Im Jahr 1992 kamen 111 Häftlinge bei der Erstürmung eines brasilianischen Gefängnisses ums Leben. Nun hat die Justiz geurteilt und 23 der beteiligten Militärpolizisten wegen Mordes verurteilt – die Haftstrafen von 156 Jahren werden sie aber nicht ganz absitzen. Die 23 Polizisten waren nach Auffassung eines Gerichts in Brasilia an dem sogenannten Massaker von Carandiru beteiligt.
Die Verurteilten bleiben noch in Freiheit. Grund ist, erst müssen alle Rechtsmöglichkeiten ausgeschöpft sein. Sollte das Urteil rechtskräftig werden, müssten sie aber höchstens 30 Jahren Gefängnis absitzen. Nach brasilianischem Strafrecht ist dies die Höchststrafe, länger dürfen Gefangene also nicht hinter Gittern.
Die Polizisten wurden wegen der Ermordung von 13 Gefangenen verurteilt. Drei Angeklagte wurden frei gesprochen. Die Richter verkündeten das Urteil in der Nacht zum Sonntag nach sechs Tagen intensiver Verhandlung. In dem Fall stehen in diesem Jahr noch weitere zwei Prozesse mit rund 50 Angeklagten an. Vor Gericht verantworten musste sich bisher einzig der damalige Polizei-Kommandant Ubiratan Guimarães. Er soll damals den Schiessbefehl gegeben haben. 2006 wurde er freigesprochen. Wenige Monate später wurde er von Unbekannten ermordet.
Am 2. Oktober 1992 hatte Hunderte Militärpolizisten das Gefängnis Carandiru im Norden São Paulos gestürmt, nachdem es dort zu Auseinandersetzungen zwischen Gefangenen und einer Revolte kam. Das Massaker wurde mehrfach in Büchern und Filmen dokumentiert.
Bis zu 1300 Gefangene in Carandiru getötet
Die Strafanstalt war zwischen 1956 und 2002 geöffnet. Nach aktuellen Schätzungen sollen in diesem Zeitraum in dem berüchtigten Gefängnis insgesamt 1300 Gefangene getötet worden sein. In anderen Gefängnissen herrsche dennoch ein miserabler Zustand, wie Bruno Shimizu, Leiter der Arbeitsgruppe Strafvollzug im Bundesstaat São Paulo der Deutschen Welle sagte: “Seit 1992 sind in Brasilien pro Jahr 40 Häftlinge durch die Gewaltanwendung von Beamten gestorben, das bedeutet alle drei Jahre ein Carandiru.“ Die tatsächliche Ziffer sei aber noch höher, denn darin seien andere Todesursachen wie mangelnde medizinische Versorgung nicht enthalten.
“Heute sitzen rund eine halbe Million Menschen in brasilianischen Gefängnissen – viermal so viele wie vor zehn Jahren“, berichtet Shimizu, der auch als Pflichtverteidiger arbeitet. Das liege auch daran, meint Amnesty-Chef Roque, dass das Gefängnis im Prinzip die einzige Strafe sei, die das Rechtssystem vorsehe.
Hilfe bekommen die Häftlinge ausgerechnet in Haft. Kurz nach dem Carandiru-Massaker gründeten sich hinter den Gefängnismauern kriminelle Organisationen, die Aufstände verhindern, den Crack-Handel einzudämmen versuchen und den “traditionellen“ Vergewaltigungen von Neuankömmlingen entgegenwirken. Sie lassen ihre Mitglieder jedoch auch in Freiheit nicht in Ruhe. Stellt sich jemand ihnen in den Weg, so lebt er gefährlich.
Der Leiter von Amnesty International Brasil (AI), Atila Roque erklärte: “Die späte Aufnahme des Carandiru-Verfahrens zeigt auch, dass es weiterhin eine enorme Akzeptanz für die Misshandlung von Gefängnisinsassen und Verbrechen gegen Straftäter gibt.“ Und mahnte auch die Justiz an, denn “40 Prozent der Häftlinge sitzen in Untersuchungshaft – viele von ihnen länger als ihre gesamte Strafe wäre“. Auch von den 111 Insassen in Carandiru waren 89 noch nicht verurteilt.
Der Prozess gegen die mutmasslichen Mörder der Revolte von Carandiru wird daran nichts ändern. “Carandiru wird ungesühnt bleiben“, glaubt Jurist Shimizu. „Eine Antwort auf die Menschenrechtsverletzungen wird es jedenfalls nicht geben.“