Willkommen zum Karneval 2009 aus São Paulo. Auch in der gestrigen Nacht standen die Paraden in der Millionenmetropole im Mittelpunkt des Geschehens. Darüber berichten wir natürlich ausführlich, zuvor jedoch noch einen kleinen Hinweis auf unseren Podcast Spezial. Für alle Brasilien-Karnevalfans steht nun ein Podcast über den Carnaval im Nordosten Brasiliens zum Anhören und Herunterladen bereit. Wer also den Axé lieber mag als die Samba, ist dort genau richtig.
Aber nun zum zweiten Mal hinein ins Sambódromo von Anhembi in São Paulo. Auch heute graute bereits der Morgen, als die letzten Teilnehmer die Zielgerade am Ende der Paradestrecke überschritten. Weit über 8 Stunden dauerte das Spektakel, sieben Sambaschulen präsentierten sich der Öffentlichkeit. Viel nackte Haut, mitreissende Samba-Enredo, und die ein oder andere Überraschung in Sachen Kreativität machten es jedoch zu einer kurzweiligen Nacht.
Von den sieben Sambaschulen der Nacht, darunter alle vier Sieger der vergangenen acht Jahre, machte Leandro de Itaquera den Anfang. Und sie hatten sich ein heikles Thema ausgesucht. Von der “Peripherie“ handelte die Präsentation und damit von den ausladenen Favelas der grossen Metropolen. So symbolisierte auch die Begrüssungskommission die Reise aus dem armen Nordosten des Landes in Ballungszentrum auf der Suche nach Arbeit, Zukunft und Wohlstand.
Auch die Musik der Randgebiete war auf einem Motivwagen vertreten. Pagode, Funk und Rap wurden hier stilisiert. Gerade letztere Stilrichtungen sind als Zeichen einer Subkultur zu verstehen, die sich fernab der normalen brasilianischen Gesellschaft entwickelt hat. Somit rutschte zumindest für 1 Stunde die traurige brasilianische Realität in den Mittelpunkt, welche sich jedoch äusserst farbenfroh und fröhlich dem Zuschauer anbot.
Kurz vor Mitternacht verwandelte dann Pérola Negra das Sambódromo in ein goldenes Lichtermeer. Denn eine Reise nach Indien stand auf dem Programm, die hinduistischen Gottheiten wurden verehrt, die Kultur dieses riesigen asiatischen Landes dem Zuschauer näher gebracht. Aber die 1973 gegründete Schule hatte noch eine andere Botschaft im Gepäck: Die Liebe ist der grösste Schatz des Vereines, denn seit nun 35 Jahren halten die Mitglieder zusammen, obwohl noch nie ein Titel bei den Paraden errungen werden konnte.
So wurde auch die Vereinsgeschichte erzählt und dabei nach Indien portiert: die Suche nach einer goldenen Perle im ganzen Land, nur um zuletzt festzustellen, dass sie sich im eigenen Herzen befindet. Jeder der Allegoriewagen stellte eine Station oder kulturelles Gut auf der langen Reise dar, so fand der Buddhismus genauso Erwähnung wie die Taj Mahal, das Wahrzeichen Indiens. Die “schwarze Perle“ konnte am Ende ihre Präsentation mit 3.000 Teilnehmern, 24 Kostümgruppen und 5 Motivwagen unter grossem Zuschauerjubel in der vorgeschriebenen Zeit absolvieren.
Der Herzschlag bestimmte dann die Präsentation von Mocidade Alegre, die als dritte Schule auf die Paradestrecke zog. Es sei Motor, Leben und der Puls auf der Strasse der Emotionen. Erinnert wurde an den ägyptischen Gott Horus, da in der Mythologie das Herz oft mit der Sonne und damit dem Leben gleichgesetzt wurde. Die Trommlergruppe intonierte ihren ganz eigenen Herzschlag mit einer gelungenen Show und Choreografie. Auch die Kostümgruppen bildeten oft eine Herzform, was natürlich besonders der Fernsehzuschauer durch die Helikopteraufnahmen bewundern konnte.
Auch die Geschichte des Zauberers von Oz war auf einem Allegoriewagen anzutreffen, dort sucht ja der Zinkmann sein ganz persönliches Herz, ohne zu Wissen, dass er es bereits besitzt. Und einen Sportler hatte die Sambaschule ebenfalls im Gepäck. Der Stürmer Washington vom Fussballclub São Paulo konnte sich ganz besonders in die Thematik einbinden, musste er doch vor einiger Zeit aufgrund Herzprobleme die Spiele von der Tribüne aus mitverfolgen. Umso mehr machte es ihm gestern Freude, lauthals den Samba-Enredo mitzusingen.
Eine Hommage an die Kolonialstadt Ouro Preto präsentierten die Acadêmicos do Tucuruvi in ihrer imposanten Parade. Ob Percussionsgruppe oder die knapp bekleideten Tänzerinnen – niemand sparte mit Energie. 3.000 Teilnehmer, 24 Kostümgruppen und 5 Motivwagen erzählten von den reichen Bodenschätzen in Minas Gerais, von der portugiesischen Kolonisierung, der barocken Kunst und der Religiosität der Stadt. Auch auf den Titel “Erbe der Menschheit“, den Ouro Preto innehat, wurde hingewiesen. Die Show, bei der wie gewohnt der Schweiss in Strömen floss, wurde zu Recht von den Zuschauern bejubelt.
Bei der Sambaschule war neben vielen anderen schönen Frauen auch eine ganz besondere Muse anzutreffen. Nämlich die des gesamten Karnevals von São Paulo: Gabriela dos Santos. Die 23-jährige Journalismusstudentin wurde im weit entfernten Belém in Pará geboren. Seit 2001 ist sie bei der Sambaschule aktiv, zunächst als Prinzessin und dann als Königin der Trommlergruppe. In diesem Jahr absolvierte sie die Parade als “Attraktion“ auf einem Allegoriewagen.
Das Rad neu erfinden musste die Sambaschule Gaviões da Fiel mit Sicherheit nicht, aber die Geschichte des Rades umzusetzen, ist ihnen hervorragend gelungen. So zogen sich auch die Möglichkeiten, die dem Menschen seit Erfindung dieses so wichtigen Gegenstandes nun gegeben sind, durch die gesamte Parade. Bereits die Begrüssungskommission nutze Rhönräder, um damit artistische Kunststücke zu vollbringen. Auf einem einzigen Allegoriewagen fanden sich dann auch unzählige Fahrräder, Dreiräder, eine Halfpipe, ein Riesenrad und sogar Motorräder in einer Todeskugel wieder, begeistert bekatschten die Zuschauer diesen imposanten Auftritt.
Auf dem letzten Motivwagen kamen dann sogar noch einem Erinnerungen auf, denn ein riesiger Formel 1 – Wagen präsentierte sich den Tribünen, hinter dem Steuer sass, zum verwechseln ähnlich, ein Doppelgänger des unvergessenen Ayrton Senna. Vielleicht können sie es bereits herauslesen, aber der Verfasser dieser Zeilen hat seinen persönlichen Favoriten bereits gefunden. Es war ein pompöse aber auch gleichzeitig mit sehr viel Kreativität bis ins Detail ausgearbeitete Parade, wo auch der Samba-Enredo zu einem richtigen Ohrwurm zu früher Stunde wurde.
Enttäuscht hat danach mit Sicherheit viele der Auftritt des Vorjahressiegers Vai-Vai. Ob es an der zuvor gesehenen Parade lag oder ob hier wirklich an Kreativität gespart wurde, lässt sich schwer abschätzen, aber auch die Fernsehzuschauer straften die Schule bei einer ersten Bewertung gehörig ab. Vielleicht taugt aber ein sozialkritisches Motto nicht zur Titelverteidigung. Die Botschaft war deutlich: Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper. Keine Drogen solle man nehmen, Sport treiben und ein gesundes Leben führen.
Fünf Allegoriewagen, 39 Kostümgruppen, 4.000 Teilnehmer schafften es jedoch nicht, richtig zu begeistern. Auch die Hommage an den Gründer von Fiocruz, dem wichtigsten pharmazeutischen Labor des Landes und vermutlich Sponsor der Schule, fand wenig Anklang. Zu abgedroschen warfen die Phrasen, zu selbstgefällig und oberlehrerhaft die Botschaften. Es wurde von Hygiene und Körperkult gesprochen und irgendwie waren manche Zuschauer erleichtert, als sich nach 65 Minuten auf der Paradestrecke endlich das Tor hinter den letzten Teilnehmern schloss.
Wenn einer Schule kein vernünftiges Motto einfallen will, dann greift man gerne mal auf ein Jubiläum zurück. So auch die Sambaschule Império de Casa Verde, die als letzte bereits bei Anbruch der Morgendämmerung endlich ins Sambódromo einmarschierte. Sie feierte sich selbst und ihr 15-jähriges Bestehen. Und nach dem eher ernüchternden Auftritt von Vai-Vai wurde Império de Casa Verde dann auch kräftig bejubelt. Und dies, obwohl der neuntplatzierte vom Vorjahr mit der Erinnerung an Ostern, Allerheiligen, den Kindertag und Weihnachten nicht unbedingt tief in die kreative Kiste gegriffen hatte.
Doch all diese Feinheiten verschwanden wie die gerade aufgehende Sonne hinter einem 55m langen riesigen, nein gigantischen Tiger, dem Symbol der Sambaschule. Es soll der bislang grösste Motivwagen im Karneval sein und die Verantwortlichen erhoffen sich nun einen Eintrag ins Guinessbuch der Rekorde. Mehr als 20 Bewegungen waren bei dem riesigen Tier auszumachen, darunter Augenblinzeln oder das Wenden des Kopfes und das Spitzen der Ohren. 3.000 Quadratmeter Stoff wurden angeblich benötigt, 20 Tonnen Stahl für die Kontruktion verschweisst. Es war ein gigantischer Anblick und zugleich krönender Abschluss der Paraden der Sambaschulen der Grupo Especial in São Paulo. Zum Schluss wurde nicht gekleckert, sondern geklotzt.
Soviel für heute vom Karneval in Brasilien – in Zusammenarbeit mit dem brasilien Magazin. Am Mittwoch erfahren Sie dann hier an dieser Stelle, wer den begehrten Titel in São Paulo gewonnen hat. Morgen gibt es weitere News vom Karneval in grössten Land Südamerikas, allerdings dann direkt aus dem Sambódromo Marquês de Sapucaí in Rio de Janeiro, wo heute Nacht die ersten Paraden der Grupo Especial stattfinden.