einen Überfluss an Getränken, Essen, Tanz und Gebeten über mehrere aufeinander folgende Tage. Die so genannten “Ladainhas“ werden in Latein gesungen, sie stammen aus dem 18. und 19. Jahrhundert und wurden mündlich überliefert. Aber diese Bevölkerung hat auch die antiken Traditionen aus der Zeit vor dem Kontakt mit den Missionaren bewahrt – wie zum Beispiel ihre Mythologie und die Kenntnisse ihrer Schamanen.
Die katholische Kirche hat nie eine Mission am Rio Xié gegründet, wie sie in Assunção (am Içana), Taracuá, Iauaretê und Pari Cachoeira (am Uaupés) existieren. Jedoch machen die Salesianer sporadische “Besuche” am Rio Xié. Im Jahr 1992, als man den ältesten Bewohner am Rio Xié, Senhor Viriato Cândido (97), fragte, wer der erste Padre war, den er am Fluss gesehen habe, antwortete er: “Padre Lourenço” – das war Lourenço Giordano, einer der 1914 die Salesianer-Mission an den Rio Negro brachte – aber es ist wahrscheinlich, dass der Katholizismus selbst schon früher die Region erreichte.
Die religiöse Teilung des Flusses in zwei Teile passt zu der geografischen Teilung durch den Cumati-Wasserfall. Jedoch gibt es regelmässig Eheschliessungen zwischen Personen “von oben” und anderen “von unterhalb” des Falls und die gesellschaftlichen Relationen sind ebenfalls freundschaftlich.
Wirtschaftliche Aktivitäten
Die indianische Bevölkerung vom Rio Xié arbeitet in erster Linie in der Extraktion der Piassava-Fasern. Normalerweise, Anfang Oktober bis zum Februar des Folgejahres, befinden sie sich in einer Art Vorbereitungsphase – der Jahreszeit, in der die Familien innerhalb der Kommunen verbleiben und sich die meiste Zeit mit Arbeit auf dem Feld, mit der Jagd, dem Fischfang und dem Sammeln von Waldfrüchten beschäftigen.
Dann folgt der Umzug in die Piassava-Hütten, die sich flussaufwärts befinden, eine Zeit, die bis zu zwei Monaten in Anspruch nehmen kann, das hängt auch von der Entfernung zwischen der jeweiligen Kommune und dem entsprechenden Arbeits-Camp ab. In den Monaten des Hochwassers, zwischen Mai und September, schneidet und verarbeitet man die Piassava, dann wird sie dem “Patron“ als Bezahlung für Schulden abgeliefert, die man vorher gemacht hat. Es handelt sich also um einen Jahreszyklus, in dem die extraktiven Aktivitäten in den Alltag der Werekena und Baré mit einbezogen werden, der aus den üblichen Tätigkeiten im Haushalt besteht, wie Jagd, Fischfang, Sammeln, Ackerbau und der Konfektion von Arbeitsgerätschaften.
Ein Netz von kleinen, mittleren und grossen Händlern war grösstenteils verantwortlich für die Zwangsumsiedlung der Indianervölker aus ihren Stammregionen in die Gebiete ihrer Ausbeutung der Naturressourcen. Dann jedoch, als die “Produktionsstätten“ nichts mehr hergaben oder das “Produkt“ auf dem Markt im Preis gefallen oder überholt war – wie das zum Beispiel mit dem Naturgummi im 19. Jahrhundert geschah – kehrten viele Familien und Zwangsarbeiter in ihre Heimatregion zurück. Aus dieser Perspektive der Ausbeutung durch jene Geschäftemacher muss man heute die Indianer des Oberen Rio Negro betrachten, wenn man ihre Haltung gegenüber der weissen Gesellschaft verstehen will.
Aus wirtschaftlicher und politischer Sicht hat sich bis heute das Abhängigkeitsverhältnis von Indianern zu Händlern am Rio Xié kaum verändert. Piassava und Lianen sind noch immer die natürlichen Ressourcen deren Vermarktung der dortigen Bevölkerung den Zugang zu einigen Industrieprodukten ermöglicht, welche sie für ihr einfaches Leben benötigen – und die beziehen sie von Zwischenhändlern, die mit ihren Booten zu ihnen kommen, die Piassava-Ernte übernehmen und ihnen dafür Industrieprodukte dalassen.
Seit den 70er Jahren gibt es keine “grossen Händler“ mehr – denn die extraktiven Aktivitäten sind in der Region, bedingt durch externe Geschehnisse, stark zurück gegangen – gehalten haben sich “kleine“ und “mittelgrosse Händler“, und letztere sind auch für Verbindungen mit ausserregionalen Märkten verantwortlich. Die Mehrheit der “kleineren Händler“ setzt sich heutzutage aus Indianern zusammen, die an ihre “patrões”, Mestizen oder Weisse, die indianischen Ernteprodukte weiter verkaufen. Aber es gibt da noch die “mittelgrossen Händler“ – wie jene, die am Rio Xié verkehren, und eine direkte Verbindung mit den Indianern unterhalten, ohne Vermittlung des kleinen Händlers. Die versuchen unabhängig zu bleiben und die aufgekauften Produkte direkt in São Gabriel da Cachoeira auf den Markt zu bringen.
Zeitgenössische Aspekte
Es ist wahrscheinlich, dass die extraktiven Aktivitäten hinsichtlich der Piassava-Faser am Rio Negro eine gewisse Zukunft haben, dank der starken Nachfrage der Verbraucher nach guten Besen, besonders in den urbanen Zentren. Die “Piassava vom Amazonas“ (in Rio und São Paulo als “Bacina” bekannt) wird in der Regel zu einem Drittel unter die Fasern eines jeden produzierten Besens gemischt – denn ihre besondere Qualität, so sagen die Fabrikanten, geben dem Endprodukt eine längere Lebensdauer. Wenn man dann noch bedenkt, dass “grüne Produkte“ auf internationalen Märkten wie Europa und den USA besonders begehrt sind, ist es sicher besonders interessant, diese Produktion von Piassava-Besen weiter zu stimulieren – sie sind biologisch abbaubar, umweltfreundlich, denn ihre Ernte schadet dem Regenwald nicht, und sie tragen zur Erhaltung der Existenz der indianischen Bevölkerung vom Rio Xié bei, die ihre Fasern ernten und verarbeiten.
Auf der anderen Seite, wenn man von der Annahme ausgeht, dass es richtig ist, die Extraktion der Piassava – die im Nordwesten Amazoniens alle anderen wirtschaftlichen Aktivitäten in den Hintergrund treten lässt – durch die Indianer zu unterstützen, sollte man aber ernstlich darüber nachdenken, wie man die Struktur und die Funktion dieses produktiven Systems und seine Kommerzialisierung verbessern könnte. Denn das im Lauf der Geschichte gesponnene Netz zur Ausbeutung der indianischen Piassava-Produzenten durch einen “Patron“ hat sich bis in unsere Tage unverändert erhalten – das wird besonders in der Differenz zwischen dem gezahlten Preis durch den Händler und seinem Wiederverkaufspreis deutlich, aber auch in dem den Indianern aufgehalsten Schuldensystem.
Deutsche Übersetzung/Bearbeitung, Klaus D. Günther