Vorerst wird es keinen Prozess gegen Brasiliens Präsident Michel Temer geben. Die Mehrheit der Abgeordneten hat sich am Mittwochabend (2.) gegen eine Weiterleitung der Korruptionsanklage an das Oberste Gericht ausgesprochen. Damit wird der Vorgang im Kongress archiviert.
Knapp zwölf Stunden haben die Abgeordneten am Mittwoch getagt, bis das Ergebnis feststand. Begleitet war die Sitzung von einigen tumultartigen Szenen. Ähnlich wie bei der Sitzung zum Amtsenthebungsverfahren gegen Ex-Präsidentin Dilma Rousseff gaben auch dieses Mal die Abgeordneten ihre Stimmen einzeln am Mikrophon ab. Immer wieder wurden als Argumente gegen den Prozess die sich erholende Wirtschaft und anstehende Reformen vorgebracht.
Etliche räumten ein Vergehen Temers zwar ein, wollten aber von einem Prozess nichts wissen. Der sei zum jetzigen Zeitpunkt nicht angebracht, sagten sie. Andere wollten ein Zeichen gegen die „Linke“ und die Arbeiterpartei PT der Ex-Präsidenten Lula und Rousseff setzen. Was Brasilien bremst ist nicht der Prozess, sondern die Straffreiheit der Korruption, hieß es hingegen von der Gegenseite bei der live via Fernsehen in alle Haushalte Brasiliens übertragenen Abstimmung.
Vorgeworfen wird Temer von der Generalstaatsanwaltschaft passive Korruption. Er wird beschuldigt, vom international tätigen Fleischkonzern JBS Schmiergeld erhalten zu haben. Untermauert werden die Anschuldigungen durch Gesprächsmitschnitte zwischen Temer und JBS-Teilhaber Joesley Batista. Darüber hinaus wurde Temers Vertrauensmann Rocha Loures bei der Übergabe einer halben Million Reais gefilmt.
263 Abgeordnete sprachen sich dennoch dagegen aus, die Anklage an den Obersten Gerichtshof STF weiterzuleiten, zwei haben sich der Stimme enthalten, 19 waren nicht anwesend. Für einen Prozess haben hingegen 227 der Abgeordneten gestimmt. Damit dieser tatsächlich eingeleitet wird, wäre jedoch eine Zweidrittelmehrheit von 342 Stimmen notwendig gewesen. Die wurde weit verfehlt. Die Diskrepanz zwischen Befürwortern und Gegnern ist jedoch mit nur 36 Stimmen überraschend gering ausgefallen.
Stimmenkauf
Das Spiel um die Macht hat den Brasilianern nicht nur Nerven gekostet. Um seinen Hals zu retten, hat Temer im Vorfeld unermüdlich “Überzeugungsarbeit“ geleistet, Posten verschachert, trotz rigorosem Sparkurs und Milliardenhaushaltsloch Vertrauensstellen geschaffen und Milliarden für “emendas“ freigegeben.
Dahinter verbergen sich Finanzmittel für Projekte in den Wahlkreisen der Abgeordneten. Per Gesetz ist dies vorgesehen. Allerdings ist der überwiegende Teil an Politiker gegangen, deren Zustimmung sicher gestellt werden sollte.
Die Opposition wirft Temer einen “Stimmenkauf“ vor. Allein im Juni und Juli hat dieser über vier Milliarden Reais (umgerechnet derzeit etwa 1,1 Milliarden Euro) für Projekte zur Verfügung gestellt. In den fünf ersten Monaten des Jahres, und somit vor der offiziellen Anzeige im Juni, waren es hingegen lediglich 102 Millionen Reais (etwa 28 Millionen Euro).
Bei den Brasilianern hat dies alles keinen guten Eindruck hinterlassen. Beim Volk ist Temer so unbeliebt, wie kein Präsident zuvor. Bei einer Studie des Institutes Ipsos Public Affairs hat er von 94 Prozent die rote Karte erhalten.
Das Ergebnis offenbart zudem einmal mehr einen gigantischen Abgrund zwischen Kongress und Volk. Die Mehrheit der Volksvertreter scheint die Stimme und Wünsche ihrer Wähler nicht wirklich ernst zu nehmen. Nach einer von der Organisation Avaaz beim brasilianischen Unternehmen Ibope in Auftrag gegebenen und am Montag (31.) veröffentlichten Umfrage hatten sich 81 Prozent für die Eröffnung eines Prozesses gegen Temer ausgesprochen. Nur 14 Prozent waren dagegen.
Temer selbst scheint dies nicht wirklich anzufechten. Wenige Minuten nachdem das Ergebnis feststand meldete er sich mit einer Ansprache zu Wort. Die Säulen der Demokratie hätten gesiegt, so der Präsiden. Er vermied es dabei wie gewohnt, die Anschuldigungen gegen ihn zu erwähnen oder abzustreiten. Stattdessen verwies er auf die sich leicht erholende Wirtschaft.
Die Bevölkerung zeigte sich indes wenig begeistert von dem Sitzungsausgang. Noch während Temer versuchte, Aufbruchstimmung zu vermitteln, wurde dessen im Fernsehen ausgestrahlte Ansprache in den sozialen Netzwerken mit hunderten von Kotz-Smileys quittiert. Die haben auch in kürzester Zeit Temers offizielle Facebookseite überflutet.
Ihren Unmut haben ebenso tausende Menschen auf den Straßen São Paulos und Florianópolis bei spontanen Demonstrationen gegen Temer, gegen die Korruption und für Neuwahlen kundgetan. In Porto Alegre wurde mit einem “Panelaço”, Töpfeklappern, protestiert.
Weitere Anschuldigungen
Der Präsident kann sich trotz seines Abstimmungserfolges nicht in Sicherheit wiegen. Oberster Richter Edson Fachin wird in den kommenden Tagen entscheiden, ob ein Prozess gegen ihn nach dem offiziellen Ablauf seiner Amtszeit im Januar 2018 eröffnet wird und die Ermittlungen bis dahin lediglich suspendiert werden.
Generalstaatsanwalt Rodrigo Janot hat darüber hinaus schon im Juni angekündigt, dass es weitere Anzeigen geben wird. Zumindest eine scheint er bis September vorlegen zu wollen, bevor er sein Amt an seine Nachfolgerin Raquel Dodge übergibt. In dieser wird Temer Justizbehinderung und im Zusammenhang von Schmiergeldern die Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen. Gestützt sind die Vorwürfe auf verschiedene Kronzeugenaussagen.
Mit dem für Temer positiven Abstimmungsergebnis bewegt sich der Präsident jedoch zumindest im Kongress auf einem etwas sicherem Eis. Die Mehrheit der Abgeordneten hat ihm ein Vertrauensvotum ausgesprochen. Ob dies ausreicht, um die angekündigten Reformen durchzusetzen, wird sich aber noch zeigen müssen.