Andreas Wunn hat sein neuestes Buch „Brasilien für Insider“ genannt. Der Brasilien-Korrespondent des ZDF versteht es gemäß dem Untertitel als „Nahaufnahme eines Sehnsuchtslandes“. Damit sollten eigentlich alle Fakten geklärt sein. Doch wie tief kann der Leser tatsächlich in das Lebensgefühl und die Kultur dieses riesigen Landes eintauchen? Schon viele Autoren haben in den vergangenen Jahren oder Jahrzehnten versucht, Brasilien intensiv zu beschreiben. Viele sind daran gescheitert, haben sich bereits am Titel verhoben.
Wer länger in Brasilien lebt – und der Autor dieser Zeilen darf mittlerweile auf fast ein ganzes Jahrzehnt zurückblicken – der weiß: die pulsierenden Megametropolen, der schier undurchdringliche Regenwald oder die endlose Küste lassen sich nicht zwischen zwei Buchdeckel sperren. Kleine Fetzen der unglaublichen Vielfalt kann man vielleicht einfangen und niederschreiben. Ein Gesamtbild jenseits der allgegenwärtigen Superlativen und Klischees kann man damit jedoch nicht schaffen.
Glücklicherweise erhebt „Brasilien für Insider“ diesen Anspruch auch gar nicht. Für Wunn beginnt der „große Versuch, Brasilien zu erklären“ mit einer kleinen Entdeckungsreise. Er baut seinen Trip durch das Land der Gegensätze letztendlich auf 224 spannende, unterhaltsame und manchmal auch sehr nachdenklich machende Seiten aus. Das Werk sei, so der Autor bescheiden in der Einleitung, eine Summe journalistischer Momentaufnahmen gepaart mit Alltagserfahrungen.
Doch in Wahrheit ist es schon ein wenig mehr. Es ist ein durchaus realistischer Einblick, von dem sich deutlich mehr ableiten lässt, als man vielleicht ahnt. Das mag bei der Beschreibung der Strandmode an der Copacabana beginnen und beim Kampf der Umweltschützer in den Tiefen des Amazonas enden. Nach außen hin um Karneval, Feijoada und Fußball gehen. Religion, Musik und die urwüchsige brasilianische Mentalität zum Thema haben. Aber in Wirklichkeit geht es um nichts anderes als das Leben in einem Land, welches Jahr für Jahr stärker zwischen Traditionen und Globalisierung gefangen scheint und nun seinen eigenen Weg sucht. Den brasilianischen Weg.
Brasilien ist noch ein vergleichsweise ruhiger Vulkan, in dessem Inneren es jedoch heftig brodelt. Wunn erzählt von den gefährlichen Schwefeldämpfen und dem drohenden Ausbruch jedoch nur zwischen den Zeilen. Auch wenn ein Kapitel den Massendemonstrationen im Juni vergangenen Jahres gewidmet ist, verzichtet der Journalist darauf, bei jeder unterhaltsamen Anekdote mahnend den Zeigefinger zu heben und penetrant auf die Schattenseiten und Gefahren hinzuweisen. So wie es die Brasilianer handhaben. Mit Verdrängen hat das nur wenig zu tun. Es bestimmt das brasilianische Lebensgefühl zwischen Freude und Leid seit Jahren von Grund auf. Und es tut auch dem Buch mehr als gut.
„Brasilien für Insider: Nahaufnahme eines Sehnsuchtslandes“ (Heyne-Verlag, 224 S., ISBN: 978-3-453-20057-9, 14.99 Euro) mag vielleicht niemanden dazu verleiten, sofort seine Koffer zu packen. Aber es trägt durchaus dazu bei, das Land und seine Menschen ein bisschen besser zu verstehen. Auch für WM-Touristen bietet es eine gute Einstimmung auf das bevorstehende Turnier. Und selbst wenn es einen Reiseführer keinesfalls ersetzt, als kurzweilige Lektüre während des langen Fluges an den Zuckerhut ist es ohne Frage zu empfehlen.
Eine Rezension von Dietmar Lang