Am späten Freitagabend Ortszeit haben in São Paulo die diesjährigen Sambaparaden begonnen. Der Carnaval do Brasil ist damit endgültig in seine spektakuläre Phase eingetreten. Sieben Sambaschulen der Grupo Especial absolvierten bis gegen 7:50 Uhr Ortszeit unter dem Jubel Zehntausender die Wegstrecke im Sambódromo do Anhembi. Am heutigen Samstagabend stellen sich weitere sieben Schulen der Wertung durch Jury und Zuschauer.
Nach einem komplizierten Wertungssystem wird dann am Dienstag der diesjährige Gewinner bekannt gegeben, der Titel verspricht neben Ruhm und Anerkennung vor allem noch mehr finanzielle Unterstützung für die kommende Kampagne.
Den Auftakt machte genau um 23:24 Uhr die Sambaschule Imperador do Ipiranga. Unter dem Motto „Da Antiguidade a Tecnologia: Medicina, a Nobre Arte de Salvar Vidas“ (Von der Antike zur Technologie – Medizin, die noble Kunst um Leben zu retten) erlebten die Zuschauer einen Streifzug durch die Geschichte der Heilkunde. Die 1968 gegründete Gruppe, die stets zwischen der Spezialgruppe und der Gruppe 1 pendelt, bewältigte die 530 Meter Paradestrecke in 63 Minuten und damit 2 Minuten vor Ablauf des vorgegebenen Zeitrahmens. 3.400 Teilnehmer, davon 220 in der Rhythmusgruppe legten sich kräftig ins Zeug, die Jury zu beeindrucken. Denn die Vorzeichen standen wahrlich nicht gut. Am 21. Januar wurde durch ein Hochwasser nach starken Regenfällen die Halle der Schule überflutet und viele Aufbauten der Allegoriewagen zerstört. Doch letztendlich verstärkten alle Beteiligten ihr Engagement und präsentierten in zahlreichen Kostümgruppen und auf vier Motivwagen die Medizin von gestern, heute und morgen.
Genau 65 Minuten benötigte die Sambaschule Leandro de Itaquera für ihre Parade. Nach Problemen mit einem Motivwagen mussten die letzten der 3.500 Teilnehmer am Ende sogar rennen, um noch in der vorgegebenen Zeit die Ziellinie zu überschreiten. Der Präsident der Schule musste danach aufgrund eines Schwächeanfalls medizinisch betreut werden. Das Motto „Sob Um Manto de Amor e Paz, Sou Leandro de Itaquera Desfilando o Vermelho e Branco no Meu Carnaval“ (Unter einem Mantel der Liebe und des Friedens, ich bin Leandro de Itaquera und paradiere in Rot und Weiss auf meinem Karneval) präsentierte die erst 1982 gegründete Gruppe eine Zusammenstellung von der menschlichen Reproduktion bis hin zu afrikanischen Gottheiten oder Ländern mit weiss/roter Flagge. Durch die massiven Probleme dürfte die Gruppe bereits jetzt um den Verbleib in der Grupo Especial zittern.
Richtig luxuriös wurde es dann um 1:51 Uhr beim Auftritt der Sambaschule Acadêmicos do Tucuruvi. Auch sie nutze die vorgegebene Zeit voll aus und präsentierte in der nicht ganz ausverkauften Arena einen wahren Rausch an Farben. Unter dem Motto „São Luís… Um Universo de Encanto e Magia“ (São Luís… ein Universum der Reize und Magie) erfolgte ein Hommage an den im Nordosten Brasiliens gelegenen Bundesstaat Maranhão. 2.800 Teilnehmer in 23 Kostümgruppen, den sogenannten Alas (Flügeln), gaben einen wunderschönen Einblick in die kulturellen Schätze des abgelegenen Bundesstaates. Auch der Stellenwert der Hauptstadt São Luís als kulturelles Erbe der Menschheit wurde thematisiert. So beendete die Schule ihre Parade ohne Zwischenfälle und mit einem gehörigen Anspruch auf den diesjährigen Titel.
Mit Spezialeffekten sorgte die Sambaschule Mancha Verde danach für Aufsehen. Als Motto hatte sich die Gruppe zu ihrem 10-jährigen Jubiläum „Aos Mestres com Carinho! Mancha Verde Ensina“ (In Zuneigung an die Meister! Mancha Verde lehrt) ausgesucht und unternahm damit einen Streifzug von Aristoteles über die indigenen Vermächtnisse bis hin zur Informationsüberflutung im Zeitalter des Internets. Die 3.500 Teilnehmer, davon 250 in der Rhythmusgruppe, bewältigten ihre Parade in 64 Minuten und auch bei den vier Allegoriewagen gab es keinerlei grössere Probleme. Prominenteste Persönlichkeit der Präsentation war Viviane Araújo, die nicht nur zum sechsten Mal in Folge als Rainha da Bateria (Königin der Trommler) fungierte sondern diesmal mehr als knapp bekleidet auf fantastische Weise eine chinesische Kaiserin der Tang-Dynastie verkörperte.
Von der Eröffnung bis zum Schluss ihrer Parade machte im Anschluss die Sambaschule Unidos de Vila Maria ihren Anspruch auf den diesjährigen Gesamtsieg deutlich. Im 56. Jahr ihres Bestehens wollen die Verantwortlichen endlich einmal den begehrten Titel mit nach Hause nehmen und stellten ihre Präsentation unter das Motto „A Indústria que Manipula o Ferro, é a Mãe de Todas as Outras!“ (Die Industrie, die das Eisen manipuliert, sie ist die Mutter aller anderen!). Dabei hatten die Teilnehmer sichtlich unter ihren Kostümen zu kämpfen, die sprichwörtlich aus dem schweren Metall zu sein schienen. Bis zu 15 Kilogramm waren zum Beispiel die Drachenkostüme der die Parade eröffnenden Comissão de frente schwer und in der Hitze der Nacht musste mancher Karnevalist am Ende der Wegstrecke medizinisch betreut werden. Aber innovativ war die Präsentation allemal, besonders die schwingenden Flügel begeisterte die Zuschauer. Auch auch riesige Nachbauten des Eiffelturms oder der Freiheitsstatue machten danach den Anblick der Allegoriewagen zu einem wahren Vergnügen. Die 4.000 Teilnehmer in 27 Kostümgruppen kamen faktisch mit dem Schlussgong im Ziel an und bejubelten ihre fast perfekte Präsentation natürlich ausgiebig.
Als vorletzte Sambaschule des ersten Tages startete Rosas de Ouro um 05:31 Uhr mit ihrer Parade. Die sechsmaligen Champions stellten ihre Präsentation unter das Motto „O Cacau é Show“ (Der Kakao ist eine Show!) und boten dabei sogar flüssige Schokolade in einem kleinen Springbrunnen auf. Alles in allem war es eine wahrhaft süsse Angelegenheit und auch die knapp bekleideten Schönheiten inmitten der 3.500 Teilnehmer sahen zumindest für das männliche Publikum zum Anbeissen aus. Neben den 22 Kostümgruppen bestachen jedoch die vier Allegoriewagen mit reichhaltigen Details zum Thema Kakao und Schokolade. Vom Kampf um die gelben Bohnen durch die spanischen Eroberer bis hin zur modernen Herstellung des Endorphine im Gehirn ausschüttenden Genussmittels wurde die gesamte Geschichte auf farbenfrohe Weise nachgezeichnet. Selbst die Schweiz war als grosser Schokoladenfabrikant mit einzigartigen Kostümen präsent und die Rhythmusgruppe erinnerte an den Spielfilm „Charlie und die Schokoladenfabrik“. Als die Parade im Morgengrauen ihr Ende fand, waren viele Zuschauer überzeugt, soeben den diesjährigen Sieger gesehen zu haben.
Doch das Rennen um den Titel ist noch lange nicht entschieden, dies machte die Sambaschule Vai-Vai mehr als deutlich, als sie um 6:45 Uhr die Paradestrecke betrat. Der 13-fache Sieger und Vizechampion vom Vorjahr stellte die Präsentation unter das Motto „80 Anos de Arte e Euforia, “É Bom no Samba, É Bom no Couro” Salve o Duplo Jubileu de Carvalho“ (80 Jahre der Kunst und Euphorie, “É Bom no Samba, É Bom no Couro” ein Hoch auf das Duo Jubileu de Carvalho). Damit erinnerte die Gruppe zum einen an bekannte Sambistas und zum anderen an 80 Jahre Fussball-Weltmeisterschaft. Hier wurde vor allem an grosse Spieler wie Pelé, Garrincha und Ronaldo erinnert und der Ausnahmespieler Cafu, der als einziger jemals an drei WM-Endspielen teilnahm, war sogar persönlich auf der Wegstrecke präsent. Aber auch die Unterbrechung der Wettbewerbe durch den 2. Weltkrieg und die Niederlage im Endspiel gegen Uruguay 1950 wurden thematisiert. Die 4.000 Teilnehmer liessen auch in der aufgehenden Morgensonne keine Müdigkeit aufkommen und sorgten somit für einen gelungenen Abschluss der ersten Nacht der Paraden im Sambódromo do Anhembi von São Paulo.