Und wieder springt der Reifen weg. Es waren nur Millimeter, die Angélica Kvieczynski daneben gegriffen hat. Doch diese Winzigkeit entscheidet eben. Rund fünf Meter war der glänzende Ring hinauf in die Luft geflogen, quer über die Gymnastikmatte hinweg. Unten am Boden hatte die Werferin mehrere Rollen geschlagen um ihn dann an einer exakt vorausberechneten Stelle wieder aufzufangen. Doch sie verfehlt ihn. Wie schon so oft zuvor.
Die mehrfache Medaillengewinnerin der Südamerikaspiele 2010 und 2014 sowie der pan-amerikanischen Spiele 2011 ärgert sich sichtbar. Die Trainingshalle ist ansonsten fast leer, niemand trainiert hier so hart und so lange wie sie. Angélica ist die Ikone der Rhythmischen Sportgymnastik in Toledo, dieser unscheinbaren Kleinstadt im äußersten Südwesten Brasiliens. Bis vor ein paar Jahren war sie nur für die erfolgreiche Landwirtschaft und ein Spanferkelfest überregional bekannt, inzwischen wird in der 120.000-Seelen-Gemeinde sogar ab und zu eine Landesmeisterschaft im Turnen abgehalten.
Disziplin, Ausdauer und viele Wiederholungen
Rhythmische Sportgymnastik bedeutet Disziplin, Ausdauer und viele Wiederholungen, hatte Kvieczynski nur ein paar Tage zuvor in einem Interview mit dem BrasilienPortal betont. Und getreu diesem Motto gibt sie ihrer langjährigen Trainerin Anita Klemann am Mattenrand ein Zeichen, die Musik wieder abzuspielen. Sie will den nur wenige Sekunden dauernden Bewegungsablauf dieser einen Figur in ihrer gut 90-sekündigen Präsentation erneut probieren. Jedes Detail muss einfach stimmen. Dafür trainiert sie bis zu acht Stunden täglich.
Und nicht nur mit dem Reifen. Auch die anderen Geräte müssen einstudiert werden. Der Ball, die Keulen, das Band! Vierfache Präzision und vollkommene Perfektion durch jahrelanges Training. Denn Südamerikas bekannteste Gymnastin tritt regelmäßig im All Around an, dem Gesamtwettkampf, wo die Noten aller vier Geräte zusammengerechnet werden. Der Trainingsplan richtet sich daher auch ganz nach der Ergebnissen. Kann der Schwierigkeitsgrad bei den Keulen an einer Stelle erhöht werden? Sollte sie mit dem Ball mehr das Publikum animieren, beim Band stärker den Blickkontakt mit den Punktrichtern suchen?
Anita Klemann stellt im nur wenige Jahre alten Leistungszentrum erneut die Musik ab, macht sich Notizen. Angélica nimmt den erneut heruntergefallenen Reifen auf und geht in Gedanken die Sequenz nochmal durch. Wieder und wieder. Bei einem Wettkampf gibt so ein Patzer mindestens einen Punktabzug. Wenn das Gerät durch die Eigendynamik von der Matte fliegt, sogar Strafpunkte. Fehler vermeiden, die Jury beeindrucken, das Publikum begeistern. Rhythmische Sportgymnastik ist eine Disziplin voller Herausforderungen. Und auch wenn man denkt, es mit einer Randsportart zu tun zu haben, die Konkurrenz ist stark und der Nachwuchs motiviert. Vor allem in Osteuropa, der Wiege dieser Sportart.
Der Kampf um die begehrten Startplätze bei den wichtigen Turnieren wird daher auch mit grössten Anstrengungen geführt. Zwei Jahre vor Olympia erst Recht. Nur wer jetzt gut ist, kann bei den World Cups und der Weltmeisterschaft teilnehmen, die wiederum die Chance bieten, sich bei den vorolympischen Wettbewerben einzuschreiben. Und mit fehlerfreien Präsentationen, aufwändigen Kostümen und einem strahlendem Lächeln die Tür für Rio de Janeiro 2016 ein bisschen weiter zu öffnen.
Letzte Olympia-Chance für 22-jährige
Athletin und Trainerin wissen, dass es die letzte Chance ist. Nur wenige Tage nach der Olympiade wird Kvieczynski 25 Jahre alt. Mehrere Operationen hat sie schon hinter sich, der Leistungssport fordert vom Körper seinen Tribut. Ihr großer Vorteil ist jedoch die Erfahrung, mit der sie der teilweise deutlich jüngeren Konkurrenz die Stirn bieten will. Auch wenn das Lampenfieber bei den Wettbewerben nie ganz verschwindet, Kvieczynski hat in den vergangenen zehn Jahren jedoch gelernt, besser mit dem Druck umzugehen. Sie ging oft genug leer aus, stand jedoch auch immer wieder ganz oben auf dem Treppchen.
Olympia 2016 ist der große Traum der 22-jährigen. Für die Sommerspiele im eigenen Land will sie sich auf jeden Fall qualifizieren, auch wenn Brasilien als Gastgeber einen Startplatz sicher hat. Und der brasilianische Gymnastikverband CBG an einer Nominierung Kvieczynskis wohl kaum vorbeikommen dürfte. Die stärkste Konkurrenz im eigenen Land, Natalia Gaudio aus Vitória im Bundesstaat Espírito Santo, wird vermutlich nur bei einer Verletzung der Südbrasilianerin ins olympische Teilnehmerfeld rutschen.
Doch bis dahin gilt es noch zahlreiche nationale und internationale Wettkämpfe zu bestreiten. Und unzählige Trainingseinheiten. Von den Metallwänden des Leistungszentrums hallen einmal mehr die Befehle der Trainerin wider. Sie sind knapp, sehr bestimmend und nicht selten auch mit einem ärgerlichen Unterton versehen. Zwei Perfektionistinnen bei der Arbeit. Kvieczynski nickt unmerklich, dann setzt die Musik wieder ein. Ein weiteres Mal wirft sie den Reifen hoch in die Luft. Als wolle sie damit das olympische Feuer einfangen. Sie lächelt dabei.