Sie befindet sich auf der Landstrasse – in einer importierte Nobelkarosse – der Asphalt ist neu, schwarz und glänzend – es regnet. Ein plötzlicher Knall reisst sie aus ihren Gedanken – der Wagen kommt ins Schleudern, wirbelt den Schotter am Strassenrand hoch – ein Steilhang übernimmt die Bremsung, der Wagen kommt an der Einmündung einer schmalen Erdstrasse endlich zum Stehen.
Nach dem Schock kommen die Tränen – die Frau weint nervös und zitternd – sie steigt aus, um sich den Schaden zu besehen – eigentlich ist nicht viel passiert, ein paar Kratzer und Dellen – aber der Reifen vom linken Vorderrad ist hin. Sie schaut sich um – die kleine Strasse hinauf und hinunter – es ist niemand zu sehen. Es wird langsam dunkel. Sie wendet sich dem zerplatzten Reifen zu – der Regen scheint immer stärker zu werden – sie hat keine Kraft und keine Erfahrung im Wechseln von Reifen. Also gibt sie auf. Verzweifelt begibt sie sich wieder ins Innere des Autos und lässt ihren Tränen freien Lauf . . .
Aus der Dämmerung taucht schemenhaft ein dunkles Etwas auf, das sich als ein Mann auf einem Pferd entpuppt – sieh sieht ihn im Rückspiegel langsam herankommen – und er bemerkt, dass mit dem Auto etwas nicht in Ordnung ist – er hält an – steigt bedächtig von seinem Pferd und klopft dann an die Scheibe. Die Frau, von einer Mischung aus Angst und Hoffnung bewegt, schaut den Mann an: Gross gewachsen, schwarze Haare, unrasiert, dreckige Kleidung, grobe Hände voller Kratzer . . . sie kurbelt ihr Fenster lediglich einen Finger breit nach unten.
„Können ruhig aufmachen. Senhora – brauchen keine Angst zu haben! Brauchen Sie Hilfe?“
Die Frau nickt.
„Wo ist das Ersatzrad“?
Sie deutet nach hinten – sagt „im Kofferraum“ und drückt dann auf den Knopf, der diesen Teil des Wagens von innen öffnet. Der Mann nimmt das Ersatzrad heraus, findet Schlüssel und Wagenheber und beginnt dann mit dem Radwechsel – wobei er die einzelnen Handgriffe mehr errät als aus Erfahrung vollzieht – schliesslich weiss ein Mann, der sein Leben lang nur mit Pferden und Landwirtschaft Umgang hatte, nicht besonders viel über solche Maschinen. Deshalb verrutscht ihm auch der Wagenheber und schlägt seine linke Hand gegen einen Stein – sie fängt an zu bluten. Die Frau, die ihn durchs Fenster beobachtet, spürt Mitleid – bedrückt öffnet sie die Wagentür.
„Bitte nehmen Sie dieses Papiertaschentuch! Wischen Sie sich das Blut von der Hand“!
„Danke, Senhora! Ist schon gut“!
Und er führt die blutende Hand an seine dreckige Hose und wischt das widerspenstige Blut ab – das rosafarbene Papiertaschentuch nimmt er nicht an.
„Senhora! Gehn Sie rein ins Auto! Es regnet und ist kalt! Da drin haben Sie’s warm! Gehn Sie rein . . .!
In diesem Moment bemerkt sie, dass der Mann vom Regen völlig durchnässt ist und folglich vor Kälte zittert. Sie geht in den Wagen zurück, öffnet dann das Fenster ein bisschen weiter und versucht ein Gespräch anzufangen.
„Wie heissen Sie“?
„Edmundo, Senhora“! Und Sie wohnen wo“?
„Ist nicht weit von hier – so’ne halbe Légua“!
Jetzt wusste sie aber immer noch nicht, ob das weit oder nahe war (denn diese antike Masseinheit ist der heutigen Generation nicht mehr geläufig). Sie bemerkte, dass es inzwischen stockdunkel geworden war und der Mann nur mit Hilfe der Autoscheinwerfer überhaupt noch etwas erkennen konnte – die Nacht war da und der Hunger machte sich bemerkbar.
„Ich bin aus der Hauptstadt, Senhor Edmundo! Hab mich entschlossen, allein zu reisen. Niemals zuvor hab ich sowas gemacht. Hab meinen Mann dortgelassen . . .wir haben uns gestritten . . .“
Die Frau hörte auf zu reden. Plötzlich waren Wogen der Gefühle über ihr zusammengeschlagen, und hemmungsloses Schluchzen erstickte ihre weiteren Worte. Langsam beruhigte sie sich wieder, ihr Schmerz liess nach, und sie fuhr fort, sich ihren Kummer von der Seele zu reden. So erfuhr Edmundo, dass ihr Mann sehr viel Geld besass und viele Besitztümer. Und Edmundo sah, dass er auch eine sehr schöne Frau hatte. Und erfuhr, dass sie nicht glücklich waren. Ihr Mann hielt sich mehr ausserhalb ihres Heims auf als drinnen – abgehalten von seinen Geschäften, seinen Freunden und seinen Geliebten. Und letztere waren diesmal der Grund ihrer Auseinandersetzung gewesen. Edmundo hörte nur solange zu, wie er für den Reifenwechsel brauchte. Die Frau lud ihn dann ein, ins Auto einzusteigen, denn sie wollte ihm noch mehr erzählen.
„Nein, Senhora, das kann ich nicht! Bin dreckig und vollkommen nass. Muss jetzt dringend weiter. Es ist bereits Nacht, und meine Frau erwartet mich . . . „!
„Ihre Frau, Edmundo ? Sie sind verheiratet“?
„Jawohl, Senhora! Und sehr gut verheiratet, mit Gottes Hilfe! Nun sehen Sie mal, wie’s auf der Welt zugeht: Während Sie vor Ihrem Mann abhauen, renne ich in die Arme meiner Frau . . . ist schon zwei Wochen her, dass wir voneinander getrennt sind . . . ich sterbe vor Sehnsucht! . . . Ich hab gearbeitet . . . “
„Was arbeiten Sie denn, Senhor Edmundo“?
„Ich arbeite auf dem Feld, Senhora! Pflanze Reis, Mais und Bohnen. In der Mitte pflanze ich Kürbis, Quiabo und Melonen . . . am Rand pflanze ich Süsskartoffeln, Maniok und Inhame . . . reicht zum Leben“!
Die Frau begriff, dass Edmundo es eilig hatte. Wollte seine liebe Frau wiedersehen. Es war Weihnachtsabend.
„Warum lassen Sie ihr Pferd nicht einfach hier und kommen mit mir? Ich fahr Sie wohin Sie wollen“!
„Das geht nicht, Senhora – nach Weihnachten muss ich zurück aufs Feld – und auf diesem Pferd. Wenn es hierbleibt, riskier ich, das Tierchen zu verlieren . . . “
„Senhor Edmundo, ich möchte Sie für ihre Arbeit bezahlen – wieviel schulde ich Ihnen“?
„Wieviel Sie mir schulden? Garnichts, überhaupt nichts, Senhora – hab ich nicht für Geld gemacht“!
„Aber Edmundo – ich hab Sie jetzt länger als eine Stunde aufgehalten! Wenn Sie nicht vorbei gekommen wären, sässe ich immer noch hilflos hier und vielleicht in Lebensgefahr . . . ausserdem haben Sie sich noch die Hand gequetscht! Bitte sagen Sie mir den Preis, und ich bezahle“!
„Nein, Senhora – Sie haben mir nichts zu bezahlen! Wenn man Gutes tut, sollte man nichts dafür verlangen. Vielmehr sollte man wünschen, dass das Gute weiter gegeben wird – ohne zu zögern! Das ist es, was ich denke, Senhora“!
Die Frau entnahm ihrer Brieftasche fünf Noten von je einhundert Reais und wollte sie Edmundo in die Hand drücken. Er sass bereits auf seinem Pferd.$
„Sehen Sie mal, Senhora! Machen Sie doch folgendes: Wenn sie finden, dass ich Ihnen etwas Gutes getan habe, dann geben Sie es weiter! Machen Sie jemanden glücklich“!
Dann schnalzte er mit der Zunge und sein Pferdchen setzte sich in Trab – sie verschwanden im Dunkel der Nacht. Die Augen der Frau füllten sich erneut mit Tränen. Aber nicht Traurigkeit war es, die sie jetzt fühlte, sondern Rührung über die Worte eines einfachen Bauern ohne Studium – vor dem sie anfangs sogar Angst gehabt hatte – und der ihr gerade eine Lektion erteilt hatte, die man nicht in Schulbüchern findet. Das Gute weitergeben.
„Ah – wenn das alle Menschen täten . . . „!
Sie betätigte den Anlasser – der Motor sprang sofort an, und als der Wagen anrollte, war kein unangenehmes Geräusch zu hören – sie musste jetzt einen Ort finden, an dem sie einen Happen essen konnte. Nach wenigen Kilometern schon entdeckte sie ein kleines Restaurant am Strassenrand. Sie ging hinein, steuerte auf einen freien Tisch zu und spürte sofort die gierigen Augen der Machos in ihrem Rücken. Eine so hübsche und gut angezogene Frau in so’ner Kaschemme! . . . Eine junge Kellnerin kam, um sie zu bedienen. Und sie dachte : Was kann man hier wohl bestellen, ohne sich den Magen zu verderben? Und sie sagte:
„Ich möchte eine Cola – und was für Früchte habt Ihr“?
„Früchte ? Senhora . . .“
„Jawohl Früchte! Ist schon zu spät für ‚was anderes – ich möchte Früchte“!
„Sehen Sie, Senhora, hier gibt’s keine Früchte. Aber wenn Sie einen Moment warten möchten, ich habe ein paar Bananen zuhause – ich wohn gleich da drüben, im Hinterhof des Restaurants“!
„Genau das möchte ich! Geh und hol sie für mich! Bananen mit Cola . . . „!
Die Kellnerin zeigte ein sympatisches Lächeln und machte sich auf, den Wusch ihres exzentrischen Gastes zu erfüllen. Sie brachte erst die Cola und verschwand dann, um die Bananen zu holen. Dabei hatte die Frau bemerkt, dass die junge Kellnerin nur langsam vorankam, sie hatte offensichtlich Schwierigkeiten beim Gehen. Sie schaute nochmal hin und entdeckte das Motiv: Schwangerschaft. Die Kellnerin war mindestens im achten Monat! Sie war einfach angezogen, trug aber eine grosse Schürze, hinter der sie den angeschwollenen Bauch verbarg. Ihr Gesicht aber zeigte stets ein zuvorkommendes Lächeln, das sie jedem Gast schenkte, der an sie das Wort richtete.
Die Frau war gerührt von der liebenswerten Art und Weise, mit der diese Kellnerin, schwanger und sicher müde, sogar an diesem Weihnachtsabend ihre Gäste bediente. Sie stellte sich vor, welche Not dieses arme Mädchen leiden musste, dass sie es nötig hatte, sich bis zum Ende ihrer Schwangerschaft einer solchen Arbeit zu unterwerfen. Sie hatte plötzlich keinen Hunger mehr.
Als die Kellnerin mit den Bananen zurück kam, fand sie auf dem besagten Tisch, unter dem Glas mit einem Rest Cola, fünf Banknoten zu je einhundert Reais. Und daneben, auf einem rosafarbenen Papiertaschentuch die Nachricht: „Danke für die nette Bedienung. Behalte dieses Geld. Es soll eine Hilfe für dein Baby sein, dass auf dem Weg in diese Welt ist. Sei glücklich und mache andere Menschen glücklich – gib das Glück weiter“!
Die Zuschauer, welche äusserst gespannt verfolgten, was an jenem Tisch geschah, entspannten sich wieder, als die junge Kellnerin ein breites, glückliches Lächeln aufsetzte. Und einer nach dem andern suchten sie wieder ihre gewohnten Ecken auf oder verabschiedeten sich – stets begleitet von einem „Gute Nacht – und ein fröhliches Fest“ der zukünftigen Mutter.
Unzählige Pläne, was sie mit dem vielen Geld alles machen würde, schwirrten ihr im Kopf herum, als sie sich jetzt an den Abwasch der vielen Gläser und Teller begab – das Geld war im richtigen Moment gekommen – und dann geschah noch ein kleines Wunder: Ihr sonst so mürrischer Arbeitgeber war in Weihnachtsstimmung:
„Lass die Arbeit für morgen – geh schlafen – Frohe Weihnachten“!
Ihr Zimmer befand sich im hinteren Bereich des Restaurants. Sie ging glücklich lächelnd – fühlte sich plötzlich leicht, trotz des Gewichts im Bauch. Langsam öffnete sie die Tür, um keinen Lärm zu machen. Dann nahm sie ein Bad und ging zum Bett – dachte an das viele Geld und die hinterlassene Nachricht dieser exzentrischen Frau. Diese Frau musste eine göttliche Eingebung gehabt haben, um zu spüren, wie sehr sie und ihr Mann dieses Geld gerade jetzt brauchten. In den paar Lichtstrahlen, die durchs Fenster fielen, betrachtete sie entzückt das Gesicht ihres schlafenden Mannes: Schwarze Haare, unrasiert. Die linke Hand auf der Decke mit einer frischen Platzwunde.
Die junge Kellnerin küsste ihn zärtlich und murmelte:
„Alles wird gut. Ich danke Dir, dass Du mich so glücklich machst, mein Liebling! Ich liebe Dich, Edmundo“!