In wenigen Wochen, am Sonntag, 07./08. und Montag, 08./09. Februar, ist es wieder soweit, dann begeistert sie wieder die Menschen in aller Welt: Die “Greatest Show on Earth“ – sowohl das Publikum auf den Tribünen des Sambódromo in Rio, als auch die Fans vor den Fernsehern der restlichen Welt. Jene überwältigende, bunte, unvergleichliche karnevalistische Show der Superlative, in der die zwölf besten Sambaschulen von Rio de Janeiro sich in zwei Nächten vom Sonnenuntergang bis zum Morgengrauen – an Kreativität, Performance und Rhythmus ihrer Paraden gegenseitig überbieten, um vielleicht, “se Deus quiser“, zum Karnevals-Champion 2016 gekürt zu werden – ein Ehre, die in Rio, und von den Fans ganz Brasiliens, wie der Sieg in einem Fussballturnier gefeiert wird.
Schon seit meiner Jugend habe ich diese Karnevalsparaden von Rio de Janeiro begeistert verfolgt – zuerst in Zeitungen, dann im Internet, und während der letzten Jahre in Fernsehprogrammen des brasilianischen TV Giganten GLOBO, der die Paraden von São Paulo und Rio de Janeiro live bis in europäische Stuben überträgt.
Und so hat sich meine persönliche Sympathie für eine der ältesten Sambaschulen von Rio de Janeiro entwickelt, nämlich für die “Estação Primeira de Mangueira“ (gegründet am 28. April 1928), die bereits siebzehn mal zum Champion gekürt wurde – zuletzt im Jahr 2002. Und wodurch hat sie diese offensichtliche Vormachtstellung erreicht, unter so vielen Konkurrenten in dieser Spitzengruppe, die eigentlich alle das Zeug zum Champion mitbringen?
Nun, der Erfolg einer guten Parade in der Spitzengruppe setzt sich aus einer ganzen Menge unterschiedlicher Kriterien zusammen, besonders entscheidend ist, wie die Parade von den jeweils 3.000 bis 3.500 paradierenden Mitliedern präsentiert wird – eine vielköpfige Jury bewertet nach einem Punktesystem vor allem die Gesangs- und Tanzpräsentation der gesamten Parade, die ausgelassene Freude ihrer Mitglieder, die Harmonie der einzelnen Themengruppen und ihrer Kostüme – und auch die Begeisterung des Publikums auf den Tribünen.
Nicht zuletzt spielt auch die finanzielle Situation einer Sambaschule eine nicht zu unterschätzende, entscheidende Rolle für den möglichen (oder unmöglichen) Luxus ihrer Parade. Um die Ebbe in der Vereinskasse auszugleichen, hat eine Schule zum Beispiel ein afrikanisches Land zum Thema ihrer Parade gewählt und sich vom Diktator desselben ein hübsches Sümmchen für diese “Marketing-Aktion“ zukommen lassen. Ausserdem ist es in Rio ein offenes Geheimnis, dass auch Drogenbosse die eine oder andere Schule ihrer Wahl finanzkräftig zu unterstützen pflegen.
Jede Parade wird von einer so genannten “Front-Kommission“ angeführt, die meistens aus professionellen Ballett-Tänzern oder Zirkusartisten besteht, deren oft überraschende Darbietungen den Zuschauern einen ersten Eindruck vom Thema der jeweiligen Parade vermitteln, die Dekoration der nachfolgenden allegorischen Wagen, mit ihren lebendigen Themenfiguren, spielt natürlich eine bedeutende Rolle, ebenfalls das mitmarschierende Bateria der Schule und die Vorsänger ihres Themen-Sambas, deren Stimmen mittels gigantischer Lautsprecher auf die gesamte Parade-Avenida Sapucaí übertragen wird, begleitet vom Chor der marschierenden und tanzenden Mitglieder.
Sogar die Zeit des Paradeablaufs ist genau vorgeschrieben und wird kontrolliert – nicht länger als 82 Minuten, aber auch nicht kürzer als 65 Minuten – bei Über- oder Unterschreitung gibt es Minuspunkte. Einzelne Solo-Einlagen zählen Extrapunkte, wie zum Beispiel das Paar “Mestre Sala und Porta Bandeira“, die dem Publikum, abseits der marschierenden Masse, eine besondere Samba-Tanzeinlage mit der Vereinsfahne präsentieren (Grün und Rosa sind in diesem Fall die Farben der Mangueira-Fahne).
Eventuelle, unvorhersehbare Unterbrechungen des harmonischen Ablaufs einer Parade, wie zum Beispiel durch Wagen, die vielleicht unter ihrer manchmal vielstöckigen Last in die Knie gehen und den harmonischen Ablauf der Parade stören, kosten ebenfalls wertvolle Punkte und sind besonders gefürchtet bei allen Teilnehmern. Alles in allem, die langjährige Erfahrung der Mangueira-Administratoren, die herausragende Kreativität ihrer “Karnevalisten“ und nicht zuletzt auch die enthusiastische Präsentation ihrer mehreren Tausend Mitglieder, die es verstehen, das Publikum auf den Tribünen in Begeisterungsstürme zu versetzen, sind sicher die besten Voraussetzungen für einen Sieg – der oft durch einen nur sehr kleinen Unterschied in der Punktebewertung errungen wird.
Die “Cidade do Samba“ (Samba-Stadt) – ihre offizielle Bezeichnung ist “Cidade do Samba Joãozinho Trinta“ (benannt nach einem der berühmtesten Karnevalisten von Rio) – ist ein innovatives Projekt, in der Hafenzone von Rio de Janeiro, das von der Präfektur realisiert und seit 2005 von der Karnevalsindustrie genutzt wird. Früher waren alle Aktivitäten zur Produktion des Karnevals auf die unterschiedlichen Bezirke der Stadt verteilt – nun konzentrieren sie sich an einem einzigen Ort – ein historisches Ereignis für alle, die in der Vorbereitung des Carioca-Karnevals mitarbeiten.
Die “Cidade do Samba“ hat die ziemlich heruntergekommene Hafenzone wieder neu belebt, denn ihre Realisatoren verbanden mit ihr eine andere nützliche Idee: Rund um die riesigen Arbeitsschuppen liessen sie externe Laufstege anbringen, die den neugierigen Touristen erlauben, die Kunsthandwerker zu beobachten, die das ganze Jahr über mit den Vorbereitungen für die Paraden des nächsten Karnevals beschäftigt sind. So hat man eine Möglichkeit geschaffen, den auf die Karnevalssaison fixierten Touristenstrom aus seiner gewohnten Februar-Konzentration zu lösen und auf das gesamte Jahr zu verteilen, denn die einzelnen Sambaschulen präsentieren sich auch – zu bestimmten Zeiten – im Pátio der gigantischen Anlage, mit der einen oder anderen Folklore-Show zur Unterhaltung ihrer Besucher, um ihnen eine ungefähre Idee vom “Carnaval Carioca“ zu vermitteln.
Die Samba-Stadt besteht aus insgesamt 14 Gebäuden. Jeder Schule der Spitzengruppe, die den Titel “Grêmio Recreativo Escola de Samba (G.R.E.S)“ tragen dürfen, steht eines der dreistöckigen Gebäude zur Verfügung. Derzeit sind sie von den folgenden Schulen belegt: “Viradouro, Mangueira, Mocidade, Vila Isabel, Salgueiro und Grande Rio“ (sie paradieren am Sonntag, den 07. Februar, in dieser Reihenfolge) und “São Clemente, Portela, Beija-flor, União da Ilha, Imperatriz, Unidos da Tijuca” (sie paradieren am Montag, den 08. Februar, auch in dieser Reihenfolge).
In den dort eingerichteten Werkstätten werden Kostüme und Requisiten konfektioniert, im Erdgeschoss eines solchen Gebäudes befindet sich jeweils eine Halle, die gross genug ist, um zwölf allegorische Wagen zu montieren. Einrichtungen für Säge- und Schreinerarbeiten, für die Glas-, Gummi- und Plastikverarbeitung, stehen den jeweiligen Fachleuten zur Verfügung. Im ersten Stock befinden sich Refektorium und Umkleidekabinen für bis zu 150 Personen, die in dem entsprechenden Gebäude arbeiten.
Im zweiten Stock sind die Büros der Administratoren untergebracht und die kreativen, künstlerischen Studios, ein Salon für Versammlungen, das Büro des Karnevalsdirektors, ein Raum für die Aufbewahrung der fertigen Kostüme, das Büro der Direktion und des Präsidenten der Schule. Im dritten Stock entwirft und montiert man die Requisiten, fertigt man die Skulpturen aus Steropor, befindet sich das Materiallager, mit der Verleimung, Bemalung und Verharzung in separaten Räumen.
Die Samba-Stadt besitzt ausserdem 21 mit der Karnevalsindustrie verbundene Werkstätten, in denen junge Leute für eine berufliche Karriere zur Vorbereitung des Karnevals ausgebildet werden. Täglich erhalten zirka 160 Azubis – der grösste Teil aus Kommunen mit geringem Einkommen – Unterricht in Skulptur (in Styropor, Schaumstoff, Gips und Harz), Schmuck- und Hutanfertigung, Gastbehandlung (Tourismus), Informatik, Frisieren, Make-up, Häkeln, Schneiderei und Näharbeiten, Modellieren, Verpacken, Drucken, Modezeichnen, Dekoration und sogar in der englischen Sprache. Die von den Azubis angefertigten Produkte werden an Ständen, im Erdgeschoss der Gebäude, verkauft – die Einnahmen werden zwischen den Autoren und der Unterhaltung des Ausbildungsprojekts aufgeteilt.
Im Februar 2011, dreissig Tage vor Karnevalsbeginn, zerstörte ein Feuer, das sich auf drei Gebäude ausbreitete, die Arbeit von Monaten. Betroffen waren die Sambaschulen “União da Ilha, Portela“ und die “Grande Rio“ – letztere hatte es am schlimmsten erwischt, ihr Gebäude brannte völlig aus, acht allegorische Wagen, in der Endphase ihrer Fertigstellung, gingen in Flammen auf, 3.000 Kostüme im dritten Stock verbrannten und das Dach stürzte ein. Das Unglück offenbarte allerdings auch einen überraschenden Gemeinschaftssinn der einzelnen Schulen, die sich gegenseitig unterstützten, ermutigten und beschlossen, die vorbereiteten Karnevalsparaden trotz ihrer empfindlichen Verluste durchzuführen. Zwar mussten die täglichen Touristenbesuche, angesichts der nötigen Reformen, für einige Zeit abgeblasen werden, jedoch schon im November des gleichen Jahres 2011 waren die betroffenen Gebäude wieder hergestellt.
Nun sind also die Tore der “Cidade do Samba“ seit vier Jahren nach dem Brand wieder für das breite Publikum geöffnet, und auch wir nahmen die Gelegenheit wahr, uns einmal die Vorbereitungen für den Karneval 2016 aus der Nähe anzusehen. Und uns interessierte auch zu erfahren, wie sich der durch die diesjährige Olympiade in Rio veranlasste “gesamte Umbau der heruntergekommenen Hafenzone“ auf die in ihrem Bereich befindliche Samba-Stadt auswirken würde – aber vor allem wollten wir die von mir bevorzugte Sambaschule Mangueira an ihrem Arbeitsort besuchen. Man hatte uns bereits prophezeit, dass dies nicht einfach sein würde – in der Tat, erst nach mehreren Anfragen erhielten wir eine Zusage. Das war deshalb so schwierig, weil alle Schulen die Ausstattung ihrer Wagen und andere Details ihrer Paraden streng geheim halten.
Jedoch dank der guten Kontakte unserer Reiseleiterin Annette Runge ist es uns letztlich gelungen, den Vizepräsidenten der Mangueira, Senhor Aramis, zu bewegen, uns die Werkstätten auch von innen zu zeigen. Allerdings nur unter der Bedingung, nichts und niemanden zu fotografieren, was wir auch brav befolgt haben. Dafür bekamen wir Gelegenheit, die riesigen aktuellen Allegorien und imposanten Requisiten für den diesjährigen Karneval 2016 schon mal bewundern zu dürfen.
Als wir an einem Dienstag Ende 2015 gegen 14:00 Uhr, Senhor Aramis gegenüber standen, einem “Mangueirista“ der allerersten Stunde, staunten wir erst einmal wie gut er in Form ist (nachdem wir sein hohes Alter erfahren haben). Das Eis war schnell gebrochen, als er uns bereitwillig erzählte, dass er, seit er laufen konnte, bei jedem Karneval der Mangueira dabei gewesen sei. Mit seiner wohlklingenden Stimme versetzte er uns in die Anfänge der Karnevalsparaden, als noch jedes Mitglied an Wagen und Kostümen Hand anlegen musste.
Und es war ihm eine gewisse Traurigkeit anzumerken, als er uns erzählte, dass die einzelnen Arbeitsabläufe heutzutage von handwerklich versierten Profis übernommen werden. Des Weiteren führte er aus, dass inzwischen höchste Qualität und Perfektion bei der Ausführung gefordert seien, um den Anschluss an die Spitze nicht zu verpassen. Aber dafür brauche man auch zunehmend mehr Budget, um sich unter den zwölf Sambaschulen der Spitzengruppe halten zu können, und er bestätigte, dass die meisten der Konkurrenz ohne “Sponsoren von aussen“ gar nicht mehr paradieren könnte.
Für die Mangueira genügen meistens die Zuschüsse der Regierung und der Dachorganisation, “Liga Independente das Escolas de Samba (Liesa)“. Zudem fliesst von den verschiedenen Shows im Lauf eines Jahres ebenfalls eine beachtliche Summe in die Vereinskasse. Besonders stolz sind die Mangueiristas auf ihr persönliches Engagement, sie sind immer noch mit viel Herzblut dabei – bei ihren Vorarbeiten und bei ihrer Parade, die jedes Jahr eine ohrenbetäubende Euphorie unter dem Publikum der Tribünen im Sambódromo entfesselt – ob sie nun gewinnen oder nicht, dabei gewesen zu sein, darauf kommt es an!
Als wir uns verabschieden, lädt Senhor Aramis uns überraschend ein, an einem der kommenden Karnevals-Events aktiv teilzunehmen – in einer “Ala“ (Themengruppe) ihrer Parade mit zu marschieren – darüber haben wir uns riesig gefreut und unsere Teilnahme versprochen, denn trotz unserer zahlreichen Brasilienbesuche hat es noch nie zum Karneval in Rio gereicht. Wir schliessen uns dem Werbespruch der Cariocas (Bürger von Rio) an: “Jeder sollte wenigstens einmal im Leben den Karneval in Rio erlebt haben – als Zuschauer oder aktiv innerhalb einer Parade“!
Wir haben dann noch einen Versuch gemacht, bei einer anderen Sambaschule kurz reinzuschauen – keine Chance. Nur in der Halle der “LIESA (Unabhängige Vereinigung der Sambaschulen von Rio de Janeiro)“ erlaubte man uns, die Wagen und Requisiten des vergangenen Jahres zu betrachten und auch zu fotografieren: Sie lagen verstaubt und angerostet, als Karnevalsschrott in einer Ecke, und man erklärte uns, dass man in der kommenden Woche alles zerlegen würde, und die noch verwertbaren Teile vom Abfall zu trennen beabsichtige – immerhin, so stellten wir fest, ist Recycling beim Karneval von Rio gängige Praxis.
Angeregt durch die Veranstaltung der Olympischen Spiele in der “Cidade Maravilhosa“ Rio de Janeiro entsteht innerhalb der dortigen alten Hafenanlagen nun der “Porto Maravilha“ – der wunderbare Hafen: “Das neue Tor zur weiten Welt“ – so hat es die Präfektur angekündigt. “Porto Maravilha dient nicht nur einer Aufwertung des maroden Hafenviertels. Es ist auch ein kühnes Projekt der Stadterneuerung von zentraler Bedeutung, das Rio de Janeiro auf einem höheren internationalen Niveau positioniert.“
Nun, die spanische Stadt Barcelona war mit dem Umbau ihres Hafenviertels in einen “Puerto Olimpico“ ziemlich erfolgreich. Und die Argentinier haben sich in Buenos Aires mit ihrem “Puerto Madero“ ebenfalls eine weitere Attraktion gesichert. Jetzt ist also auch Rio de Janeiro dabei, den Hafen, die angrenzenden Industriegebiete und die benachbarten älteren Wohnviertel zu sanieren und aus einem lange vernachlässigten Stadtteil ein neues Prestigeobjekt zu machen. Dazu reisst man Hochstrassen ab und leitet Verkehrsströme durch Tunnel um. Siebzehn Kilometer neuer Radwege, Strandpromenaden und Parks sind geplant, Luxus-Wohnanlagen und natürlich der Sporthafen der Olympischen Sommerspiele 2016. Er ist der eigentliche Anlass des gesamten Umbaus.
Rund 40.000 Bewohner sind von der Sanierung betroffen. Viele von ihnen wurden bereits vertrieben oder in Gegenden im fernen Westen der Stadt, weit weg von ihren gewohnten Arbeitsplätzen, angesiedelt. Fachleute bezweifeln, dass das riesige Areal in seiner neuen Luxuskonzeption überhaupt einem Bedarf entsprechen wird. Sie meinen sogar, dass die Stadt Rio, die schon an ihren Versprechungen für die kommende Olympiaorganisation zu scheitern droht, gar nicht mehr in der Lage sein dürfte, die hierfür nötige Infrastruktur zu finanzieren – aber das sind hoffentlich nur die üblichen Schwarzmalereien einiger Medien.
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