São Paulo, 03. Februar 2008
Eines wurde nach den beiden Nächten im Sambódromo von São Paulo deutlich. Die Sambaparaden der brasilianischen Wirtschaftsmetropole brauchen sich vor ihren Konkurrenten in Rio de Janeiro keinesfalls zu verstecken. Kreativität, Lebensfreude und mitreissende Samba-Hymnen können auch im São Paulo aus einem scheinbar unerschöpflichen Reservoir geholt werden.
In den kommenden zwei Tagen werden es die Sambaschulen und vor allem die Zuschauer in Rio de Janeiro schwer haben, die Begeisterung auf den Rängen und der Paradestrecke in den vergangenen zwei Nächten zu toppen.
In einem ist Rio aber schon von Natur aus unterlegen. Aufgrund der Bauweise des Sambódromos von Sapucaí sind in der brasilianischen Tourismusmetropole nur Motivwagen bis zu 10 Meter Höhe erlaubt, in São Paulo sind es 15 Meter. Aber in Rio de Janeiro ist die Wegstrecke länger, der Zeitrahmen grösser – ansonsten sind die Paraden ähnlich aufgebaut: Begrüssungskommission, Fahnenträgerpaar, Motivwagen, Kostümgruppen, die Perkussionsgruppe und die Baianas. Aber nun zu den Paraden, die am heutigen Sonntag im Morgengrauen endeten.
Haare ohne Ende, viel nackte Haut und fast alles in grün und weiss, so lässt sich die Parade der ersten Sambaschule der zweiten Nacht – Camisa Verde e Branco – wohl am besten beschreiben. Die Schule, die in diesem Jahr wieder in die Spezialgruppe zurückgekehrt ist, überzeugte schon vor dem Eintritt das Sambódromo mit ungezügeltem Enthusiasmus. Dabei begann die Parade nicht gerade glücklich. Beim ersten Motivwagen, der aus zwei einzelnen Wagen bestand, brach ein Verbindungsstück. Doch die fleissigen Helfer lösten dies ganz pragmatisch: mit einem verknoteten Handtuch. Thematisch drehte sich alles um die Haare – von den Neandertalern bis in die Neuzeit zog sich das Motto durch die ganze Parade. 2 Millionen Reais (etwa 770.000 Euro) hat sich die Sambaschule die knapp einstündige Präsentation kosten lassen. Neandertaler zogen ihre Frauen an den Haaren hinter sich her, zudem waren Dutzende von Medusas zu finden, eine Perkussionsgruppe im Black Power Look, sowie silberne Schönheiten fast nur mit einer Perücke bekleidet – es war wirklich eine haarige Angelegenheit.
Bei Mancha Verde machten selbst die Kommentatoren des übertragenden Fernsehsenders Rede Globo grosse Augen. Ein 42 Meter langer, auf dem Bauch liegender Clown, der Kopf und Füsse bewegte, war selbst auf der verhältnismässig breiten Paradestrecke in São Paulo ein imposanter Anblick. Hauptmotto der Sambaschule war jedoch die Literatur und eine damit verbundene Hommage an den Schriftsteller Ariano Suassuna, der auch selbst auf einem Wagen an der Parade teilnahm. Auch der Auftritt von Viviane Araújo, die einen perfekten Samba hinlegte, wurde von den 30.000 Zuschauern bejubelt.
Was gibt es über X-9 Paulistana zu erzählen? Gemeinschaftlich betete die Sambaschule vor ihrem Auftritt und absolvierte eine gelungene Präsentation, wenn sie auch wegen eines technischen Defektes mit neun Minuten Verspätung die Samba-Arena betrat. Umweltverschmutzung, die Erhaltung des Regenwaldes und vor allem die globale Erwärmung waren die Hauptthemen der Parade, die bei den Zuschauern grossen Anklang fand. Auf einem Motivwagen wurde der ständig wachsende Müllberg in den Städten thematisiert, auf einem anderen symbolisierte ein Eisbär das Schmelzen der Pole. Aber es war alles andere als eine traurige Show. Farbenfrohe Kostüme und begeisterte 3.800 Teilnehmer verwandelten das Sambódromo in einen Hexenkessel.
Wenn man einen Samba-Enredo hört und dabei Cowboyhüte sieht, dann kann dies nur im Karneval passieren. Und wenn dann noch mehrere “Miss Rodeo“ Samba tanzen, dann ist man inmitten der Parade von Pérola Negra. Die Sambaschule hat sich in diesem Jahr das “Interior“ – das Hinterland als Thema gewählt und da liegt nun einmal der wilde Westen Brasiliens. Dort gibt es noch echte Cowboys und natürlich viele Rinder. Letztere konnte man dann auch auf einem riesigen Motivwagen bewundern. Insgesamt war die Parade eine Hommage an den Ort Jaguariúna, etwa 134 Kilometer von São Paulo entfernt. Und auch Pérola Negra griff tief in die Tasche für die tausende bunte und aufwendig gestaltete Kostüme. Das teuerste Kostüm hatte wohl eine Fahnenträgerin an – es soll inklusive dem Kopfschmuck umgerechnet etwa 31.000 Euro kosten.
Wenn es nach mir geht, gewinnt die Sambaschule Vai-Vai die Samba-Paraden von São Paulo. Das Motto der Präsentation – “Brasilien wach auf!“ – machte hervorragend auf die sozialen Ungerechtigkeiten im Land aufmerksam und wurde in Motivwagen und Kostümen optimal umgesetzt. Zudem heizte der Samba-Enredo die Arena dermassen auf, dass sämtliche Zuschauer kollektiv kleine Brasilienfahnen im Rhythmus schwenkten. Es war ein gigantischer Anblick, der zudem noch durch die in einzelne Blöcke unterteilten unterschiedlich farbigen Kostümgruppen auf der Paradestrecke verstärkt wurde. Ein Motivwagen spiegelte das realistische Leben in der Favela wieder mit all seinen Problemen und Gewalt. “Tausche meine Waffe gegen eine Violine“ lautete der Titel des Wagens, auf dem zwei Violinenspieler neben einer auf dem Boden liegenden Leiche musizierten. Und auf einem anderen Wagen war gleich ein kleines Orchester versammelt. Musik verbindet und Gewalt trennt – so kann man die Botschaft der Präsentation zusammenfassen. Eine eindrucksvolle Show, welche die drittplatzierte Schule des vergangenen Jahres an die Spitze schiessen könnte. Laut den Veranstaltern war es die umfangreichste und luxuriöseste Parade von Vai-Vai der letzten 10 Jahre.
Grosse Chancen auf den Titel hat allerdings auch Mocidade Alegre. In einer sensationellen Show präsentierte sie die Vorzüge einer modernen Weltstadt. Die Sambaschule widmete ihre Präsentation der Stadt São Paulo. Eine “Demonstration der Liebe“ an diese gigantische Metropole in Südamerika. Alle Annehmlichkeiten wurden irgendwie thematisiert. Ob Motoboys als Essenslieferanten, Churrascarias, Mode und Models, Kino, Theater, Bars, Nightlife bis zur Technodisko war zwischen Kostümgruppen und Motivwagen auszumachen. Einziger Negativpunkt war allerdings auf dem vorletzten Wagen zu finden, welcher die Internationalität der Stadt hervorheben sollte und gegen 5:10 Uhr Ortszeit weltweit über die Bildschirme flimmerte. Auf ihm waren viele Fahnen moniert, die Deutschlandfahne war sogar auch darunter, allerdings stand sie auf dem Kopf. Und am Ende der Parade wies sogar noch ein grosser imitierter Truck der jährlichen Gay-Parade auf sexuelle Freiheit hin und betonte die Pluralität der Metropole im Südosten Brasiliens.
Am Ende einer abermals langen Nacht führte die Sambaschule Império de Casa Verde die Zuschauer noch durch die Geschichte der brasilianischen Musik der letzten 100 Jahre. Die vielen Stilrichtungen wie Samba, Bossa Nova oder Tropicala wurden genauso thematisiert wie Künstler, welche die Musik massgeblich beeinflusst haben. So bekam Rock-Legende Raul Seixas beispielsweise eine eigene Kostümgruppe gewidmet. Und auf den gigantischen Motivwagen waren unter anderem derzeitige Stars wie DJ Marlboro und Belo zu finden. Alles in allem war es zum Abschluss der Paraden ebenfalls eine kreative und luxuriöse Präsentation. Bis zum Dienstag müssen sich nun alle Sambaschulen gedulden, denn dann erst wird durch die Jury nach einem komplizierten Punkteverfahren der Sieger bestimmt.
Abschliessend kann man nur wiederholen, dass sich die Sambaschulen in Rio de Janeiro heute und morgen schon sehr anstrengen müssen, um die Paraden in São Paulo zu toppen. Natürlich hat das Sambódromo von Sapucaí in Rio ein anderes Flair, es ist enger, länger und fasst mehr als doppelt so viele Zuschauer. Wir sind gespannt. Als einziges deutschsprachiges Medium mit einer ausführlichen und zeitnahen Berichterstattung in Text, Audio und Video über sämtliche Paraden der „Grupo Especial“ in São Paulo und Rio de Janeiro werden selbstverständlich auch darüber berichten. Klicken sie also morgen wieder rein aufs BrasilienPortal. Und informieren sie sich über den Karneval in Brasilien und speziell über den in der „cidade maravilhosa“ in Rio de Janiero.
Dietmar Lang für BrasilienPortal