Ich war schon seit Tagen mit der redaktionellen Aufarbeitung der zurückliegenden vierzig Jahre in der Geschichte der brasilianischen Indios beschäftigt. Besonders erschütterte mich der indigene Genozid durch die damalige Militärdiktatur.
Ich versuchte entsprechende Denunzierungen, Gewaltakte, Ermordungen und Massaker an den indigenen Völkern Brasiliens aus jener Zeit zusammenzutragen, als mein Blick auf eine E-Mail fiel, die mit einem fetten Stempel als “Eilig“ gekennzeichnet war – Absender: “Conselho da Aty Guasu Kaiowa-Guarani“ (Rat der Kaiowa-Guarani (Indios) von Aty Guasu. Nachdem ich den Inhalt gelesen hatte, sass ich einen Moment wie erstarrt auf meinem Stuhl – dann machte ich meiner Empörung Luft mit dem Schrei der Verdammten “que país é esse“? (Was ist das für ein Land?)
Aber lesen Sie selbst:
Brief der Kommune Guarani-Kaiowá von Pyelito Kue/Mbarakay, aus Iguatemi – Mato Grosso do Sul – an die Regierung und die Justiz von Brasilien.
Wir (50 Männer, 50 Frauen und 70 Kinder) der Kommune Guarani-Kaiowá, Bewohner von Pyelito Kue/Mbrakay, möchten durch diesen Brief unsere historische Situation und definitive Entscheidung, angesichts der von der Föderativen Justiz in Navirai (MS), durch den Prozess Nr.0000032-87.2012.4.03.6006 vom 29. September 2012 verfügten Vertreibung, bekanntgeben. Wir haben die Nachricht erhalten, dass unsere Gemeinschaft in Kürze von der Föderativen Justiz selbst angegriffen und mit Gewalt vom Ufer des Rio Hovy vertrieben werden soll.
Damit ist uns klar geworden, dass die Aktion der Föderativen Justiz selbst die Gewalt gegen unser Leben gebiert und schürt, sie ignoriert unsere Rechte, am Ufer des Rio Hovy, unweit von unserem traditionellen Territorium Pyelito Kue/Mbarakay, zu überleben. Es ist uns unmissverständlich, dass diese Entscheidung der Föderativen Justiz von Navirai (MS) Teil des historischen Genozids unseres indigenen, alteingesessenen Urvolkes von Mato Grosso do Sul ist – das heisst: die Aktion der Föderativen Justiz selbst ist es, die unser aller Leben vergewaltigt und beendet. Wir wollen der Regierung dieses Landes und ihrer Justiz ganz deutlich mitteilen, dass wir die Hoffnung endgültig verloren haben, in unserem antiken Territorium würdig und ohne Gewalt überleben zu dürfen – wir glauben nicht mehr an die brasilianische Gerechtigkeit. Wem und wo können wir die Gewalt denunzieren, die gegen unser Leben gerichtet ist? An welche Justiz Brasiliens können wir uns wenden, wenn die Föderative Justiz selbst die Gewalt gegen uns verhängt und nährt?
Also haben wir unsere gegenwärtige Situation besprochen und sind zu dem Schluss gekommen, dass wir alle wohl in Kürze sterben werden – wir haben keinerlei Perspektive eines würdigen Lebens mehr – und werden sie auch in Zukunft nicht haben – weder an diesem Fluss, noch irgendwo anders. Wir befinden uns hier in einem Camp, fünfzig Meter vom Rio Hovy entfernt, in dem bereits vier von uns gestorben sind – zwei durch Selbstmord und zwei durch Prügel und Folter der “Pistoleiros“ von den umliegenden Fazendas. Wir wohnen am Ufer des Flusses seit mehr als einem Jahr, ohne irgendeine Assistenz von Seiten der Regierung, isoliert, umzingelt von “Pistoleiros“, haben wir uns bis heute gehalten. Wir essen einmal am Tag. Wir haben das alles auf uns genommen, weil wir daran glaubten, unser antikes Territorium Pyleito Kue/Mbarakay von der Regierung offiziell zugesprochen zu bekommen, denn hier ruhen viele unserer Grossväter und Grossmütter, Urgrossväter und Urgrossmütter in der Erde, hier liegen die Gräber aller unserer Vorfahren.
Im Bewusstsein dieser historischen Tatsache möchten wir hier, wo wir uns heute befinden, sterben und an der Seite unserer Vorfahren begraben werden. Deshalb bitten wir die Regierung und die Justiz darum, nicht eine Vertreibung unseres Volkes zu verfügen, sondern diese Verfügung stattdessen in unsere kollektive Ermordung zu verwandeln und uns alle hier zu begraben.
Wir bitten, ein für alle mal, unsere Dezimierung und totale Ausrottung zu verfügen, ein paar Traktoren herzuschicken, die ein grosses Loch graben sollen, um unsere Körper aufzunehmen – das ist unser Anliegen an die Richter dieses Landes. Wir warten auf diese Entscheidung der Föderativen Justiz: “Verfügen sie den kollektiven Tod der Guarani und Kaiowá von Pyelito Kue/Mbarakay und begraben sie uns hier“ – in anbetracht dessen, dass wir uns gemeinsam entschieden haben, von hier nicht zu weichen, weder lebend noch tot.
Hochachtungsvoll,
Guarani-Kaiowá von Pyelito Kue/Mbarakay
Ein Bericht des Indianerrates “Aty Guasu“ erklärt die Situation der Guarani-Kaiowá von Pyelito Kue/Mbarakay:
Dieser Bericht soll dazu beitragen, die Geschichte und gegenwärtige Situation der Mitglieder der indigenen Kommune Guarani-Kaiowá, in ihrem traditionellen Territorium Pyelito Kue/Mbarakay, gelegen am Ufer des Rio Hovy, 50 Meter vom Fluss entfernt, im Munizip von Iguatemi, Mato Grosso do Sul, zu erklären. Das Camp der Indios begann am 8. August 2011.
Es ist wichtig betonen, dass die Mitglieder (Kinder, Frauen und Alten) dieser Gemeinschaft, welche aus einer Wiederbesetzung vom 23. August 2011, um 20:00 Uhr, entstand, auf gewaltsame und grausame Art und Weise von “Pistoleiros“ der umliegenden Fazendas angegriffen wurden. Im Auftrag der Grundbesitzer umzingelten und bedrohten die bewaffneten Männer kontinuierlich die kleine von den Indios besetzte Parzelle am Ufer des Flusses, und diese Situation dauert bis heute an.
Innerhalb eines Jahres haben jene “Pistoleiros“ schon zehnmal die von den Familien der Guarani-Kaiowá konstruierte Hängebrücke aus Draht und Lianen zerstört, die den Indios zum Überqueren des 30 Meter breiten, und 3-4 Meter tiefen, Flusses dient. Trotz ihrer offensichtlichen Isolation bedrohen die bewaffneten “Pistoleiros“ die Indios pausenlos – jedoch insgesamt 170 indigene Kommunen, die ihr ehemaliges Territorium “Pyelito kue“ besetzt halten, widersetzen sich allen Drohungen und versuchen am Ufer des Rio Hovy zu überleben, bis die Regierung ihnen endlich das längst versprochene IT (Indio-Territorium) “Pyelito Kue/Mbarakay“ demarkiert und zuteilt.
Am 8. Dezember 2009 wurde dieselbe Gruppe bereits verprügelt, mit Feuerwaffen bedroht, ihnen die Augen verbunden und sie am Strassenrand abgeworfen – eine spontane, inoffizielle Vertreibung, ausgeführt von Handlangern der Grossgrundbesitzer aus der Region Iguatemi-Mato Grosso do Sul.
Ein paar Jahre vorher, 2003, hatte eine indigene Gruppe bereits probiert, in ihr angestammtes Gebiet zurückzukehren – sie wurden von “Pistoleiros“ der regionalen Fazendas rausgeschmissen, die in das Camp der Indios einfielen, Frauen, Kinder und alte Leute folterten und ihnen Arme und Beine brachen. Insgesamt sind Guarani und Kaiowá heute zirka 50.000 Personen, die lediglich auf 42.000 Hektar zusammengepfercht existieren. Das Fehlen von regulierten Territorien hat eine Serie von sozialen Problemen unter ihnen verursacht, eine humane Krise mit hoher Kindersterblichkeit, Gewalt und Suizid unter Jugendlichen.
Im vergangenen Monat hat die Foderativ-Justiz von Navirai (Mato Grosso do Sul) die Vertreibung der Guarani-Kaiowá-Kommune vom Ufer des Rio Hovy verfügt, eingeklagt vom Anwalt der Grossgrundbesitzer, und in der gerichtlichen Verfügung wird “reintegração de posse“ (Reintegration des Besitzes) – für den Grossgrundbesitzer natürlich – angegeben (obwohl dieses Land eigentlich den Indios gehört) – und diese Indios haben lediglich das Ufer des Flusses besetzt, das heisst, sie befinden sich nicht innerhalb der Fazenda, wie jener Anwalt angibt. Und es ist nach brasilianischem Gesetz unzulässig, Indios vom Ufer eines Flusses zu vertreiben – deshalb hat auch der Richter von Navirai geirrt, und deshalb ersuchen wir die Justiz, seine Entscheidung zu revidieren.
Wir vom Rat der “Aty Guasu“ versichern hiermit, dass wir den Brief der Kommune von Pyelito Kue/Mbarakay erhalten und ihre Entscheidung zur Kenntnis genommen haben. Wir werden diesen Brief an alle Föderativen Autoritäten und die brasilianische Gesellschaft verteilen.
Tekoha Pyelito kue/Mbarakay, 08. Oktober 2012
Hochachtungsvoll, Rat/Kommission von Aty Guasu Guarani und Kaiowá von Mato Grosso do Sul.
Quelle: Egon Heck – CIMI (Conselho Indigenista Missionário – Indigener Missionsrat)
Foto: Cimi Equipe Dourados