Im Jahr 1994 haben die United Nations den 9. August zum internationalen Tag der indigenen Völker erklärt. Dieses Jahr steht er unter dem Tema “Covid-19 und die Widerstandsfähigkeit indigener Völker“. In Brasilien sind die Indios besonders schwer betroffen. Während sich das Virus immer stärker unter den Indios ausbreitet, gibt es von der Regierung des Landes nur wenig Unterstützung.
Gleichzeitig nutzen Kriminelle die Pandemie für Invasionen der Indio-Territorien. Indios, Menschenrechts- und Nichtregierungsorganisationen klagen einer Vernachlässigung der indigenen Tragödie durch die Regierung an.
Seit Beginn der Coronaviruspandemie sind in Brasilien täglich etwa vier Indios an Covid-19 gestorben. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung des Landes von etwa 210 Millionen trifft es die Ureinwohner besonders schwer. Während die Infektionsrate in Brasilien 1,3 Prozent der Bevölkerung beträgt, haben sich bisher 2,8 Prozent der 818.000 Indios mit dem Coronavirus infiziert. Die Todesrate durch Covid-19 ist bei den Indigenen zudem beinahe doppelt so hoch wie bei Nicht-Indios.
Theoretisch leben viele der Indios isoliert in Territorien weitab der großen Städte. Schutz vor dem Virus bietet ihnen das dennoch nicht. Nach Angaben des indigenen Verbandes Articulação dos Povos Indígenas do Brasil (Apib) sind bereits 23.453 Indios positiv auf Covid-19 getestet worden. 652 sind an der neuen Virusinfektion gestorben, unter ihnen Häuptlinge, Wissensträger und Weise. Betroffen sind mittlerweile 148 der etwa 300 indigenen Völker Brasiliens.
Dass sich das Virus auch in abgelegenen Dörfern ausbreitet, wird auf verschiedene Gründe zurückgeführt. Unter anderem wird davon berichtet, dass das Coronavirus von Mitarbeitern des Gesundheitswesens verbreitet wurde. Der erste Covid-19 Fall unter den Ureinwohnern Brasiliens war eine 20-Jährige Kocama.
Sie hatte sich bei einem Arzt der Indio-Gesundheitsbehörde Sesai angesteckt. In anderen Fällen wurde das Virus von den Indios selbst mitgebracht, die zum Lebensmittelkauf in den Städten waren oder um dort bei den Banken die staatliche Finanzhilfe abzuholen.
Invasionen und Regenwaldzerstörung
Erschwerend hinzu kommt, dass die Invasionen der Indio-Territorien während der Pandemie zugenommen haben. Wie ungehemmt Holzmafia, Grundspekulanten und Goldschürfer in den Indio-Gebieten vordringen, zeigen die vom Raumforschungsinstitut Inpe registrierten Zunahmen an Kahlschlägen und Bränden.
Neben der Zerstörung des Regenwaldes bringen die Invasoren auch den Coronavirus mit. Anfang April ist ein 16-jähriger Yanomami an den Folgen von Covid-19 gestorben, nachdem er sich vermutlich in seinem Dorf nahe eines illegalen Bergbaus von Nicht-Indios angesteckt hatte.
Die Regierung Jair Bolsonaros stellt dem illegalen Berbau kaum Barrieren in den Weg. Nach dem Bekanntwerden der stark angestiegenen Rodungen und Druck von internationalen Unternehmern und Investoren hat Bolsonaro das Militär zur Schadbegrenzung in die Amazonasregion gesendet. Gleichzeitig wurden aber auch nach erfolgreichen Kontrolloperationen durch die Umweltbehörde Ibama in Indio-Gebieten Kontrollerue von Umweltminister Ricardo Salles entlassen.
Momentan versucht die Regierung, ihr schlechtes Image aufzubessern. Gemeinsam mit Medienvertretern hatte Salles am 5. August an einer Kontrolloperation im Indio-Territorium Munduruku teilgenommen. Im Visier waren illegale Goldschürfer, die über Kilometer hinweg in dem Indiogebiet durch ihre Goldschürfungen für Zerstörung gesorgt haben. Bei der Aktion hat die Umweltbehörde Ibama mehrere Bagger und Schwergeräte unbrauchbar gemacht.
Das hat allerdings die “Garimpeiros“ (Goldschürfer) erzürnt. Gemeinsam mit Indios, die für sie arbeiten, haben sie vor Umweltminister Ricardo Salles protestiert. Salles hat sich daraufhin einmal mehr für den Bergbau in Indio-Territorien ausgesprochen. Indios sollten das Recht haben, sich für eine intensive Landwirtschaft oder den Bergbau zu entscheiden, so Salles. Kurz später wurde die Kontrollaktion vom Verteidigungsministerium ausgesetzt und einen Tag später offiziell wieder aufgenommen. Inoffiziell sagen Mitarbeiter der Umweltbehörde Ibama jedoch, dass es keine Operation mehr gibt.
Das Munduruku-Territorium leidet seit Jahren unter Invasionen und Zerstörung. Einige der Indios wurden von den Garimpeiros angeheuert. Die Mehrheit der Mundurukus ist jedoch gegen die Ausbeutung. Auch in jüngerer Vergangenheit gab es etliche Proteste der Mundurukus gegen Garimpeiros , Invasoren und die Zerstörung ihres Landes. Jetzt kommt zu dem Problem das Coronavirus hinzu. Etliche Mundurukus haben sich bereits infiziert.
Gestiegen ist ebenso die Zahl der Brände in Indio-Territorien. Allein im Juli wurde in den Indio-Gebieten des Amazonas-Regenwaldes im Vergleich zum gleichen Monat des Vorjahres eine Zunahme der Brände von 76,7 Prozent registriert. Spezialisten befürchten durch den Rauch eine Verschärfung der Coronaviruskrise.
Zutrittsverbot ohne Konsequenzen
Wenig Unterstützung gibt es ebenso seitens der Indio-Behörde Funai. Sie hat nach Medienberichten nach Beginn der Pandemie erst einmal die Verteilung von Lebensmitteln in den Territorien eingestellt. Mitte März hat sie dann zwar das Betreten der Indio-Territorien durch Außenstehende verboten, für Barrieren oder eine Durchsetzung des Verbotes wurde indes nicht gesorgt.
Darüber hinaus hat die Indio-Behörde im April mit einer normativen Anweisung für weitere Unsicherheit gesorgt. Nach dieser können Indio-Gebiete, die sich bereits im Ausweisungprozess befinden aber noch nicht rechtskräftig anerkannt sind, von Nicht-Indios genutzt und Flächen davon sogar verkauft werden. Noch ist unklar, ob die Regelung aufrecht gehalten werden kann, zumal die Konstitution Brasiliens den Schutz der Indigenen und die Ausweisung von Territorien vorsieht.
Mangelware ärztliche Versorgung
Einen Anteil an der Ausbreitung des Coronavirus unter den Indigenen trägt ebenso die indigene Gesundheitsbehörde Sesai. In den ersten Monaten der Pandemie wurde vom Gesundheitsministerium Brasiliens den Covid-19-Betroffenen geraten, zu Hause zu bleiben und erst bei schweren Symptomen einen Arzt oder Krankenhaus aufzusuchen. Die für die indigenen Völker zuständige Gesundheitsbehörde Sesai hat dies ebenso getan und die erkrankten Indios angewiesen, sich in ihren Dörfern in Isolation zu begeben. Dass viele der Völker in Gemeinschaftshäusern nächtigen, wurde ignoriert.
Ignoriert wurde auch die Tatsache, dass in der Mehrzahl der Indiodörfer eine ärztliche Versorgung nicht oder nur sporadisch zur Verfügung steht. Erkrankte müssen teilweise über mehrere Tage hinweg eine Bootsreise auf den Flüssen bis zur nächsten Stadt mit einem Gesundheitsposten erdulden. In einigen abgelegenen Regionen gibt es theoretisch eine Luftverbindung, allerdings nicht mit täglichen Flügen, sondern teilweise nur einmal im Monat.
Vom Gesundheitsministerium wird auf die Einrichtung von Krankenhausflügeln oder Feldlazaretten speziell für die Indigenen verwiesen. In der Amazonashauptstadt Manaus wurde ein solches eingerichtet, eins für den ganzen Bundesstaat, der mit seinen 1,57 Millionen Quadratkilometern dreimal so groß ist wie die gemeinsame Landesfläche von Deutschland, Österreich und der Schweiz.
Die indigene Gesundheitsbehörde Sesai verweist auf einen von ihr erstellten Notfallplan für Covid-19. Der geht allerdings nicht über allgemeine Regeln hinaus. Von den Indios selbst heißt es, dass sie oder ihre Vertretungen bei der Erstellung des Planes nicht gehört wurden.
Zunächst hatte Sesai allerdings nicht einmal das Testen von Verdachtsfällen unter den Indios für notwendig gehalten. Geweigert hat sich die Behörde auch, Indios zu behandeln, die außerhalb der rechtskräftig ausgewiesenen Territorien leben. Etwa 324.000 Indios waren damit ohne Gesundheitsversorgung.
Sie bleiben auch bei der offiziellen Coronavirus-Statistik außen vor. Weil von der Sesai lediglich die in homologierten Territorien lebenden Indios erfasst werden, liegen die offiziellen Zahlen der Covid-Opfer unter den Ureinwohnern des Landes weit unter den tatsächlichen. Laut Sesai gelten 17.611 Indios als positiv getestet und 311 sind an Covid-19 gestorben.
Am 8. Juli hat Präsident Jair Bolsonaro darüber hinaus Schutzmaßnahmen während der Pandemie für Indios, Quilombolos und Flußanlieger blockiert. Diese waren im Mai von der Abgeordnetenkammer und im Juni vom Senat als Gesetz verabschiedet worden.
Bolsonaro legte jedoch gegen die wichtigsten Maßnahmen sein Veto ein. Er lehnte die Bereitstellung von Hygienekits, UTI-Plätzen und Beatmungsgeräten ab, die Vergabe von Lebensmitteln, die Versorgung mit sauberen Trinkwasser und anderes.
Eigeninitiative und Gerichtsbeschluss
In Ermangelung an Aktionen und Hilfen seitens des Staates haben sich viele der indigenen Völker Brasiliens selbst organisiert. Sie haben Verhaltensregeln zur Vorbeugung einer Ansteckung in ihre Sprachen und Kulturen übersetzt, Videos gedreht und verbreitet, Schutzsperren zu ihren Gebieten errichtet, gemeinsam Isolationshäuser gebaut, Masken verteilt und versucht, das Virus aufzuhalten.
Hoffnung wird nun auch auf eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofes STF gesetzt. Dessen Richter haben am 5. August einstimmig den Beibehalt von Schutzmaßnahmen für die indigenen Völker während der Pandemie beschlossen.
Oberster Richter Luís Roberto Barroso hat am Freitag zudem die Regierung Bolsonaros dazu verpflichtet, den vor einer Woche vorgelegten Plan zum Schutz der Indigenen vor Covid-19 zu verbessern. Er fordert unter anderem sanitäre Barrieren zu den Indio-Territorien und die Versorgung von Indios, die in noch nicht rechtskräftig ausgewiesenen Territorien leben.
Einen Beitrag wird vielleicht auch der internationale Tag der indigenen Völker leisten. Immerhin sorgen zu diesen Daten Medienberichte für eine gewisse Aufmerksamkeit.