Am Sonntag (7.) wird in Brasilien über die politische Zukunft des Landes der nächsten vier Jahre abgestimmt. Erstmals werden die Wahlen dabei zu “Nein-Wahlen“. Auf der einen Seite sind die Brasilianer, die verhindern wollen, dass der ultrarechte Jair Bolsonaro gewinnt, auf der anderen diejenigen, die um jeden Preis einen weiteren Präsidenten aus den Reihen der Arbeiterpartei PT vermeiden wollen.
Eigentlich sollte bei der Auswahl eines möglichen Präsidentschaftskandidaten dessen Programm im Vordergrund stehen. In Brasilien zeichnet sich hingegen eine Nein-Wahl ab. Statt dem bevorzugten Kandidaten die Stimme zu geben, wollen viele Brasilianer mit einer Proteststimme vermeiden, dass der eine oder andere Spitzenkandidat ins Amt gewählt wird.
Auch die Politiker selbst setzen beim Stimmenfang weniger auf Wahlversprechen. Versucht wird vielmehr, Mitkandidaten zu deskreditieren. Das zieht sich sowohl durch das Pflichtprogramm der Wahlpropaganda via Fernseher und Radio als auch durch die sozialen Netzwerke. Die sind voll mit Memes, Verunglimpfungen und der blinden Bejubelung einzelner Kandidaten.
Die Probleme Brasiliens scheinen hingegen vergessen. Finanzkrise, leere Rentenkassen, 12 Millionen Arbeitslose, über 20 Millionen in Armut lebende Menschen, über 60.000 Todesopfer durch Gewalt pro Jahr, ein unzureichendes Bildungssystem und ein marodes, öffentliches Gesundheitssystem, bei dem viele Kranke in der Warteschlange sterben, werden mit Pauschalrezepten bedacht, die kaum über das “Wir werden das ändern“ hinausgehen.
Auch die Wähler selbst scheinen nicht viel von der Politik wissen zu wollen. Vorherrschend ist die Atmosphäre eines Fußballstadions. Gebildet haben sich Fanclubs Bolsonaros und Fanclubs der Arbeiterpartei PT, die ihre Idole bedingungslos anfeuern. Da helfen auch nicht die eiligst geschaffenen Apps, mit denen der Wähler herausfinden könnte, welcher Kandidat am Besten mit seinen Meinungen übereinstimmt.
Einig ist sich die Bevölkerung lediglich bei der Frage der Korruption. Die soll bekämpft und ausgemerzt werden, wie bei der Aktion “O Brasil que eu quero“ (Das Brasilien, das ich will) des Fernsehsenders Globo einmal mehr deutlich geworden ist.
Die in Brasilien tief verwurzelte Korruption zieht sich durch beinahe alle Parteien des Landes. Das Stigma wird hingegen vor allem der Arbeiterpartei PT angeheftet. Ob sich mit den Wahlen im Bezug auf die Korruption tatsächlich etwas ändern wird, ist abzuwarten.
Unter den Kandidaten auf das Präsidentschaftsamt, für die Abgeordnetenkammer und den Senat sind etliche verschiedenster Parteien dabei, gegen die wegen Korruption oder Veruntreuung von öffentlichen Mitteln ermittelt wird. Mindesten 19 im Zusammenhang mit dem Korruptionsskandal Lava-Jato vor Gericht stehende Abgeordnete und weitere zwölf vom Staatsministerium Angeklagte haben sich zur Wahl aufstellen lassen.
Etwa 80 Prozent der bisherigen Abgeordneten wollen sich wiederwählen lassen. Insgesamt haben sich für einen der 513 Stühle im Abgeordnetenhaus über 8.000 Männer und Frauen aufstellen lassen. Werden alle Kandidaten zusammengezählt, auch die für den Senat und die Regierungen der einzelnen Bundesstaaten, haben die Brasilianer am Sonntag die Wahl zwischen über 27.000 Bewerbern.
Spaltung zwischen Arm und Reich
Angesichts aller Probleme benötigt die junge Demokratie Brasiliens mehr denn je einen vereinenden Präsidenten, der den Kongress hinter sich hat. Die Zeichen stehen anders. So wird die Wahl wohl zu einer Entscheidung zwischen Extremen werden.
Auf der einen Seite steht der 63-jährige Ex-Militär und Berufspolitiker Jair Bolsonaro, der die Militärdiktatur verherrlicht, Waffenbesitz und Todesstrafe befürwortet, durch frauenfeindliche und homophobische Aussagen auffällt, intensive Landwirtschaft und Ausbeutung der Natur vor den Umweltschutz stellt und einen unternehmerfreundlichen Liberalismus vertritt. Befürwortet wird er vor allem von den betuchteren Klassen Brasiliens.
Die sozial schwächeren Schichten wollen den Ex-Bürgermeister São Paulos und Akademiker, den 55-jährigen Haddad ins Amt heben. Der steht für eine Sozialpolitik und einen Kampf gegen die enorm klaffende Schere zwischen Reich und Arm. Seine eigenen Ansichten stellt er derzeit jedoch hinten an und folgt stattdessen den Anweisungen des im Gefängnis sitzenden Lulas.
Gemein haben Haddad und Bolsonaro die Ankündigung, die Verfassung des Landes ändern zu wollen. Beide stehen bei den Umfragen an der Spitze.
Kein anderer vereint aber so viele Pro und Kontras auf sich, wie der Militär. Bei Umfragen erhält er mit 32 Prozent die höchste Stimmzahl und ebenso die größte Abneigung. 42 Prozent würden auf keinen Fall für Bolsonaro stimmen heißt es in der am 3. Oktober veröffentlichten Ibope-Umfrage. Gegen seinen Kontrahenten Fernando Haddad sprechen sich in dieser 37 Prozent aus. 28 Prozent würden hingegen für ihn als Präsident stimmen.
Haddad ist erst spät als Präsidentschaftskandidat aufgetreten. Erst nachdem das oberste Wahlgericht am 31. August eine Kandidatur des wegen Korruption verurteilten und inhaftierten Ex-Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva untersagt hatte, wurde der bis dahin als Vize fungierende Haddad offiziell aufgestellt.
Seitdem versucht er, die Beliebtheit Lulas auf sich zu ziehen. Als Lula noch als Kandidat gehandelt wurde, hatte er fernab aller anderer Bewerber mit über 40 Prozent die Wahlumfragen angeführt. Ganz gelingt Haddad sein Vorhaben des Stimmenübertrags nicht, auch wenn er bei Veranstaltungen oder Interviews beinahe jeden Satz mit „Lula“ oder „Wir von der PT“ beginnt. Ihm schlägt der Wind der vor allem von der Mittelklasse gebildeten Anti-Petisten entgegen und das Mißtrauen der ärmeren Bevölkerung und der Arbeiterklasse, die in Lula ihren starken Mann sehen.
Kandidaten ohne Chance
Von den restlichen elf Präsidentschaftskandidaten hat hingegen kaum einer eine realistische Chance. Der ebenso linksgerichtete Ciro Gomes punktet bei den Umfragen mit lediglich 12 Prozent. Der Zentrumsvertreter Geraldo Alckmin mit gerade einmal acht Prozent. Alle anderen liegen zwischen Null und vier Prozent.
Davon, dass einer der Kandidaten im ersten Wahlgang am Sonntag (7.) mehr als 50 Prozent erreichen könnte, ist nicht auszugehen. Mit einer zweiten Entscheidung zwischen den ersten beiden meist Gewählten ist deshalb zu rechnen. Der zweite Aufruf zum Gang zur Wahlurne ist für den 28. Oktober vorgesehen.
Egal, wie die Wahlen ausgehen werden, eine Einigung Brasiliens ist vorerst nicht in Sicht. Demonstrationen des vergangenen Wochenendes zeigen schon jetzt, wie es nach der Wahl vom Sonntag aussehen könnte. In etlichen Städten sind Tausende den Aufrufen zu Massendemonstrationen gegen Bolsonaro gefolgt. Der hat wiederum Tausende zu seiner Unterstützung auf die Straßen gebracht.
Wie sehr die Wahl zum erbitterten Kampf geworden ist, zeigt auch die Attacke auf Jair Bolsonaro. Der wurde am 6. September bei einer Wahlveranstaltung von einem Mann niedergestochen. Seine Wahlpropaganda hat er seitdem vom Krankenbett aus vor allem über die sozialen Netzwerke mit Videos und Posts betrieben.
Am Mittwoch (3.) wurde zudem ein Vorfall gemeldet, bei dem der Wagen eines Kandidaten für das Landesparlament São Paulos beschossen worden ist.