Seit drei Monaten ermittelt die Polizei Rio de Janeiros im Mordfall der Stadträtin und Menschenrechtlerin Marielle Franco – bisher ergebnislos. Während die versprochene, schnelle Aufklärung auf sich warten lässt, demonstrieren Angehörige, Freunde und Menschenrechtler beinahe täglich vor den Gebäuden der Ermittlungsbehörden.
Am 14. März sind Marielle Franco und ihr Fahrer Anderson Gomes im Zentrum von Rio de Janeiro auf der Heimfahrt von einem Event kaltblütig erschossen worden. Vieles deutet daraufhin, dass Milizen ihre Finger im Spiel haben, hat Verteidigungsminister Raul Jungmann schon wenige Tage nach der Tat verkündet. Die Schüsse waren zielgenau abgegeben worden und haben trotz verdunkelter Fensterscheiben ihre Opfer in die Köpfe getroffen und sofort getötet. Die Rede ist von einer Professionalität, über die nur wenige verfügen.
Seitdem laufen die Ermittlungen auf Hochtouren und unter dem Siegel der Verschwiegenheit. Hin und wieder sickern dennoch Informationen an die Presse durch, wie die über einen mutmaßlichen Zeugen. Der soll einer der in vielen Favelas Rio de Janeiros agierenden Milizen angehört haben und Polizist sein. Er hat den mutmaßlichen Kopf einer Miliz als einen der Hintermänner des Verbrechens denunziert.
Der sitzt wegen illegalen Waffenbesitzes in Haft. Die Anschuldigungen im Zusammenhang mit dem Mord an Marielle und ihrem Fahrer Anderson Gomes, streitet er ab. Das tut auch der Stadtrat, der von dem Zeugen als Auftraggeber des Verbrechens genannt worden ist.
Mittlerweile treten Zweifel auf, ob die durchgesickerte Zeugenaussage nicht gezielt gestreut worden ist, um die Aufmerksamkeit von zwei anderen Politikern abzulenken, zwei Brüder. Einer von ihnen ist ebenso Stadtrat und der andere Ex-Abgeordneter und derzeit wegen Korruptionsverdacht von seinem Posten als Mitglied der Rechnungsprüfung TCE des Bundesstaates Rio de Janeiros suspendiert. Auch sie streiten ab.
Macht der Milizen
Marielle, die Vergehen von Polizisten, Soldaten und Milizen angeprangert hat, soll den Milizen in die Quere gekommen sein. Die gewinnen in der Stadt am Zuckerhut immer stärker an Boden. Nach Schätzungen haben sie im Bundesstaat Rio de Janeiro in 160 Stadtteilen und Favelas die Vorherrschaft.
Ähnlich wie die in anderen Vierteln herrschenden Drogenbanden fordern auch sie Zahlungen für die Sicherheit, kontrollieren die Regionen und ebenso den Verkauf von Trinkwasser, Gas, TV-Signal und den Personentransport. Etwa zwei Millionen Menschen sind allein im Großraum von Rio de Janeiro von ihrem Terror betroffen.
Neben ihrem Agieren in den Stadtteilen versuchen die Milizen, in der Politik Einfluß zu gewinnen. Seit 2007 sind mindestens fünf Stadträte und Abgeordnete Rio de Janeiros wegen Verwicklungen mit Milizen verhaftet worden. Der Versuch der Einflußnahme geschieht aber nicht nur über die Unterstützung oder Aufstellung von Kandidaten für öffentliche Ämter.
Zwischen 2015 und 2018 sind mindestens 13 Stadtratskandidaten umgebracht worden, die Mehrzahl von ihnen in von Milizen kontrollierten Gebieten. Ermordet wurde auch die Richterin Patrícia Acioli (2011). Sie hatte die paramilitärischen Gruppen und Überschreitungen von Polizisten rigoros bekämpft.
Marielle Franco hat 2008 als Assistentin des Abgeordneten Marcelo Freixo aktiv bei der Untersuchungskommission „CPI das Milícias“ mitgewirkt. Bei der wurden 226 Personen indiziert, unter ihnen Polizisten, Angehörige des Militärs, Stadträte und Zivile.
Einige von ihnen wurden verurteilt. Andere zirkulieren noch heute ungehindert in der Stadtratskammer Rio de Janeiros. Freixo lebt seit dieser Zeit mit Sicherheitskräften, die ihn rund um die Uhr bewachen.
Nach Medienberichten sind Mitglieder von Milizen auch kurz vor dem Mord an der Menschenrechtlerin in der Stadtratskammer gewesen. Belegt wird dies mit Aufnahmen von Sicherheitskameras. Offizielle Stellungnahmen dazu gibt es nicht. Mehrere Stadträte wurden dennoch vernommen und deren Telefongeheimnis richterlich gelüftet. Geschehen ist dies auch, weil in einem anderen Mordfall ein Handy mit Gesprächsnotizen zwischen Milizmitgliedern und anderen gefunden worden ist.
Der Mordfall, wie auch zwei weitere, könnten mit dem von Marielle und Anderson in Verbindung stehen. Medien berichten davon, dass Zeugen aus dem Milizenumfeld zum Schweigen gebracht werden sollten. Noch gibt es dazu jedoch keine konkreten Hinweise.
Trotz Ermittlungsfortschritte viele offene Fragen
General Walter Braga Netto sagt, dass die Ermittlungen gut vorangehen, was noch fehle seien Beweise. Genau darin sieht Anwalt João Tancredo ein Problem. Eigentlich würden in einem Rechtsstaat zuerst Beweise gesammelt und dann eine Anklage gestellt oder ein Verdächtiger festgenommen und nicht umgekehrt, kritisiert er.
Kritik zu den Ermittlungen gibt es vielerseits. Zeugen berichten, dass sie vom Tatort vertrieben worden sind. Andere Zeugen wurden erst nach Wochen gehört. Bei der mutmaßlichen Tatwaffe waren vorschnelle Lösungen präsentiert worden. Zunächst hieß es, eine Pistole 9mm sei verwendet worden. Das wurde Wochen später revidiert. Es sei wahrscheinlich ein Maschinengewehr HK MP-5 gewesen, hieß es nach der Tatnachstellung vom 11. Mai.
Dass ein Maschinengewehr völlig andere Einschußspuren hinterlässt, darauf wurde nicht eingegangen. Es müssten erst die Ergebnisse der Tatnachstellung abgewartet werden, hieß es stattdessen. Seitdem sind auch schon wieder Wochen vergangen.
In denen sorgte ein anderes Problem für Aufsehen, das von dem Verschwinden von Waffen und Muniton aus den Arsenalen der Sicherheitskräfte des Staates. Von der fast ausschließlich von der Polizei Rio de Janeiros verwendeten HK MP-5 sind in den vergangenen Jahren gleich mehrere spurlos aus dem Arsenal verschwunden.
Gleiches gilt für die 9-Kaliber-Muniton. Wie kurz nach dem Mord von Marielle bekannt geworden ist, stammt die verwendete Munition von einer schon im Jahr 2006 an die Bundespolizei gegangene Lieferung. Auch von der sind Unmengen abgezweigt worden.
Genaue Aussagen sind allerdings schwierig. Theoretisch dürfen pro Lote Munition nur 10.000 Patronen die gleiche Markierungsnummer tragen. Von der betroffenen Lote UZZ18 wurden indes über 1,8 Millionen Patronen mit der gleichen Nummer versehen.
Aus der UZZ18 stammt auch die Munition, die bei der „chacina“ von Osasco und Barueri in São Paulo verwendet wurde. Bei der sind nach dem Tod eines Polizisten in einer Nacht auf der Straße und in Bars 17 Menschen erschossen worden.
Kopfzerbrechen um den Mord an Marielle geht weiter
Bis jetzt gibt es noch kein aussagekräftiges Motiv für den Mord an Marielle Franco, sagt ihr Parteikollege Marcelo Freixo. Die Untersuchungskommission über Milizen liegt zehn Jahre zurück. Angesichts ihrer niedrigen Stimmenzahl in den von den Milizen kontrollierten Gebieten, wackelt auch dieses Argument.
Noch hoffen Verwandte und Freunde dennoch darauf, dass die Verantwortlichen für das Verbrechen bald gefunden und sie zur Rechenschaft gezogen werden. Auch durch das internationale Aufsehen stehen die Ermittlungsbehörden unter Druck. Bei der großen Mehrzahl der Verbrechen ist dies nicht der Fall. Etwa 92 Prozent aller in Brasilien verübten Mordfälle werden ungelöst archiviert oder bleiben ohne Verurteilungen.