Am Nachmittag des 5. November 2015 sind die Menschen von Bento Rodrigues, Paracatu de Baixo und Barra Longa um ihr Leben gelaufen, um sich vor herannahenden Schlammassen zu retten. Heute, zwei Jahre danach, leiden sie immer noch unter der Tragödie, die der Dammbruch des Eisenabbauunternehmens Samarco ausgelöst hat.
Es war ein friedlicher Nachmittag. Bis Anwohner mit dem Motorrad durch die Dörfer gefahren sind und alle zum Verlassen der Häuser aufgerufen haben, um auf höher gelegenen Hängen Schutz zu suchen. 19 Männer, Frauen und Kinder haben es nicht geschafft. Unter den Opfern waren ebenso Mitarbeiter des Bergbauunternehmens, die zum Zeitpunkt des Unglücks am Damm gearbeitet haben.
Seit den 70er Jahren hat das Unternehmen Samarco im Munizip Mariana Eisenerz abgebaut. Gewonnen wurde es mit Hilfe eines Auswaschverfahrens. Das dabei verwendete Wasser wurde anschließend gemeinsam mit dem Abraumschlamm aufgestaut.
Am 5. November 2015 ist der Damm jedoch gebrochen. Der Aufbau des einfachen Dammes, ein zu hoher Druck, größere Mengen als zugelassen und Arbeiten am Damm sollen die Katastrophe mit dem erschreckenden Ausmaß ausgelöst haben, der größten Umweltkatastrophe in Brasiliens Geschichte.
Ein Tsunami von über 40 Millionen Kubikmeter Abraumschlamm aus dem Abbau von Eisenerz hat sich als erstes über das unterhalb des Dammes gelegene Bento Rodrigues ergossen und Häuser, Schulen, Kirchen und auch Menschen unter sich begraben. In ein Schlammfeld verwandelt haben sich ebenso Paracatu de Baixo und Teile von Barra Longa. Sirenen, mit denen vielleicht Tot hätten vermieden werden können, sind keine erschallt, weil es kein ausreichendes Warnsystem gab.
Seit sich die Katastrophe vor zwei Jahren ereignet hat, sind 200 Familien ohne feste Bleibe. Sie wurden in Notunterkünften untergebracht und erst nach Monaten des Wartens in von Samarco angemieteten Wohnungen in der nahe gelegenen Stadt Mariana. Zwei der Dörfer sollen andernorts wieder aufgebaut werden. Der Entschluß dazu ist gemeinsam mit den Betroffenen gefällt worden.
Die Grundstücke hat die, von der nach dem Desaster von der Samarco und ihren Inhabern (die brasilianische Vale und die australianische BHP Billiton) gegründete Stiftung Renova mittlerweile erstanden. Allerdings gibt es damit Probleme.
Dort, wo das neue Bento Rodrigues einmal entstehen soll, ist nach den von Renova vorgelegten Plänen der Bau von Häusern in Risikogebieten wie an Steilhängen vorgesehen sowie in dem geschützten Atlantischen Regenwald. Darüber hinaus ist das Gebiet nur zwei Kilometer von einer Müllhalde entfernt. Eingeschaltet hat sich deshalb die Umweltbehörde Ibama.
Einige der ehemaligen Dorfbewohner fürchten zudem um ihre Sicherheit, weil die ausgewählte Region zu isoliert sei, wie sie sagen. In Aktion getreten ist auch das Staatsministerium. Das will eine Beteiligung der Betroffenen an den Bauprojekten garantieren und kritisiert, dass das Bergbauunternehmen lediglich ein einziges Hausmodell durchsetzen will ganz abgesehen vom Bau in Risikogebieten. Laut Zeitplan sollen die neuen Dörfer bis Juni 2019 endlich aufgebaut sein und das provisorische Leben enden. Bisher sind die Zeitpläne allerdings nie eingehalten worden.
In Barra Longa prägen auch noch nach zwei Jahren die Schwerfahrzeuge das Dorfbild, die für den Wiederaufbau notwendig sind. Mit jeder Fahrt wirbeln sie den zu Staub getrockneten Schlamm auf. Auch wenn die Bewohner Türen und Fenster stets verschlossen halten, dringt der Staub dennoch in ihre Schlaf-, Wohnzimmer und Küchen ein und hinterlässt seine Spuren. Eine Folge davon ist die Zunahme von Atemwegsproblemen.
Viele der Menschen, die durch den Dammbruch Bleibe, Arbeit, Lebensunterhalt verloren haben, kämpfen noch heute um die ihnen zustehenden Entschädigungszahlungen. Laut Samarco sollen indes bereits 2,5 Milliarden Reais (umgerechnet derzeit etwa 660 Millionen Euro) ausgezahlt worden sein.
Doch auch dazu gibt es Streit. Die von der Renova an die Betroffenen ausgeteilten Fragebögen zur Berechnung des Wertes sollen irreführende Fragen enthalten haben. Manche der Betroffenen wurden gar nicht erst als solche eingestuft, wie es heißt. Von anderen werden die Kalkulationen angezweifelt, bei denen etliche laut Staatsministerium nicht zulässige Abschläge vorgenommen wurden.
Die Zahl der von der größten Umweltkatastrophe Brasiliens Betroffenen ist enorm. Nach den drei Dörfern hat sich der mit Schwermetallen angereicherte Schlamm weiter flussabwärts gewälzt. Über zwei Wochen hinweg hat er eine Strecke von mehr als 600 Kilometern bis hin zur Mündung des Rio Doce ins Meer zurückgelegt und dabei seine bis heute zerstörerischen Spuren hinterlassen.
Regência ist ein Beispiel dafür. Wer dort vom einst fischreichen Fluss gelebt hat, muss jetzt mit von der Samarco geleisteten Ausgleichszahlungen in Höhe von 1.200 Reais (etwa 320 Euro) im Monat auskommen. Zahllose Fischer sind durch den Schlammtsunami von heute auf Morgen arbeitslos geworden. Auch nach zwei Jahren ist Fischerei im Fluss und nahe der Meeresmündung nach wie vor verboten.
Das hat seinen Grund. Nach einer Studie der Universität von Espírito Santo (Ufes) sind die Schwermetalle im Wasser der Flußmündung erhöht. Die Forscher haben im Durchschnitt doppelt so hohe Eisenwerte nachgewiesen, wie vor der Tragödie. Die Aluminumwerte sind viermal und die Manganwerte dreimal so hoch.
Etliche Städte entlang des Rio Doce haben vor dem Dammbruch mit Hilfe des Rio Doce ihre Trinkwasserversorgung sichergestellt. Jetzt kann das Wasser nur dann getrunken werden, wenn es vorher speziell behandelt wurde. Die Behörden und Samarco sagen,das behandelte Wasser sei unbedenklich. Viele Anwohner schenken dem keinen Glauben. Ärzte berichten von einer Erhöhung der Zahl von Nierenerkrankungen.
Der durch den Dammbruch freigesetzte Abraumschlamm prägt noch immer den Flusslauf und den Mündungsbereich im Meer. Am Oberlauf des Rio Doce hat die sich am Flussbett abgesetzte Schlammschicht eine Tiefe von teilweise 3,70 Metern. Von ihm bedeckt sind auch die Uferbereiche. Regnet es, wird der alles erstickende Schlamm durch die stärkere Strömung wieder aufgewirbelt.
Darüber, ob er letztlich entfernt oder einfach an Ort und Stelle belassen werden soll, wird immer noch diskutiert. Durch das Abgraben und die damit einhergehende erneute Freisetzung des Schwermetallhaltigen Schlammes könnte ein noch größerer Umweltschaden entstehen, so die Skeptiker.
Kaum wahrgenommen werden die an einem Abschnitt des Flusses lebenden Indios. Ihnen wurde der Lebensquell zerstört, der Nahrung und Trinkwasser geliefert hat.
Die Stadt Anchieta hat der Schlamm nicht erreicht. Dennoch wirkt sich der Dammbruch auch dort aus. In der Stadt liegt der Hauptsitz der Samarco. Das bei Mariana gewonnene Eisenerz wurde bis zum Tag des Dammbruchs über eine 400 Kilometer lange Rohrleitung in das Werk in Anchieta gebracht und weiter dort verarbeitet. Seit zwei Jahren stehen die Öfen indes still. Von den einst 1.260 Mitarbeitern wurde die Hälfte entlassen.
Die verbliebenen Mitarbeiter beschränken sich auf die Aufgabe, die Anlagen vor dem Verrosten zu bewahren. Ausstellungen hat es auch bei den Zuliefererfirmen gegeben. Im Hafen der Stadt legen nur noch wenige Schiffe an. Bis November 2015 waren es hingegen etwa 200 im Jahr. Über sie wurde das Eisen transportiert und exportiert.
In Mariana müssen nicht nur Unternehmen Einbußen hinnehmen. Seit dem Unfall sind die Steuereinnahmen des Munizips drastisch gesunken. Die Rede ist von 60 bis 70 Millionen Reais (etwa 16 bis 19 Millionen Euro) im Jahr. Samarco war einer der Hauptsteuerzahler Marianas, des am stärksten betroffenen Munizips.
Schwer zu messen sind die verursachten Umweltschäden. Zerstört wurde die Fischwelt des Rio Doce. Am Mündungsbereich legen Meeresschildkröten ihre Eier ab. Das haben sie auch zu dem Zeitpunkt getan, als der Schlamm die Strände dunkel gefärbt hat. Ob und wie sie dadurch betroffen wurden, ist noch unbekannt.
Kaum abzuschätzen sind auch die langfristigen Auswirkungen der Schwermetalleinträge über die Nahrungskette hinweg, von Kleinstlebewesen über den Fisch bis hin zum Vogel und anderen Tieren oder vom Plankton bis hin zu den Walen, die jährlich unweit der Mündung des Rio Doces zur Paarung und Geburt ihrer Jungen eintreffen.
Dass sich die Natur schnell von der Katastrophe erholen wird, davon wird nicht ausgegangen. Kuriakin Toscan von der brasilianischen Umweltbehörde Ibama rechnet vielmehr mit 20 oder mehr Jahren, bis Wasserläufe, Quellbereiche und Vegetation wieder im Gleichgewicht sind.
Samarco und mit ihr die Vale und BHP Billiton wehren sich hingegen gegen die wegen des Dammbruchs, der Schäden und Versäumnisse auferlegten Bußgelder vor Gericht. Lediglich eins der 45 Bußgelder haben sie anerkannt und mit dessen Bezahlung begonnen.
Das beträgt 127 Millionen Reais (etwa 34 Millionen Euro), die in 60 Raten abgestottert werden können. Angezweifelt werden von dem Bergbauunternehmen auch einige der bei Prozessen vorgelegten Beweise. Angesichts der gigantischen Katastrophe und der 19 Todesopfer wurden 21 Personen angeklagt. Alle sind bis heute auf freiem Fuß.