Brasília, 20. März 2009
Im Streit um das Indianerschutzgebiet Raposa Serro do Sol im Norden Brasiliens hat der oberste brasilianische Gerichtshof endlich sein Urteil gesprochen und zugunsten der Indios entschieden. Die dort angesiedelten Reisbauern müssen die Region nun umgehend verlassen. Für eventuelle Entschädigungszahlungen seitens des Staates zeichnete sich das Gericht nicht verantwortlich. In dem rund 17.000 Quadratkilometer grossen Gebiet leben etwa 18.000 Ureinwohner, die seit Jahrzehnten mit den illegalen Siedlern im Streit liegen.
Nachdem das Verfahren Anfang Dezember auf Antrag von Richter Marco Aurélio unterbrochen wurde, der nach eigenen Angaben mehr Zeit für seine Entscheidung benötigte, kam es erst in dieser Woche zu einer Fortsetzung der öffentlichen “Stimmabgabe“. Im vergangenen Jahr hatten sich bereits sieben oberste Richter, die in Brasilien den Titel “Minister“ tragen, für die Beibehaltung des Indianerschutzgebietes ausgesprochen. Am Mittwoch stimmte dann jedoch mit Minister Marco Aurélio der erste Richter dagegen.
Auf seiner 120-seitigen Erklärung, die in über sechs Stunden von ihm persönlich verlesen und zweimal für Essenspausen unterbrochen wurde, kritisierte er unter anderem, dass die betroffenen Munizipe im Bundesstaat Roraima nicht genügend angehört wurden und daher das Verfahren neu zu eröffnen wäre. Zudem forderte er die komplette Annullierung des erst im Jahr 2005 von Staatspräsident Luiz Inácio Lula da Silva ausgewiesenen Gebietes. In der brasilianischen Verfassung von 1988 ist festgelegt, dass alle Indianerschutzgebiete innerhalb von 5 Jahren ausgewiesen werden müssen.
Im Anschluss stimmte ein weiterer Richter mit einer nur 30 Seiten umfassenden Verlautbarung eher kurz und schmerzlos zugunsten der Indios. Die Sitzung wurde daraufhin auf Donnerstagnachmittag vertagt. Gestern hatte nun der Vorsitzende Richter, Minister Gilmar Mendes als letzter das Wort. Er stimmte ebenfalls für den Erhalt des Interschutzgebietes. Bis zum vollständigen Ende der Sitzung und der offiziellen Verkündung des Ergebnisses hatten jedoch alle Richter noch die Möglichkeit, ihre Stimme abzuändern. So dauerte es tatsächlich bis zum späten Abend, dass die Indianer endlich ihren “10:1 Sieg“ feiern konnten.
Rund 500 Ureinwohner hatten sich bereits in den vergangenen Tagen in Roraima in einer Turnhalle eingefunden und den Prozess live mitverfolgt. Unter anderem sangen sie und führten traditionelle Tänze auf. In der Hauptstadt Boa Vista kamen lediglich 40 Indios zu einem friedlichen Protest zusammen. Die zuständige Indianerbehörde des im äussersten Norden Brasiliens gelegenen Bundesstaates hatte im Vorfeld mit rund 3.500 Teilnehmern gerechnet.
Aus Brasília sickerte unterdessen durch, dass die Anordnung, wann die illegalen Siedler die Region verlassen müssen, eventuell bereits am heutigen Freitag verkündet werden soll. Dies sei unabhängig von eventuellen Entschädigungszahlungen, die später ein anderes Gericht festzulegen habe, erläuterte der verantwortliche Richter, Carlos Ayres Britto. Verantwortlich für die Kontrolle und Umsetzung des Urteils sei die brasilianische Bundespolizei.
Minister Gilmar Mendes erklärte zudem, dass Urteil sei “historisch“ und zudem Grundlage für zukünftige Entscheidungen bezüglich brasilianischer Indianerschutzgebiete. Davon sei nicht nur die Raposa Serra do Sol sondern auch die Ausweisung anderer umstrittener Reservate für brasilianische Ureinwohner betroffen, über die derzeit Prozesse geführt würden.
Die Indianer selbst müssen nach dem Urteil jedoch auch Einschränkungen hinnehmen. Ein 19 Punkte umfassendes Dokument ist Bestandteil der Entscheidung des obersten Gerichtshofes. Darin ist unter anderem geregelt, dass der Staat zur Kontrolle der Grenzen Polizei und Militärkräfte in das Schutzgebiet senden darf und bei Bedarf Wasserkraftwerke errichtet sowie unter Umständen Mineralien abgebaut werden dürfen. Die Ureinwohner selbst dürfen keine extensive Landwirtschaft betreiben und nur für den Eigenbedarf Jagen und Fischen.
Der Verband der Reisbauern von Roraima kritisierte das Urteil und wies darauf hin, dass mehrere tausend Menschen nun ihren Arbeitsplatz verlieren würden. Es werde keine friedliche Lösung geben, erläuterte Verbandspräsident Nelson Itikawa. „Es wird Leute geben, die die Kontrolle verlieren“ warnte er in Hinblick auf eine mögliche Zwangsvertreibung durch Polizeikräfte. Andere Bauern wollen sich dem Urteil jedoch beugen und auf von Präsident Lula zur Verfügung gestellte Ausgleichsflächen umsiedeln.
Dietmar Lang für BrasilienPortal
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